Was Brian Keller, der berühmteste Häftling der Schweiz, und der Nahostkonflikt miteinander zu tun haben

Brian Keller alias “Carlos”, laut NZZ vom 10. September 2022 der “berühmteste Häftling der Schweiz”, beschäftigt die Schweizer Öffentlichkeit seit Jahren. Für die einen ist er ein gewalttätiger Querulant, der Justiz und Öffentlichkeit in Atem hält. Für die anderen ist er Opfer der Medien und eines Justizversagens.

Gemäss einem Bericht der Menschenrechtsorganisation “Humanrights” hatte alles begonnen, als Brian zehn Jahre alt war: Fälschlicherweise der Brandstiftung verdächtigt, wurde Brian in Handschellen von zuhause abgeführt und in Untersuchungshaft genommen, seine Eltern durften ihn nicht begleiten. Brian verbrachte einen Tag im Gefängnis und anschliessend fast zwei Monate in geschlossenen Einrichtungen. Infolge einer Auseinandersetzung mit seinem Vater wurde Brian im Alter von zwölf Jahren zunächst in ein Polizeigefängnis, dann ins Gefängnis Horgen und schliesslich ins Untersuchungsgefängnis Basel eingewiesen. Die monatelange Inhaftierung wurde damit begründet, sie erfolge “zu seinem eigenen Schutz”. Zwischen Juni 2008 und November 2009 verbrachte Brian acht Monate lang in Einzelhaft, 23 Stunden am Tag in einer Zelle. Seine Eltern durften ihn während dieser Zeit nur einmal pro Woche hinter einer Trennscheibe besuchen. Am 15. Juni 2011 stach der 15Jährige nach einer verbalen Auseinandersetzung mit einem 18Jährigen diesem zweimal mit einem Messer in den Rücken, das Opfer überlebte. Es folgten neun Monate in Untersuchungshaft, später in einer “vorsorglichen Unterbringung” im Gefängnis Limmattal. Schliesslich wurde er zu einer neunmonatigen Freiheitsstrafe verurteilt. Am 5. Juli 2011 versuchte Brian sich zu erhängen, worauf er für einen Tag in die Psychiatrische Universitätsklinik eingeliefert wurde. Nach einem zweiten Suizidversuch kam er erneut in die Psychiatrische Universitätsklinik, wurde während 13 Tagen ununterbrochen ans Bett fixiert und mit starken Medikamenten vollgepumpt. Im Folgenden wurde für Brian in Form einer Individualtherapie und gezielter sportlicher Aktivitäten ein Sondersetting eingerichtet, Brian hielt sich an alle vorgegebenen Regeln und war 13 Monate lang deliktfrei. Als jedoch vom “Blick” die Kosten des Settings – 29’000 Franken pro Monat – publik gemacht wurden, löste das in der Öffentlichkeit einen derart grossen Aufschrei der Empörung aus, dass das Sondersetting abrupt abgebrochen wurde. Mit der Begründung, ihn vor der öffentlichen Empörung und vor den Medien zu schützen, kam Brian erneut ins Gefängnis. Am 18. Februar 2014 entschied das Bundesgericht, dass die erneute Inhaftierung von Brian, der sich nichts hätte zuschulden kommen lassen, widerrechtlich gewesen sei. Brian kam zurück ins Sondersetting. Im März 2016 traf Brian im Tram einen Kollegen, den er von einem Kickbox-Turnier kannte. Es kam zu einer verbalen Auseinandersetzung, worauf Brian seinem Kollegen einen Faustschlag verpasste. Brian brach dem Kollegen den Unterkiefer und zog sich selbst einen Fingerbruch zu. Das Bezirksgericht Zürich verurteilte Brian wegen versuchter schwerer Körperverletzung zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von 18 Monaten. Anfangs 2017 wurde Brian im Bezirksgefängnis Pfäffikon in eine Sicherheitsabteilung verlegt. Er musste über zwei Wochen lang auf dem nackten Boden schlafen, nur mit einem Poncho bekleidet. In der Zelle gab es weder Bett, Stuhl noch Matratze, er durfte nicht duschen und sich nicht die Zähne putzen. Drei Wochen lang trug er ununterbrochen Fussfesseln und der Hofgang wurde ihm verweigert. Anschliessend landete Brian in der Justizvollzugsanstalt Pöschwies, wo es am 28. Juni 2017 zu einem weiteren folgenschweren Zwischenfall kam: Zwei Mitarbeiter teilten Brian mit, dass er vom offenen Gruppenvollzug ins Einzelhaftregime der Sicherheitsabteilung versetzt würde – Brian verlor die Beherrschung und es kam zu einem Gerangel mit den beiden Mitarbeitern, welche dabei Prellungen erlitten. Die Aufseher machten eine Anzeige und Brian landete für drei Monate in Untersuchungshaft. Am 18. August 2018 wurde er wieder zurück in die Justizvollzugsanstalt Pöschwies versetzt, wo er sich durchgehend isoliert in einer zwölf Quadratmeter grossen Zelle aufzuhalten hatte, die Sitztoilette befand sich offen in der Zelle, das Fenster war mit einer Folie abgedeckt, sodass er nicht nach draussen blicken konnte. Über zwei Jahre wurde er nur mit Hand- und Fussfesseln in den Hof geführt. Im Januar 2019 demolierte Brian eine Sicherheitsscheibe und warf ein Stück davon gegen die Zellentür, die ein paar Zentimeter geöffnet war und hinter der Aufseher standen. Dabei zog sich ein Aufseher blutige Kratzer zu. Am 18. Februar 2019 ersuchte Brians Grossmutter die Behörden, dass sie ihren Enkel zu ihrem 93. Geburtstag ausnahmsweise ohne Trennscheibe besuchen dürfe – das Gesuch wurde abgelehnt. Im Juli 2019 schlug ein Vollzugsbeamter rechtswidrig auf Brian ein. Nachdem Brian dagegen ziemlich aggressiv reagiert hatte, wurde er am Boden gefesselt. Obwohl sich die Situation deeskalierte, versetzte der Beamte Brian zwei Fusstritte gegen den Körper und einen Faustschlag gegen den Kopf. Im Januar 2022 wurde Brians Langzeithaft von der Zürcher Justizdirektorin aufgehoben. Brian wurde in ein Zürcher Untersuchungsgefängnis verlegt und dort in ein normales Haftregime eingeliefert. Seither zeigt er sich kooperativ, verbringt die Tage wie alle anderen Häftlinge ausserhalb der Zelle und arbeitet als Fitnessinstruktor.

