Vom Hass zur Liebe: Das Einzige, was uns Hoffnung geben kann

In einer Zeit voller Hass, Zerstörung und Kriegen fällt es oft unglaublich schwer, den Glauben an das Gute in den Menschen nicht zu verlieren. Und doch, es ist unsere einzige Hoffnung.

Einen neuen Zugang finden wir möglicherweise dann, wenn wir uns vorzustellen versuchen, dass jeder Mensch, auch der brutalste Hamas-Kämpfer, auch der israelische Aussenminister, der alle Palästinenserinnen und Palästinenser als “Hunde” bezeichnet, und auch alle anderen weltweiten Kriegstreiber über Jahrhunderte hinweg, dass sie alle im Augenblick ihrer Geburt einmal ein Baby waren. Ein Baby, von dem wohl niemand ernsthaft behaupten könnte, es wäre schon im Augenblick seiner Geburt ein potenzieller Mörder gewesen oder auch nur im Entferntesten den Wunsch in sich getragen hätte, irgendein “fremdes” Volk auszulöschen. Nein, wenn ein Mensch 20 oder 30 Jahre später zu einem Mörder oder Kriegsverbrecher geworden ist, dann nicht, weil er dafür geboren wurde, sondern, weil er in diesen 20 oder 30 Jahren so viele Schmerzen, so viel Hass, so viel Verachtung, so viel Gewalt und so viele Demütigungen erleiden musste, dass sich seine ursprüngliche Menschenliebe zunehmend in Hass verwandelte. Vielleicht sind sogar die schlimmsten Verbrecher genau jene, die ganz zu Beginn ihres Lebens noch am allermeisten hätten lieben wollen, und deshalb am allermeisten enttäuscht wurden, weil die äusseren Umstände dies zu verhindern vermochten. Ja, vielleicht steckt im Allerinnersten jedes noch so abgrundtiefen Hasses immer noch ein ganz tiefer, verborgener Kern unausgelebter Liebe.

“Der Mensch ist gut und will das Gute, und wenn er böse ist, so hat man ihm den Weg verrammelt, auf dem er gut sein wollte”, sagte der berühmte Schweizer Pädagoge Johann Heinrich Pestalozzi schon vor über 250 Jahren. Die “Ärzte”, eine 1982 gegründete deutsche Rockband, singen in einem ihrer bekanntesten Lieder: “Deine Gewalt ist nur ein stummer Schrei nach Liebe, deine Springerstiefel sehnen sich nach Zärtlichkeit.” Und Rutger Bregman schreibt in seinem im Jahre 2020 erschienenen Buch “Im Grunde gut”: “Bereits in der Wiege geben wir dem Guten den Vorzug, es liegt in unserer Natur.” Man muss sich nur die Biografien von Menschen, die man sich als Inbegriff des “Bösen” vorstellt, etwas genauer anschauen, um unschwer zu erkennen, wie sehr in aller Regel erlittenes Unrecht genau dazu führt, dass die betroffenen Menschen auch ihrerseits wieder umso grösseres Unrecht begehen. Aktuellstes Beispiel dafür ist Mohammed Deif, Chef des militärischen Arms der Hamas, der, wie der “Tagesanzeiger” am 16. Oktober 2023 berichtete, hinter dem Angriff vom 7. Oktober auf Israel stecken soll. Im Jahre 2014 bombardierten die Israelis sein Wohnhaus, seine Frau und zwei seiner Kinder fanden den Tod. Kann für einen Menschen, der so etwas erleben musste, das Leben anschliessend einfach ganz normal weitergehen? Auch die Lebensgeschichte von Ahmad Mansour, Deutsch-Israeli mit palästinensischen Wurzeln, zeigt exemplarisch, wie sich eine leidvolle Kindheit und Jugendzeit auf das spätere Leben auswirken kann. “Bei mir”, sagt Mansour im Interview mit der “NZZ am Sonntag” vom 15. Oktober 2023, “war es die Unzufriedenheit mit dem Leben. In der Schule wurde ich gemobbt, von meiner sehr autoritären Familie fühlte ich mich nicht verstanden. Ich hatte Zukunftsängste und massive Probleme mit meinem Selbstwertgefühl. Der Einzige, der gemerkt hat, dass es mir nicht gut ging, war der Imam. Er zeigte Empathie und versuchte, mir zu helfen. Er war der erste erwachsene Mensch, der ohne Wenn und Aber deutlich machte: Ich sehe dich. So entdeckte ich eine wunderbare Welt und das Gefühl, auf dem richtigen Weg zu sein und zu einer Gruppe zu gehören, die irgendwann einmal die Welt beherrschen würde und von Gott geliebt wird. So entstand in mir ein enormes Selbstwertgefühl und die Erfahrung von Stärke und Kontrolle.”

