Der Fall Brian Keller: Deine Gewalt ist nichts anderes als ein stummer Schrei nach Liebe…

Im “Club” des Schweizer Fernsehens SRF1 vom 22. November 2022 ging es um den mittlerweile 27jährigen Brian Keller, den wohl “berühmtesten Häftling der Schweiz”, der rund ein Drittel seines bisherigen Lebens in Gefängnissen und Haftanstalten verbracht hat. Es diskutierten eine Strafrechtsprofessorin, ein Psychiater, ein ehemaliger Oberstaatsanwalt, eine Journalistin, ein Lehrbeauftragter für Strafvollzug und der Anwalt von Brian.

Gemäss eines Berichts der Menschenrechtsorganisation “Humanrights” hatte alles begonnen, als Brian zehn Jahre alt war: Fälschlicherweise der Brandstiftung verdächtigt, wurde Brian in Handschellen von zuhause abgeführt und in Untersuchungshaft genommen, seine Eltern durften ihn nicht begleiten. Brian verbrachte einen Tag im Gefängnis und anschliessend fast zwei Monate in geschlossenen Einrichtungen. Infolge einer leichten Auseinandersetzung mit seinem Vater wurde Brian im Alter von zwölf Jahren zunächst in ein Polizeigefängnis, dann ins Gefängnis Horgen und schliesslich ins Untersuchungsgefängnis Basel eingewiesen. Die monatelange Inhaftierung wurde damit begründet, sie erfolge “zu seinem eigenen Schutz”.

Zwischen Juni 2008 und November 2009 verbrachte Brian acht Monate lang in Einzelhaft, 23 Stunden am Tag in einer Zelle. Seine Eltern durften ihn während dieser Zeit nur einmal pro Woche hinter einer Trennscheibe besuchen. Am 15. Juni 2011 beging der 15Jährige ein schweres Gewaltdelikt: Nach einer verbalen Auseinandersetzung mit einem 18Jährigen stach er diesem zweimal mit einem Messer in den Rücken. Es folgten neun Monate in Untersuchungshaft, später in einer “vorsorglichen Unterbringung” im Gefängnis Limmattal. Schliesslich wurde er zu einer neunmonatigen Freiheitsstrafe verurteilt.

Am 5. Juli 2011 versuchte Brian sich zu erhängen, worauf er für einen Tag in die Psychiatrische Universitätsklinik eingeliefert wurde. Nach einem zweiten Suizidversuch kam er erneut in die Psychiatrische Universitätsklinik, wurde während 13 Tagen ununterbrochen ans Bett fixiert und mit starken Medikamenten vollgepumpt. Im Folgenden wurde für Brian in Form einer Individualtherapie und gezielter sportlicher Aktivitäten ein Sondersetting eingerichtet, Brian hielt sich an alle vorgegebenen Regeln und war 13 Monate lang deliktfrei. Als jedoch vom “Blick” die Kosten des Settings – 29’000 Franken pro Monat – publik gemacht wurden, löste das in der Öffentlichkeit einen derart grossen Aufschrei der Empörung aus, dass das Sondersetting abrupt abgebrochen wurde. Mit der Begründung, ihn vor der öffentlichen Empörung und vor den Medien zu schützen, kam Brian erneut ins Gefängnis.

Am 18. Februar 2014 entschied das Bundesgericht, dass die erneute Inhaftierung von Brian, der sich nichts hätte zuschulden kommen lassen, widerrechtlich gewesen sei. Brian kam zurück ins Sondersetting. Im März 2016 traf Brian im Tram einen Kollegen, den er von einem Kickbox-Turnier kannte. Es kam zu einer verbalen Auseinandersetzung, worauf Brian seinem Kollegen einen Faustschlag verpasste. Brian brach dem Kollegen den Unterkiefer und zog sich selbst einen Fingerbruch zu. Das Bezirksgericht Zürich verurteilte Brian wegen versuchter schwerer Körperverletzung zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von 18 Monaten.

Anfangs 2017 wurde Brian im Bezirksgefängnis Pfäffikon in eine Sicherheitsabteilung verlegt. Er schlief über zwei Wochen lang auf dem nackten Boden, nur mit einem Poncho bekleidet. In der Zelle gab es weder Bett, Stuhl noch Matratze, er durfte nicht duschen und sich nicht die Zähne putzen. Drei Wochen lang trug er ununterbrochen Fussfesseln und der Hofgang wurde ihm verweigert. Anschliessend landete Brian in der Justizvollzugsanstalt Pöschwies, wo es am 28. Juni 2017 zu einem folgenschweren Zwischenfall kam. Zwei Mitarbeiter teilten Brian mit, dass er vom offenen Gruppenvollzug ins Einzelhaftregime der Sicherheitsabteilung versetzt würde – Brian verlor die Beherrschung und es kam zu einem Gerangel mit den beiden Mitarbeitern, welche dabei Prellungen erlitten. Die Aufseher machten eine Anzeige und Brian landete für drei Monate in Untersuchungshaft.

Am 10. April 2018 wurde Brian ins Regionalgefängnis Burgdorf versetzt, wo er grössere Freiheiten genoss und sogar ein Weiterbildungsprogramm absolvieren konnte. Dennoch wurde Brian – weil das Programm in Burgdorf infolge fehlender Ressourcen abgebrochen wurde – am 18. August 2018 wieder zurück ins JVA Pöschwies versetzt, wo er sich durchgehend isoliert in einer zwölf Quadratmeter grossen Zelle aufzuhalten hatte, die Sitztoilette befand sich offen in der Zelle, das Fenster war mit einer Folie abgedeckt, sodass er nicht nach draussen blicken konnte. Über zwei Jahre wurde er nur mit Hand- und Fussfesseln in den Hof geführt.

