Aussagen von Markus Somm zum Nahostkonflikt, die nicht unwidersprochen bleiben dürfen

Folgendes Schreiben betrifft die Diskussionssendung “Israel und die Hamas”, ausgestrahlt auf SRF1 am 12. November 2023 im Rahmen von “Sonntagszeitung Standpunkte”, und ging am 14. November 2023 an die Redaktion der “Sonntagszeitung”, Fernsehen SRF1, die beteiligten DiskussionsteilnehmerInnen inklusive Moderator Reto Brennwald, an Geri Müller, Präsident der Gesellschaft Schweiz-Palästina, Humanrightswatch, die GSoA, die Eidgenössische Kommission gegen Rassismus und die Interreligiöse Arbeitsgemeinschaft IRAS COTIS.

Eigentlich lässt die Zusammensetzung der Runde mit dem Nahostexperten Erich Gysling, dem Swisspeace-Direktor Laurent Goetschel, der Journalistin Joëlle Weil und Markus Somm, Kolumnist der „Sonntagszeitung“ und Chefredaktor des „Nebelspalters“, eine ausgeglichene Diskussion erwarten. Doch dann endet die Diskussion in einem – man kann es nicht anders sagen – Fiasko. Dies vor allem deshalb, weil Markus Somm immer wieder das Wort an sich reisst, seinen Gesprächspartnern bei jeder Gelegenheit ins Wort fällt und jeden Versuch der Gegenseite, komplexere Zusammenhänge ausführlicher darzulegen, schon zum Vornherein abwürgt. Was er dabei an Behauptungen, Geschichtsverfälschungen, fehlendem historischem Wissen und einseitigen Schuldzuweisungen an den Tag legt, lässt sich kaum beschreiben. Eifrig unterstützt wird er dabei durch den Gesprächsleiter Reto Brennwald, der sich, statt die Diskussion möglichst neutral zu leiten, im Verlaufe der Diskussion immer mehr auf die Seite von Markus Somm und Joëlle Weil schlägt, Somm immer wieder, wenn er nur genug lange insistiert, das Wort erteilt und auf der anderen Seite Gysling und Goetschel oft mitten in einer längst noch nicht abgeschlossenen Argumentation immer wieder unterbricht.

IM FOLGENDEN DIE WESENTLICHEN AUSSAGEN VON MARKUS SOMM UND MEIN KOMMENTAR DAZU.

„Israel ist bei der Reaktion auf den Angriff der Hamas relativ überlegt und sehr reflektiert vorgegangen, zwar mit einer gewissen Härte, aber nicht mit aller Härte, nicht einfach ein blindes Losschlagen, wie gewisse Leute am Anfang befürchtet hatten. Es ist völlig richtig, dass Israel im militärischen Sinne die Hamas vernichten will, damit sie nachher nicht mehr wirkungsfähig sind. Für mich persönlich musste Israel so schnell wie möglich und mit allen Mitteln reagieren, ich habe da überhaupt keine Bedenken.“ – Ein einigermassen seriös und differenziert denkender Historiker müsste eigentlich schon längst wissen, dass rein militärisch Terror nicht zu besiegen ist, wie auch Moshe Zuckermann, emeritierter jüdischer Professor für Geschichte an der Universität Tel Aviv, sagt: „Israel hat den Gazastreifen nach Raketenangriffen immer wieder bombardiert, mit Tausenden ziviler Opfer. So befördert man den Terror.“ Höchst problematisch auch Somms Aussage, Israel müsse „mit allen Mitteln“ reagieren, womit er indirekt die Bombardierung der Zivilbevölkerung, das Abschneiden der Zufuhr von Trinkwasser, Nahrung, Medikamenten, Strom und Gas rechtfertigt und in letzter Konsequenz selbst den Einsatz von Atomwaffen befürworten müsste. Hätte er das nicht gemeint, dann hätte er es auch nicht so formulieren dürfen.