Zurzeit wird, wie der “Tagesanzeiger” vom 1. November 2023 berichtet, der Fall des inzwischen 28jährigen Brian am Bezirksgericht Dielsdorf verhandelt. Philip Stolkin, einer von Brians Anwälten, verficht die Ansicht, dass Brian durchaus das Recht gehabt hätte, sich auch mit Gewalt gegen die dreieinhalb Jahre dauernde Einzelhaft in der Justizvollzugsanstalt Pöschwies zu wehren. Die verheerenden Auswirkungen von Einzelhaft seien seit Jahrzehnten bekannt. Zahlreiche Studien hätten die Folgen aufgezeigt: Stimmungsschwankungen, Gewalt- und andere emotionale Ausbrüche, Angstzustände, Depressionen, Denkstörungen, aber auch Herzrasen, Bluthochdruck und Verdauungsschwierigkeiten. Deshalb sei ja auch eine mehr als 15 Tage dauernde Einzelhaft gemäss einer UN-Konvention verboten und sogar als eine Form von “Folter” definiert. Die seelische und körperliche Unversehrtheit sei das höchste Rechtsgut des Menschen und dieses dürfe er verteidigen. Brian habe keine Wahl gehabt. Deshalb habe er auf die einzige Weise reagiert, die ihm geblieben sei, und hätte verzweifelt versucht, sich die Reize selbst zu verschaffen, die der Mensch zum Leben brauche wie die Luft zum Atmen. Er hätte ständig dagegen angekämpft, dem Wahnsinn anheimzufallen, habe nächtelang unmotiviert gesungen, frühmorgens Selbstgespräche geführt, an Bluthochdruck, Schmerzen und beginnender Fettleibigkeit gelitten. Dass seine Ausbrüche eindeutig auf die Haftsituation zurückzuführen seien, zeige sich auch daran, dass sich Brian im Untersuchungsgefängnis Zürich, wo er nun die Tage wie alle anderen Häftlinge ausserhalb der Zelle verbringen könne, kooperativ verhalte. “Brian ist kein Mörder”, sagte auch der Zürcher Oberrichter Christian Prinz schon vor einem Jahr, “er ist kein Vergewaltiger, er ist kein Räuber und kein Brandstifter, seine Gewalt ist eine Frage seines Kampfes mit der Justiz.” Und vom südafrikanischen Freiheitskämpfer und späteren Staatspräsidenten Nelson Mandela, der selber zur Zeit der Apartheit 30 Jahre im Gefängnis verbrachte, stammen diese Worte: “Wenn man einem Menschen verbietet, das Leben zu leben, das er für richtig hält, dann hat er keine andere Wahl, als ein Rebell zu werden.”

