Von krankmachenden Arbeitsbedingungen über die Biodiversität und den Klimawandel bis zum Krieg: Therapieren müssen wir nicht die einzelnen Opfer des Systems, sondern das System als Ganzes…

 

“Die Fälle von Arbeitsunfähigkeit”, schreibt die “NZZ am Sonntag” vom 4. Dezember 2022, “haben in der Schweiz dieses Jahr um 20 Prozent zugenommen und damit einen neuen Höchststand erreicht. Besonders gross ist die Zunahme bei den psychischen Erkrankungen und hier wieder speziell bei den 18- bis 24Jährigen, wo die Zahl der Neurentnerinnen und Neurentner viermal so hoch ist wie vor 25 Jahren.”

30 Seiten weiter hinten lese ich in der gleichen Zeitung, dass voraussichtlich weltweit bis zu einer Million Tier- und Pflanzenarten innerhalb der nächsten Jahrzehnte durch den Einfluss des Menschen aussterben werden. Auch in der Schweiz stehe es mit der Biodiversität nicht gut: Fast die Hälfte aller Lebensräume für Tiere und Pflanzen seien bedroht, was längerfristig zu einem Zusammenbruch des gesamten Ökosystems führen könnte.

30 Seiten zwischen den beiden Meldungen, die uns glauben machen wollen, das eine hätte mit dem anderen nichts zu tun. Tatsächlich aber hat beides letztlich die gleiche Ursache. Diese Ursache ist das kapitalistische Wirtschaftssystem, das auf permanenter Gewinn- und Profitmaximierung, dem blinden Glauben an ein nie endendes Wirtschaftswachstum und dem sich selber auferlegten Zwang beruht, aus den Menschen und aus der Natur in immer kürzerer Zeit eine immer höhere Leistung herauszupressen. Auch die zunehmende Kluft zwischen Arm und Reich ist eine Folge des kapitalistischen Wirtschafts- und Finanzsystems, das darauf ausgerichtet ist, ausgerechnet jene mit zusätzlichem Reichtum zu belohnen, die sowieso schon viel zu viel haben, Geld, das den Armen dafür umso schmerzlicher fehlt. Auch die Tatsache, dass weltweit über 800 Millionen Menschen unter Hunger leiden und jeden Tag 15’000 Kinder sterben, weil sie nicht genug zu essen haben, hat ihre Wurzeln im kapitalistischen Wirtschaftssystem, wo die Güter nicht dorthin fliessen, wo die Menschen sie am dringendsten bräuchten, sondern dorthin, wo am meisten Geld vorhanden ist, um sie tatsächlich auch kaufen zu können – es wäre ein Leichtes, alle Menschen weltweit genügend zu ernähren, mit den heute insgesamt vorhandenen Lebensmitteln könnte sogar, wären sie gerecht verteilt, mehr als die gesamte Weltbevölkerung ausreichend mit Nahrungsmitteln versorgt werden. Auch der Klimawandel ist eine Folge des kapitalistischen Wirtschaftssystems, denn endloses Wachstum von Gütern, Profiten und Gewinnsteigerung ist früher oder später nicht möglich in einer Welt begrenzter natürlicher Ressourcen. Und selbst der Krieg ist eine Folge des kapitalistischen Wirtschaftssystems, denn territoriale Expansion, die unablässige Jagd nach Rohstoffen und Absatzmärkten, der übersteigerte Nationalismus und der Wettlauf um Macht und möglichst grosse Einflusssphären sind wesensmässig aufs Engste miteinander verknüpft, was der französische Sozialist Jean Jaurès mit diesen Worten so treffend auf den Punkt brachte: “Der Kapitalismus trägt den Krieg in sich wie die Wolke den Regen.”

Therapieren müssen wir daher nicht die einzelnen Opfer des Systems. Therapieren müssen wir das System als Ganzes. Denn alles hängt mit allem zusammen. Wenn es jungen Menschen in einer immer hektischeren Arbeitswelt nicht gut geht, dann kann es auch den Tieren und Pflanzen, den Menschen im Krieg, den Menschen, die in Armut leben und unter Hunger leiden, und all jenen Menschen, die noch nicht einmal geboren sind und deren Lebensgrundlagen wir jetzt schon hier und heute zerstören, nicht wirklich gut gehen. “Was alle angeht, können nur alle lösen”, sagte der Schweizer Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt. Und auch der französische Philosoph Lucien Sève sagte es so deutlich, dass man sich allen Ernstes fragen muss, wie viel Leid, wie viel Ungerechtigkeit und wie viel Zerstörung es noch braucht, bis wir es endlich begriffen haben: “Der Kapitalismus wird nicht von selbst zusammenbrechen, er hat noch die Kraft, uns alle in den Tod zu reissen, wie der lebensmüde Flugzeugpilot seine Passagiere. Wir müssen das Cockpit stürmen, um gemeinsam den Steuerknüppel herumzureissen.”