„Man kann wohl sagen, dass Israel das Land ist, das sich am meisten Gedanken macht um das humanitäre Völkerrecht, das Land, das am meisten darauf achtet, dass Zivilisten nicht Opfer werden.“ – Angesichts der Bilder von dem Erdboden gleichgemachten Wohnquartieren, in tiefster Verzweiflung und Todesängsten herumirrenden Menschen, bombardierten Moscheen, Schulen, Krankenhäusern, Flüchtlingslagern, traumatisierten Kindern und der Tatsache, dass bereits über 11‘000 Zivilpersonen getötet wurden, davon zwei Drittel Frauen und Kinder, und einer noch ungleich viel höheren Zahl Schwerverletzter, die ohne medizinische Versorgung in halb zerstörten und von Stromversorgung abgeschnittenen Spitälern herumliegen, erübrigt sich hierzu jeglicher weiterer Kommentar. Somm ist mit seiner Aussage einfach nur unfassbar zynisch.

„Natürlich ist es für Israel nicht einfach, diesen Krieg in Gaza zu führen, wenn man weiss, dass dort 200 Leute gefangen sind und jederzeit gefoltert, massakriert und abgeschlachtet werden können, das ist für die israelische Regierung eine ungeheure Belastung.“ – Dass dort nebst diesen 200 israelischen Geiseln auch noch über zwei Millionen Palästinenserinnen und Palästinenser leben, die ebenfalls an Leib und Leben bedroht sind, scheint sowohl für die israelische Regierung wie auch für Markus Somm keine besondere „Belastung“ zu bilden. Vielleicht denkt ja Somm ähnlich wie der israelische Verteidigungsminister Yoav Galant, der am 9. Oktober sagte, Israel führe einen Kampf gegen „Tiere“, und diese seien deshalb auch dementsprechend zu behandeln, indem man ihnen keinen Strom, kein Gas, kein Essen und kein Wasser liefern solle.

„Wie kann man einen Krieg gut beenden? Ich als Historiker sage, dass die meisten Kriege, die gut beendet wurden, mit einem klaren Verlierer und einem klaren Sieger zu Ende gegangen sind. Die schlimmsten Kriege waren immer jene, bei denen man am Schluss nicht genau wusste, wer gewonnen hatte.“ – Ob Somm dabei etwa an die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki gedacht hat? Klarer als damals war wohl nur selten, wer gewonnen und wer verloren hatte. Und ob Somm wirklich der ganzen Tragweite seiner Aussage bewusst ist? Sie würde ja bedeuten, dass jegliche Friedensverhandlungen zwischen verfeindeten Völkern oder Staaten schädlich wären, da sie ja bloss verhindern würden, den Krieg so lange fortzuführen und so viele Menschen zu opfern, bis endgültig und ohne alle Zweifel erwiesen ist, wer der Sieger ist und wer der Verlierer. Wobei an dieser Stelle anzumerken ist, dass Kriege eigentlich nie Sieger kennen, denn in jedem Krieg sind letztlich alle Beteiligten stets nur Verlierer, in Form aller menschlichen Opfer und aller angerichteten Zerstörungen. Davon zu sprechen, dass Kriege „gut“ beendet werden können, ist an sich schon völlig absurd.

„Die Palästinenser müssen endlich damit konfrontiert werden, dass sie seit 75 Jahren jeden Krieg verloren haben und es nun endgültig genug ist.“ – Wieder eine so ungeheure Aussage. Den Gegner also so lange zu Boden treten, bis er endgültig kapituliert und regungslos liegen bleibt und nie mehr genug Kraft haben wird, um wieder aufzustehen. Kann sich Somm wirklich nicht vorstellen, was für eine unendliche Demütigung dies bedeuten muss, was für einen unendlichen Nährboden für Verzweiflung, Hass, Gewalt, bis zuletzt die so zu Boden Getretenen nicht einmal mehr davor zurückschrecken werden, sich selber in die Luft zu sprengen, bloss um möglichst viele andere mit in den Tod zu reissen. Was hat Somm während seines Geschichtsstudiums eigentlich gelernt? Und hat er noch nie etwas gehört von Mahatma Gandhi, der einmal sagte: „Auge um Auge, bis alle blind sind“?

