Parlamentswahlen in der Schweiz: 50 Millionen Franken, über 6000 Kandidierende – alles für nichts

Nun ist er ausgestanden, der über Monate hinweg von allen Parteien mit riesigem Aufwand geführte Wahlkampf für das schweizerische Parlament. Über 50 Millionen Franken hat die Übung gekostet. Mehr als 6000 Kandidatinnen und Kandidaten – mehr als je zuvor – haben gegenseitig um die insgesamt 246 Sitze im National- und Ständerat gekämpft. Tonnenweise Papier wurde verbraucht für Plakate, Flugblätter, Wahlzeitungen und Wahlzettel. Tausende Zeitungsinserate, Podiumsdiskussionen, Leserbriefe, Zeitungsartikel, Werbebriefe, Postkartenaktionen, Telefonaktionen, Wahlanalysen, Radiosendungen, Standaktionen, Gipfeli schon am frühen Morgen für Pendlerinnen und Pendler, Videofilme und Werbespots auf den sozialen Medien. Tausende Stimmenzählerinnen und Stimmenzähler. Gefühlte zehn “Arenas” am Schweizer Fernsehen. Individuelle Werbebudgets von bis zu 365’000 Franken. Halbe Bahnhöfe, Strassenböschungen, Hausfassaden, Dorf- und Stadtplätze, Wiesen und Anhöhen bis in die entlegensten Täler überflutet mit grossflächigen Plakaten in allen Farben, voller wunderbarer Versprechungen, es ginge einzig und allein darum, dieser Politikerin oder diesem Politiker die Stimme zu geben, und schon wäre die Schweiz von morgen eine ganz andere als die Schweiz von heute.

Was sich an diesem 22. Oktober 2023 durch einen so gigantischen Aufwand, durch so viele alles beherrschende politische Debatten über Monate hinweg geändert hat: nichts. Weiterhin wird die soziale Ungleichheit immer dramatischere Ausmasse annehmen, obwohl schon heute weltweit nur in zwei Ländern, nämlich Singapur und Namibia, die Kluft zwischen Arm und Reich noch grösser ist als in der Schweiz. Weiterhin wird rund ein Neuntel der Bevölkerung von Armut betroffen sein und sich nur mit grösster Mühe und Not über Wasser halten können. Weiterhin werden weit über hunderttausend Menschen in diesem Land trotz voller Erwerbsarbeit nicht genug verdienen, um davon leben zu können. Weiterhin werden die 300 Reichsten des Landes – mit über 820 Milliarden Franken – über ein Vermögen verfügen, welches der gesamten jährlichen Wirtschaftsleistung des Landes und sogar dem Jahresbudget der mit Abstand grössten Militärmacht der Welt, den USA, entspricht, und man braucht kein Wahrsager zu sein, um jetzt schon zu wissen, dass sich diese Summe Jahr um Jahr weiter massiv erhöhen wird. Weiterhin werden Arbeitgeberorganisationen die flächendeckende Einführung von Mindestlöhnen im Bereich von 20 bis 23 Franken zu verhindern wissen, während gleichzeitig für einzelne CEOs von Grossfirmen Stundenlöhne von bis zu 10’000 Franken ganz selbstverständlich sind und die tiefsten Löhne von den höchsten Löhnen in einzelnen Unternehmen – wie beispielsweise dem Pharmakonzern Roche – um das Dreihundertfache übertroffen werden. Weiterhin werden Jahr für Jahr rund 90 Milliarden Franken – und auch dies in wachsendem Ausmass – von der einen reichen Generation an die nächste reiche Generation steuerfrei weitervererbt, ohne dass diese einen Finger dafür krumm zu machen braucht. Weiterhin wird gesamtschweizerisch insgesamt mehr Geld durch Aktien, Obligationen, Mietzinsen und andere Kapitalgewinne verdient als durch tägliche selber geleistete Arbeit. Weiterhin wird die Chance eines Arbeiterkinds auf eine akademische Karriere um ein Vielfaches kleiner sein als jene eines Kindes von Eltern, die selber schon Akademikerin und Akademiker sind. Weiterhin werden der Druck und der Konkurrenzkampf in den Schulen und in der Arbeitswelt immer mehr zunehmen und immer mehr Menschen werden unter zu grosser psychischer Belastung, Depressionen und Burnouts leiden. Weiterhin wird der Individualverkehr mit all seinen schädlichen Auswirkungen auf die Menschen und auf die Natur von Jahr zu Jahr anwachsen und immer grössere Flächen, die für andere Nutzungen dringendst erforderlich wären, in Anspruch nehmen. Weiterhin werden multinationale Nahrungsmittel- und Rohstoffkonzerne, die ihren Sitz in der Schweiz haben, auf Kosten ausgeplünderter und verarmter Länder des Südens ihre Milliardengewinne generieren, und dies, obwohl in unserem Lande noch nie ein Tropfen Öl gefunden wurde, noch nie Gold ans Tageslicht befördert werden konnte und noch keine einzige Kaffee- oder Kakaobohne, keine einzige Ananas und keine einzige Erdnuss jemals geerntet wurden. Weiterhin wird die Schweiz im Handel mit Ländern des Südens rund 50 Mal höhere Gewinne erwirtschaften, als sie diesen Ländern in Form von Entwicklungshilfe wieder zurückgeben wird. Weiterhin werden, als direkte Folge aller dieser Formen von Ausbeutung, schweizweit täglich ein Drittel aller Nahrungsmittel unverwendet im Müll landen, während weltweit eine Milliarde Menschen hungern und jeden Tag rund zehntausend Kinder unter fünf Jahren sterben, weil sie nicht genug zu essen haben. Und weiterhin wird auch der Klimawandel nahezu ungehindert voranschreiten, werden Rohstoffe, für deren Bildung die Erde Millionen von Jahren gebraucht hat, in wenigen Jahrzehnten verprasst, wird immer mehr Energie verbraucht und werden die Lebensgrundlagen zukünftiger Generationen infolge eines ungebrochenen Glaubens an ein endloses Wirtschaftswachstum systematisch zerstört.

Demokratie. Wie schön. So können wir uns wenigstens in der Illusion wiegen, wir lebten in einem der freiesten Länder der Welt und seien immer noch, mehr als alle anderen Bewohnerinnen und Bewohner dieses Planeten, unsere eigenen Herren und Meister. Auch wenn es in der Realität genau umgekehrt ist und wir immer tiefer in den Strudel des globalisierten Kapitalismus hineingezogen werden. Und das wird immer so weitergehen, solange nicht eine radikal neue weltweite politische Bewegung zur Überwindung des Kapitalismus entsteht und unsere traditionellen politischen Parteien uns bloss eine scheinbar demokratische Vielfalt vorgaukeln, während sie in Tat und Wahrheit doch nichts anderes sind als einzelne Fraktionen einer grossen Kapitalistischen Einheitspartei. 50 Millionen Franken. Über 6000 Kandidierende. Wäre dieses Potenzial nicht genug gross gewesen, um uns, statt uns mit Plakaten, Flugblättern, Inseraten und an Podiumsdiskussionen gegenseitig die Köpfe einzuschlagen, mit der viel entscheidenderen Frage zu konfrontieren, ob das herrschende kapitalistische Wirtschafts- und Gesellschaftssystem, an welches wir uns offensichtlich schon so sehr gewöhnt haben, dass wir uns etwas von Grund auf anderes schon gar nicht mehr vorstellen können, tatsächlich in der Lage sein kann, alle die grossen sozialen, ökonomischen und ökologischen Herausforderungen unserer Zeit zu bewältigen?