10’000 Physiotherapeutinnen und Physiotherapeuten auf dem Bundeshausplatz in Bern: Kämpfen für etwas, was schon längst selbstverständlich sein müsste…

Bern, Bundeshausplatz, 17. November 2023. Rund 10’000 Physiotherapeutinnen und Physiotherapeuten aus allen Landesteilen haben sich eingefunden, stellvertretend für über 280’000 Unterzeichnerinnen und Unterzeichner einer Petition, mit der die Zurückweisung einer vom Bundesrat vorgeschlagenen Tarifänderung in der Physiotherapie gefordert wird. Die Umsetzung dieser Tarifänderung hätte zur Folge, dass neu eine kurze Sitzung mit einer Dauer von 20 Minuten eingeführt würde, wobei maximal fünf Minuten für die Wechselzeit, die Konsultation und das Führen des Patientendossiers aufgewendet werden dürften und somit neu nur noch 15 Minuten für die Behandlung zur Verfügung stehen würden, eine Zeit, in der gemäss dem Verband Physioswiss “keine zweckmässige Behandlung” möglich wäre. Zudem würden auch die fünf Minuten zwischendurch bei weitem nicht für sämtliche anfallende Zusatzarbeiten, Terminabsprachen, Telefonate, usw. ausreichen, sodass erhebliche Zusatzarbeit ohne Bezahlung geleistet werden müsste. Dies alles innerhalb eines Tarifsystems, das seit 30 Jahren nicht mehr angepasst worden ist, sodass sich bereits heute, gemäss Physioswiss, viele Therapeutinnen und Therapeuten “zunehmend an der Existenzgrenze bewegen”. Kein Wunder, geben 54 Prozent von 1200 befragten Physiotherapeutinnen und Physiotherapeuten an, dass sie sich bei einer Tarifänderung überlegen, ganz aus dem Beruf auszusteigen. 42 Prozent der Praxisbesitzer würden sich überlegen, die Praxis zu schliessen. 90 Prozent der Befragten sagen, dass sie bei einem Tarifeingriff finanzielle Einbussen erleiden würden, und 73 Prozent geben an, dass gewisse Patientengruppen nicht mehr behandelt werden könnten, weil die Kosten für den Aufwand nicht mehr gedeckt wären.

Doch eigentlich könnten an diesem 17. November 2023 auch 10’000 Verkäuferinnen auf dem Bundeshausplatz stehen. Oder 10’000 Coiffeusen. Oder 10’000 Kosmetikerinnen. Oder 10’000 Bauarbeiter. Oder 10’000 Angestellte von Callcentern. Oder 10’000 Landarbeiter. Oder 10’000 Krankenpflegerinnen. Oder 10’000 Fabrikarbeiterinnen. Oder 10’000 Köche. Oder 10’000 Zimmermädchen. Oder 10’000 Serviceangestellte. Oder 10’000 Prostituierte. Oder 10’000 alleinerziehende Mütter. Oder 10’000 Bäcker. Oder 10’000 LKW-Fahrer. Oder 10’000 Paketboten. Sie alle würden fast mit den gleichen Worten die fast genau gleichen Geschichten erzählen. Die Geschichten von harter, oft zermürbender, stressiger, krankmachender Arbeit für wenig Lohn und mit geringer gesellschaftlicher Wertschätzung. Während oben, am anderen Ende der gesellschaftlichen Machtpyramide, immer mehr Geld in die Hände von Reichen und Superreichen fliesst, die sich immer noch verrücktere und überflüssigere Dinge einfallen lassen müssen, um ihr viel zu vieles Geld irgendwie wieder loszuwerden.

Eigentlich geht es an diesem 17. November 2023 nicht nur um ein neues Tarifsystem in der Physiotherapie. Eigentlich geht es, obwohl niemand dieses Wort in den Mund nimmt, um den Kapitalismus. Um ein Wirtschaftssystem, das darauf abzielt, aus den arbeitenden Menschen in immer kürzerer Zeit eine immer höhere Leistung herauszupressen. Ein Wirtschaftssystem, das auf dem gegenseitigen Konkurrenzkampf um Lohn, Anerkennung und sozialen Aufstieg beruht und das stets aufs Neue und in wachsendem Ausmass diejenigen belohnt, welche auf den unsichtbaren Karriereleitern immer weiter in die Höhe klettern, während alle jene, die ganz unten, an der Basis, die Aufrechterhaltung der Grundversorgung sicherstellen, für alle ihre Opfer zu allem Überdruss noch mit geringem Lohn und geringer Wertschätzung bestraft werden. Ein Wirtschaftssystem, das unaufhörlich die Arbeit der einen in den Reichtum und den Luxus der anderen verwandelt. Ein Wirtschaftssystem, das nicht nur die Menschen, sondern auch die Natur unaufhörlich ausbeutet, um die verrückte und zerstörerische Idee eines unbegrenzten Wachstums aller Vernunft zum Trotz aufrechtzuerhalten.

Aber es geht ja noch weiter. Wer und wo, zu welchen Arbeitsbedingungen und mit was für einem Lohn, hat die Tausenden von gelb-blauen Schals genäht, die der heutigen Kundgebung einen so farbenfrohen Ausdruck verleihen? Wer und wo, zu welchen Arbeitsbedingungen und mit was für einem Lohn, hat die Tausenden von Handys, mit denen sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Kundgebung gegenseitig fotografieren, Informationen zuspielen und Termine abmachen, zusammengebaut und wer und wo, zu welchen Arbeitsbedingungen und mit was für einem Lohn, hat all die seltenen Erden aus dem Boden geschürft, ohne welche alle diese Handys keine Sekunde lang funktionieren würden? Und wer und wo, zu welchen Arbeitsbedingungen und mit was für einem Lohn, hat die Milliarden von Kaffeebohnen gepflückt, ohne den es nicht den Kaffee gäbe, den wir dann nach der Kundgebung bei Starbucks, Tschibo oder am Bahnhof genüsslich schlürfen werden? Fast immer steht nur ein einzelnes Phänomen im Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit, aber eigentlich hängt alles mit allem auf unsichtbare Weise zusammen: Ausbeutung über alle Grenzen hinweg in einer Welt, in der die einen auf Kosten der anderen reich werden und “erfolgreich” sind und die Kluft zwischen Reich und Arm immer schärfer an die Oberfläche tritt. Gegen einzelne Missstände anzukämpfen, ist gut und wichtig. Aber es genügt nicht und es würde dann nur bei der reinen Symptombekämpfung bleiben. Es geht um das Ganze. Es geht darum, an die Stelle gegenseitiger Ausbeutung die gegenseitige Solidarität zu setzen, Gemeinschaftsdenken anstelle von egoistischem Machtstreben, Teilen statt Raffgier, soziale Gerechtigkeit. “Was alle angeht”, sagte Friedrich Dürrenmatt, “können nur alle lösen.”

“Eigentlich bin ich keine Rednerin”, sagt eine junge Physiotherapeutin, die gegen den Schluss der Kundgebung das Wort ergreift, “aber mein Herz ist so traurig, dass ich einfach hier stehen und zu auch sprechen muss.” Es wird an diesem Tag die berührendste, kürzeste und zugleich stärkste Rede gewesen sein. Vielleicht sind ja die, welche bisher am längsten geschwiegen haben, am längsten geduldig gewesen sind, es sich am wenigsten zugetraut haben, öffentlich das Wort zu ergreifen, genau die, welche uns und der ganzen Welt am meisten zu sagen haben…