„Wenn wir es mit dem Ukrainekrieg vergleichen. Dort sind auch nicht alle Russen mit Putin einverstanden. Und doch sind alle Russen für diesen Krieg verantwortlich. Das Gleiche war mit den Deutschen. Ab einem gewissen Punkt bist du verantwortlich für deine Regierung, auch wenn es eine Diktatur ist. Und dann musst du eben auch alle Konsequenzen tragen.“ – Dann waren also, wenn Somm Recht hätte, auch die Tausenden in den Gefängnissen lateinamerikanischer Militärdiktaturen unter Somoza, Battista, Pinochet u.a. Inhaftierten selber dafür verantwortlich und selber schuld gewesen, entweder zu Tode gefoltert oder lebendigen Leibes aus Flugzeugen ins Meer abgeworfen worden zu sein. Es wird immer unfassbarer, je länger man Somm zuhört…

„Die Palästinenser sind selber schuld, dass dieser Konflikt nie gelöst wurde. Sie sind zu 100 Prozent selber schuld. Solange jemand sagt, die Palästinenserinnen und Palästinenser seien auch zu einem gewissen Teil Opfer dieses Konflikts, so lange werden wir diesen Konflikt haben.“ – Hat Somm noch nie etwas gehört von der gewaltsamen Vertreibung Abertausender Palästinenserinnen und Palästinenser aus dem Westjordanland durch jüdische Siedler, die dort völkerrechtswidrig Wohngebiete besetzt halten? Hat er noch nie etwas von all den Palästinenserinnen und Palästinensern gehört, die aus politischen Gründen in israelischen Militärgefängnissen sitzen? Bildet sich Somm tatsächlich ein, einen wertvollen Diskussionsbeitrag liefern zu können, indem er einfach das Gegenteil dessen behauptet, was er der Gegenseite stets vorhält, nämlich, dass zu 100 Prozent nur Israel allein schuld sei? Müsste er, als seriöser Historiker, nicht vielmehr auf die Vielschichtigkeit dieses Konflikts hinweisen und darauf, dass man nie zu hundert Prozent die „Schuld“ ausschliesslich der einen oder anderen Seite in die Schuhe schieben kann?

„Ich habe nichts dagegen, dass der Westen gegenüber sich selber selbstkritisch ist, aber wir haben jede Proportion verloren. Wir sind jetzt so weit, dass gewisse Leute, die sehr aktivistisch sind – die können rechts sein, siehe Russland, oder die können links sein, siehe Hamas – aus westlichem Selbsthass alles, was der Westen macht, für schlimm halten, aber alles, was so grausliche Länder wie China, Iran oder Russland machen, verteidigen.“ – Somm scheint sich im Verlaufe der Diskussion förmlich immer stärker in seine Widersprüche und Absurditäten hineinzusteigern. Russen als „aktivistische Leute“? Die Hamas eine „linke“ Bewegung? Westlicher „Selbsthass“? „Grausliche“ Länder? Weiss Somm eigentlich noch, wovon er spricht? Oder geht es ihm bloss darum, anstelle sorgfältiger Analysen eine möglichst grosse Anzahl wirkungsvoller Schlagwörter aufeinander aufzuschichten?