Was dies alles mit dem aktuellen Nahostkonflikt zu tun hat? Weit mehr, als es auf den ersten Blick erscheinen mag. Man kann nämlich die Situation von Brian Keller, der den grössten Teil seines bisherigen Lebens in Gefängnissen und Haftanstalten verbracht hat, durchaus mit der Situation der Palästinenserinnen und Palästinenser im Gazastreifen vergleichen, von denen die meisten bereits seit ihrer Geburt im “grössten Gefängnis der Welt” verbringen mussten, jeglicher Selbstbestimmung beraubt, ein Leben lang gedemütigt, von bitterer Armut, Arbeitslosigkeit und wirtschaftlicher Perspektivenlosigkeit betroffen und selbst von derzeitigen Mitgliedern der israelischen Regierung, so etwa dem Verteidigungsminister Yoav Golan, als “Tiere” bezeichnet, die man deshalb auch als Tiere behandeln und ihnen daher auch Strom, Gas, Essen und Trinken verweigern müsse. Gewalt erzeugt Gegengewalt, diese simple Logik, die Brian Kellers Anwalt ins Feld führt, gilt im Kleinen wie im Grossen. Man kann einem einzelnen Menschen Gewalt antun oder einem ganzen Volk, im Prinzip ist es dasselbe: Früher oder später erzeugt Gewalt stets wieder neue Gewalt, Druck immer mehr Gegendruck, Widerstand immer mehr neuen Widerstand, Hass immer wieder neuen Hass. Man kann weder das Verhalten und die von Brian ausgeübten Delikte angemessen beurteilen, wenn man nicht seine ganze Vorgeschichte kennt. Und ebenso wenig kann man den Überfall von Hamasterroristen vom 7. Oktober 2023 auf jüdische Zivilpersonen angemessen beurteilen, wenn man nicht die ganze Vorgeschichte jahrzehntelanger Verfolgung, Ausgrenzung und Demütigung des palästinensischen Volkes kennt. Es wird zwar immer wieder behauptet, die Hamas sei eine reine brutale Terrororganisation ohne jegliche Menschlichkeit, der es ausschliesslich um ihre eigene Macht ginge und die nichts mit noch so berechtigten Anliegen der Bevölkerung zu tun hätte, einer Bevölkerung, die im Gegenteil ihrerseits vom Hamasregime unterdrückt, diskriminiert und deren oppositionelle Stimmen verfolgt, inhaftiert und gefoltert würden. Dem ist entgegenzuhalten, dass eine Organisation wie die Hamas überhaupt nur auf diesem Boden von Armut, Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit wachsen konnte und sonst auch kaum im Jahre 2006 von der Mehrheit der Gazabevölkerung demokratisch gewählt worden wäre. Hätten die Palästinenserinnen und Palästinenser zu diesem Zeitpunkt in einem mit Israel gleichberechtigen eigenen, autonomen und demokratischen Staat in Frieden, Sicherheit und Wohlstand leben können, dann hätte es so etwas wie die Hamas niemals gegeben. Ganz abgesehen davon, dass sich der israelische Ministerpräsident Netanyahu noch 2019 dafür aussprach, die Hamas ideell und finanziell zu unterstützen, um auf diese Weise die extremeren und weniger extremen Palästinenserorganisation auseinanderzuspalten und damit zu schwächen.