Die Geschichte von Ahmad Mansour zeigt nicht nur, dass religiöser Fanatismus aus einem tief empfundenen Mangel an Liebe entstehen kann. Sie zeigt auch, wie sehr eine in unterschiedliche Ideologien, Weltanschauungen und Religionen gespaltene Welt Voraussetzung dafür bilden kann, sich mit einer einzigen dieser Weltanschauungen oder Denkrichtungen so sehr zu identifizieren, dass die Überzeugung, der alleinigen, von Gott vorausbestimmten “Wahrheit” verpflichtet zu sein, in letzter Konsequenz zu Fanatismus und zu abgrundtiefem Hass gegenüber allen anderen Weltanschauungen, Denkrichtungen und Religionen führen kann. Und damit sind wir wieder beim Kind im Augenblick seiner Geburt. Zu diesem Zeitpunkt ist das Kind noch Teil einer Ganzheit, die in umfassender Liebe in sich verbunden ist. Erst all die künstlich geschaffenen Grenzen und Mauern zwischen Völkern, Menschen, Ideologien und Religionen führen dazu, dass sich Menschen gegenseitig entfremden und sich die ursprüngliche Liebe nach und nach in Hass gegen Andersdenkende, Andersgläubige oder Menschen mit anderer Hautfarbe oder anderer ethnischer Herkunft verwandeln kann. Demgegenüber malte John Lennon in seinem wunderbaren Lied “Imagine” das Gegenbild einer Welt, in der alle diese Grenzen aufgehoben wären und die Menschen wieder zu ihrer ursprünglichen Verbundenheit zurückgefunden hätten: “Stell dir vor, es gäbe kein Himmelreich (heaven), keine Hölle unter uns, über uns nur der Himmel (sky), stell dir vor, es gäbe keine Länder, nichts, wofür es sich lohnt zu töten oder zu sterben, und auch keine Religion, stell dir vor, alle Menschen leben ihr Leben in Frieden, stell dir vor, es gäbe keinen Besitz mehr, keinen Grund für Gier oder Hunger, stell dir vor, alle Menschen teilen sich die ganze Welt, du wirst vielleicht sagen, ich sei ein Träumer, aber ich bin nicht der Einzige, eines Tages wirst auch du einer von uns sein und die ganze Welt wird eins sein.”

Auch Nelson Mandela, Befreiungskämpfer und späterer Präsident Südafrikas, der wegen seiner politischen Haltung während des Apartheidregimes 30 Jahre lang im Gefängnis sass, sagte: “Niemand wird geboren, um einen anderen wegen seiner Hautfarbe, seines Hintergrunds oder seiner Religion zu hassen. Den Menschen wird Hass beigebracht, und wenn Hass gelehrt werden kann, kann das auch Liebe.“ Dass dies kein unerfüllbarer Wunschtraum bleiben muss, haben – nebst unzähligen anderen – der Israeli Rami Elhanan und der Palästinenser Bassam Aramin bewiesen, über deren Lebensgeschichte das “Tagblatt” vom 21. Oktober 2023 berichtete. Beide hatten im Nahostkonflikt gekämpft und beide hatten eine Tochter verloren. Smadar Elhanan war 13 Jahre alt, als ein Selbstmordattentäter sie mit in den Tod riss. Das war 1997. Im selben Jahr kam nur wenige Kilometer weiter ein palästinensisches Mädchen zur Welt, Abir Aramin. Zehn Jahre später war sie auf dem Schulweg, als ein israelischer Soldat ihr in den Hinterkopf schoss. Die beiden Mädchen lernten sich nie kennen. Doch ihre Väter erinnern sich gemeinsam an sie. Tag für Tag. Im Kampf für den Frieden, im Kampf dafür, dass keine weiteren Kinder im Nahostkonflikt sterben, besuchen sie beide Kriegsparteien, erzählen von ihren Mädchen, von ihrem sinnlosen Tod. Sie wollen aufrütteln und zeigen: Israelis und Palästinenser können aufeinander zugehen, miteinander sprechen, sich befreunden. Bassam Aramin sagt: “Die Hamas wird Israel niemals auslöschen können. Umgekehrt wird es Israel nicht gelingen, die Hamas zu zerschlagen. Den Preis dafür, dass gekämpft statt verhandelt wird, zahlt die Bevölkerung, in Israel wie in Palästina.” Und Rami Elhanan sagt: “Mir kommt es manchmal vor, als sässe die ganze Welt auf einem Balkon und schaut zu, wie sich die beiden Völker massakrieren. Beide Seiten wetteifern darum, wer das grössere Opfer ist, verweisen auf ihre Wunden und betteln um Unterstützung. Das ist völlig irrsinnig und bringt uns keinen Schritt weiter. Wenn wir gemeinsam eine Schulklasse besuchen, kommt das einem menschlichen Erdbeben gleich. Die meisten Kinder treffen das erste Mal überhaupt auf einen Israeli und einen Palästinenser, die sich nicht bekämpfen, nicht ihren Schmerz vergleichen und nicht ihre Schuld dem anderen zuschieben.” Und Bassam Aramin ergänzt: “Dann sehen wir, wie sich die Gesichter der Kinder verändern und so schlagen wir jeden Tag ein paar kleine, feine Risse in ihre Mauern des Hasses. Und wir werden damit nicht aufhören, auch wenn wir dafür Hass und Wut ernten. Irgendwer sagte einmal, dass die Verräter von heute die Helden von morgen sind.”

Bassam Aramin und Rami Elhanan beweisen Tag für Tag, dass auch das Gegenteil möglich ist. Dass wir alle wieder kleine Kinder werden können, die noch nichts von Gewalt, Hass und Kriegen wissen. Dass die Zeit nicht stillstehen muss. Dass genau so, wie sich Liebe in Hass verwandeln kann, auch der Hass wieder in Liebe verwandeln kann.