„Niemand wäre begeistert, wenn 3000 Neonazis über unsere Strassen laufen und wieder einen nationalsozialistischen Staat fordern würden und ein schönes Auschwitz. Denn die Parole FROM THE RIVER TO THE SEA, PALESTINE WILL BE FREE ist nichts anderes als genozidal, das ist völlig klar. Und wer behauptet, nicht alle diese Demonstranten seien antisemitisch, who cares, es ist einfach grauslich, was die machen, das muss man einfach sagen.“ – Mehr als „grauslich“ erscheint mir, wenn Somm Hunderttausende weltweit friedlich für die Rechte des palästinensischen Volkes Demonstrierende mit Nazis vergleicht, ihnen pauschal den Vorwurf des Antisemitismus an den Kopf wirft und eine Parole, die man auf unterschiedliche Weise interpretieren kann, als „genozidal“ bezeichnet. An Somm scheint gänzlich vorbeigegangen zu sein, dass auch zahlreiche Jüdinnen und Juden dies ganz anders sehen. So etwa die frühere Bundesrätin Ruth Dreifuss, selber Jüdin, die in einem Interview mit dem „Tagesanzeiger“ Folgendes sagte: “FROM THE RIVER TO THE SEA, PALESTINE WILL BE FREE verstehe ich so: Die Region soll vom Jordan bis zum Mittelmeer frei sein von Krieg und Diskriminierung. Das bedeutet eine friedliche Lösung des Nahostkonflikts.“

„Das Perverse an der arabischen Haltung ist doch, dass die arabischen Länder seit 75 Jahren nicht bereit sind, Leute, die Araber sind und erst im Laufe der letzten 75 Jahre zu Palästinensern wurden, aufzunehmen. Sie hätten mehr als genug Platz.“ – Und noch ein richtiger Paukenschlag zum Schluss: Diese sogenannten „Palästinenser“ gibt es also laut Somm gar nicht und sie haben dort, wo sie einen eigenen Staat anstreben, letztlich gar nichts zu suchen, sondern könnten ebenso gut in irgendeinem anderen arabischen Land leben. Als wäre Palästina leer gewesen, bevor die Jüdinnen und Juden kamen. Und als gäbe es nicht jetzt schon Millionen palästinensischer Flüchtlinge, die innerhalb oder ausserhalb Israels in Flüchtlingslagern oder in verschiedenen arabischen Ländern leben: 1,5 Millionen in insgesamt 58 Flüchtlingslagern in Jordanien, Syrien, im Libanon, im Gazastreifen und im Westjordanland, weitere 3,5 Millionen in verschiedenen arabischen Gastländern, oft in der Nähe der Flüchtlingslager.

FAZIT

Ich frage mich, ob Markus Somm mit einer so simplifizierenden, widersprüchlichen, völlig empathielosen und fast nur auf zusammenhangslosen Feindbildern und Schuldzuweisungen geprägten politischen Haltung für ein so schwieriges, heikles und vielschichtiges Thema wie den Nahostkonflikt tatsächlich ein geeigneter Diskussionsteilnehmer sein kann. Der Erkenntnisgewinn für das Publikum aufgrund seiner Voten ist gleich Null. Umso mehr aber werden auf diese Weise schon bestehende Feindbilder und Schuldzuweisungen masslos geschürt. Als einer, der sich als „Historiker“ bezeichnet und damit schon einen Vertrauensvorschuss für sich in Anspruch nimmt, trägt Somm durch seine grosse Medienpräsenz, nicht nur am Fernsehen, sondern auch in der Presse, eine wesentliche Mitverantwortung für die öffentliche Meinungsbildung. Eine konstruktive, zukunftsgerichtete Konfliktlösung wird durch eine so einseitige und willkürliche Interpretation geschichtlicher Zusammenhänge wohl kaum gefördert.

Ich bin zwar nur ein ganz gewöhnlicher TV- und Pressekonsument, doch ich hoffe sehr, dass sowohl die „Sonntagszeitung“ wie auch SRF in dieser Angelegenheit noch einmal gründlich über die Bücher gehen und daraus die notwendigen Schlüsse ziehen.

Erich Gysling, Laurent Goetschel und Geri Müller haben auf mein Schreiben spontan reagiert und mir für meine Stellungnahme gedankt. Von allen übrigen Adressaten habe ich bis heute nichts gehört, auch nicht von der Sonntagszeitung, welche für diese Sendung verantwortlich war, und ebenfalls nicht von SRF, welches die entsprechende Sendezeit zur Verfügung stellte.