Doch genau an dieser Stelle kommt stets der Vorwurf, wer Gewalttaten wie den Überfall der Hamas auf die israelische Zivilbevölkerung zu erklären versuche, würde diese somit rechtfertigen bzw. die Schuld jemand anderem zuschieben. Das ist ein höchst verhängnisvoller Fehlschluss und würde ja bedeuten, dass man bei keinem Gewaltakt jemals einen Blick in die Vorgeschichte werfen dürfte, um herausfinden, wie es möglicherweise zu diesem Gewaltakt gekommen sein konnte. Nein, erklären ist ganz und gar nicht das Gleiche wie rechtfertigen. Glücklicherweise hat unsere Sprache hierfür auch ganz unterschiedliche Wörter, nur sollte dieser Unterschiedlichkeit auch in noch so aufgeladenen, polarisierten Diskussionen Rechnung getragen werden. Wer etwas zu erklären versucht, ist weit davon entfernt, es zu rechtfertigen. Das Erklären aber kann dazu führen, dass man besser verstehen kann, wie und wodurch es zu Verhaltensweisen oder Taten kommen kann, die irgendwann höchst zerstörerische Formen annehmen können. Deshalb ist das Erklären so wichtig. Nur durch das Erklären können wir aus der Geschichte lernen und uns davor hüten, nicht immer wieder die gleichen Fehler zu begehen. Wer dagegen das Erklären mit dem Rechtfertigen gleichsetzt, erstickt damit jede differenzierte Auseinandersetzung mit dem Geschehenen und verpasst denen, die es versuchen möchten, gleich von Anfang an einen moralischen Maulkorb.

In der Diskussionssendung “Club” vom 31. Oktober am Schweizer Fernsehen versuchte Oliver Diggelmann, Professor für Völkerrecht an der Universität Zürich, die Bombardierungen von Spitälern, Universitäten, Moscheen, Flüchtlingslagern und Ambulanzen durch die israelische Luftwaffe damit zu rechtfertigen, dass sich an diesen Orten Hamaskämpfer versteckt haben könnten, und sich somit zivile Ziele in “sogenannt militärische Ziele verwandeln” können. “Ich weiss”, sagte Diggelmann, “das ist eine fürchterliche Sprache, aber es ist die einzige, die wir haben.” Müsste er als “Völkerrechtler” daraus nicht einen ganz anderen Schluss ziehen? Wenn wir tatsächlich keine andere Sprache haben, dann ist es doch spätestens jetzt, im Anblick dieses unvorstellbaren Leidens, allerhöchste Zeit, eine solche neue Sprache zu erlernen. Dies umso mehr, als selbst traditionell denkende Militärexperten schon längst zum Schluss gekommen sind, dass man die Hamas mit konventionellen militärischen Mitteln gar nicht besiegen kann und für jeden Terroristen, den man getötet hat, zehn neue aus dem Boden schiessen, genau so wie 2003 im Krieg der USA gegen den Irak, durch welchen nur noch zusätzliche, extremere Terrormilizen entstanden und sich die ursprüngliche Absicht der USA, den Terrorismus zu bekämpfen, nachgerade in ihr Gegenteil verkehrte. “Die soziale Misere und Perspektivlosigkeit im Gazastreifen”, so Mauro Mantovani, Sicherheitsexperte und Historiker an der ETH Zürich im “Tagesanzeiger” vom 2. November 2023, “hält die radikale Ideologie am Leben und damit auch die Hamas an der Macht. Sie ist die alleinige politische Vertretung, nimmt neben dem bewaffneten Kampf auch soziale und religiöse Funktionen wahr und ist so mit der Bevölkerung untrennbar verbunden.”

Eine neue Sprache. Ein neues Denken. Man stelle sich vor: Israel hätte sich am 8. Oktober 2023 geweigert, an der Spirale gegenseitiger Gewalt weiterzudrehen, hätte eine moralisch überlegenere Position eingenommen, sich für immer zu einer gewaltfreien Konfliktlösung bekannt und auf den Angriff der Hamas mit einem umfassenden Friedensangebot reagiert. Die ganze Welt hätte ihren Augen und ihren Ohren nicht getraut. Alle Länder, die heute gegen Israel sind, hätten Israel zugejubelt. Tausende von Menschen, die sinnlos gestorben sind, wären jetzt noch am Leben. Es ist eben nicht so, wie Ifat Reshef, die israelische Botschafterin in Bern, im Interview mit dem “Tagesanzeiger” vom 4. November sagte, nämlich, dass Israel, wenn es durch die Einwilligung in einen Waffenstillstände “Schwäche” zeige, dadurch Gefahr laufen würde, “nicht zu überleben”. Das Gegenteil ist der Fall. Denn es gibt letztlich nichts zwischen dem Krieg und dem Frieden. “Entweder”, sagte der amerikanische Bürgerrechtskämpfer Martin Luther King, “werden wir als Brüder und Schwestern miteinander überleben oder als Narren miteinander untergehen.” Und der römische Kaiser und Philosoph Marc Aurel sagte schon vor 2200 Jahren: “Die beste Rache ist anders zu sein als dein Feind.” Müssen wir noch einmal 2200 Jahre lang warten, bis wir das verstanden haben?