Im Januar 2019 demolierte Brian eine Sicherheitsscheibe und warf ein Stück davon gegen die Zellentür, die ein paar Zentimeter geöffnet war und hinter der Aufseher standen. Dabei zog sich ein Aufseher blutige Kratzer zu. Am 18. Februar 2019 ersuchte Brians Grossmutter die Behörden, dass sie ihren Enkel zu ihrem 93. Geburtstag ausnahmsweise ohne Trennscheibe besuchen dürfe – das Gesuch wurde abgelehnt. Im Mai 2021 verurteilte das Obergericht Brian wegen des Vorfalls vom Juni 2017 in der JVA Pöschwies zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren und vier Monaten. Im Januar 2022 wurde Brians Langzeithaft von der Zürcher Justizdirektorin aufgehoben. Brian wurde in ein Zürcher Untersuchungsgefängnis verlegt und dort in ein normales Haftregime eingeliefert. Am 31. Oktober 2022 ordnete das Zürcher Obergericht eine Freilassung von Brian an. Dieser Entscheid wurde am 8. November vom Zürcher Zwangsmassnahmengericht widerrufen.

Zurück zur Sendung “Club” vom 22. November. Dort wurde nur ansatzweise thematisiert, inwieweit zwischen den äusseren Umständen, unter denen Brian Keller den grössten Teil seines bisherigen Lebens verbracht hat, und den von ihm verübten Straftaten ein Zusammenhang bestehen könnte. Ist die Gewalt, die Brian in Form von ungerechtfertigtem Freiheitsentzug, erniedrigenden Haftbedingungen, unverhältnismässigen Gerichtsentscheiden und Liebesentzug in Form von Trennung von seinen Eltern erlitten hat, nicht mindestens so gross wie die Formen von Gewalt, die er selber verübt hat? Ist es nicht längst eine Binsenweisheit, dass Gewalt stets nur Gegengewalt erzeugt? Dass hier sehr wohl ein direkter Zusammenhang besteht, zeigt sich auch darin, dass Brian immer dann, wenn er sich in offeneren Formen des Strafvollzugs befand, viel besser “funktionierte” und seine eigene Gewaltbereitschaft markant zurückging. Die Annahme, man müsse nur, um einen Menschen auf den “richtigen” Weg zu bringen, seinen “Willen brechen”, ist einer der grössten Irrtümer und geistert nicht nur im Strafvollzug, sondern selbst in Erziehungsbüchern für ganz “normale” Kinder auch heute noch herum. Tatsache ist, dass man den Willen eines Menschen nicht brechen kann, es sei denn, man töte ihn. Der Wille, den man zu brechen versucht, sucht sich dann einfach andere Bahnen, oft viel gefährlichere und zerstörerischere. “Wenn man einem Menschen verbietet, das Leben zu leben, das er für richtig hält”, sagte der südafrikanische Freiheitskämpfer und späterer Staatspräsiden Nelson Mandela, “dann hat er keine andere Wahl, als ein Rebell zu werden.”

Tragisch, wenn man sich an den Anfang des Dramas zurückerinnert: Ein zehnjähriges Kind wird fälschlicherweise der Brandstiftung verdächtigt, mit Handschellen ohne seine Eltern von zuhause abgeführt. Damit war eine Spirale von Gewalt und Gegengewalt in Gang gesetzt, die bis heute noch kein Ende gefunden hat. Kann ein zehnjähriges Kind so etwas verkraften? Schlägt das nicht Wunden, die nie mehr verheilen werden? Ist diese Verletzlichkeit eines Zehnjährigen nicht gerade ein Zeichen für ein besonders hohes Mass an Empfindsamkeit und Liebesbedürfnis? Ist die “Gewalt”, die Brian in den folgenden Jahren an den Tag legte, vielleicht nicht eine besonders heftige Reaktion auf die verschüttete Sehnsucht nach Liebe? “Deine Gewalt”, singen die “Ärzte” in einem ihrer bekanntesten Lieder, “ist nur ein stummer Schrei nach Liebe, deine Springerstiefel sehnen sich nach Zärtlichkeit.”

“Der Mensch ist gut und will das Gute”, sagte Johann Heinrich Pestalozzi, “und wenn er böse ist, so hat man ihm den Weg verrammelt, auf dem er gut sein wollte.” Brians Geschichte hätte einen ganz anderen Verlauf nehmen können, wenn diese Hindernisse rechtzeitig beiseitegeschafft worden wären und man ihm den Weg zu seiner Selbstverwirklichung nicht so gewalttätig “verrammelt” hätte. Längst ist allgemein bekannt, dass in Ländern, wo die Menschen sehr arm sind, auch die Kriminalitätsrate viel höher ist. Das ist so einleuchtend, dass es höchst verwunderlich ist, dass wir nicht schon längst den logisch daraus resultierenden Schluss gezogen haben, dass es eigentlich nur die äusseren Umstände sind, welche darüber entscheiden, wie “gut” oder wie “schlecht” Menschen in einer Gesellschaft aufwachsen können. Ich wage zu behaupten, dass in einer Gesellschaft, in der die Liebe, die Gerechtigkeit und die gegenseitige Fürsorge an alleroberster Stelle stehen, solche Dinge wie Gewalt, Strafen und Gefängnisse überflüssig geworden wären. Vielleicht liegt das “Gute” an der Geschichte von Brian Keller ja darin, uns hierfür die Augen geöffnet zu haben. “Brian ist kein Mörder”, sagt der Zürcher Oberrichter Christian Prinz, “er ist kein Vergewaltiger, er ist kein Räuber und kein Brandstifter, seine Gewalt ist eine Frage seines Kampfes mit der Justiz.”