Ukraine: Krieg als eine Sache, “für die es sich zu sterben lohnt”?

 

“Im Krieg”, schreibt Chefredaktor Eric Guyer in seinem Leitartikel der “NZZ” vom 3. Dezember 2022, “verlieren die harten Fakten – Truppenstärke und Bewaffnung – an Wert, wenn es an den weichen Faktoren fehlt: am unbedingten Siegeswillen und einer Sache, für die es sich zu sterben lohnt. Die Ukrainer haben diese weichen Faktoren, die demoralisierten russischen Soldaten nicht.”

So etwas kann nur einer schreiben, der in seinem behaglichen, gut geheizten Büro sitzt und sich bloss aufgrund von Durchhalteparolen der beiden Kriegsparteien oder von Landkarten, auf denen die Geländegewinne der einen oder der anderen Seite verzeichnet sind, jenes Bild des Geschehens zurechtzimmert, welches in sein Weltbild passt. Dass dieses Weltbild und die Realität nur wenig miteinander zu tun haben, hätte Guyer nur schon hinterfragen müssen, wenn er sich beispielsweise die “Frankfurter Rundschau” vom 1. Dezember 2022 angeschaut hätte. Dort nämlich war Folgendes zu lesen: “Nicht nur auf russischer, sondern auch auf ukrainischer Seite leiden die Kämpfenden. Viele von ihnen werden nie mehr in ihre früheren Berufe zurückkehren können, weil sie ausgebrannt sind. Zahlreiche Einheiten leiden unter Fussbrand, einer Erkrankung, die durch das Tragen von nassen, kalten Socken oder Schuhen über mehrere Tage hinweg entsteht. Neben Schmerzen, Blasen und Taubheitsgefühlen können auch Infektionen zu den Folgen zählen. Die Soldaten kommen im unablässigen Gefechtssturm kaum zum Schlafen, alles durchdringender Regen und Morast, in dem sie immer wieder steckenbleiben, machen ihnen zu schaffen. Auch gibt es immer wieder Probleme mit der Nahrungsmittelversorgung. Es mehren sich die Berichte von Offizieren, die zu bedenken geben, dass es schwierig werden dürfte, die Moral der Soldaten auf längere Sicht aufrechtzuerhalten, vor allem angesichts des nahenden Winters. Einzelne Bataillone haben bereits die Hälfte ihrer Mitglieder verloren, die anderen leben in ständiger Todesangst. Einige benötigen psychologische Hilfe. Viele Soldaten bekunden einen Mangel an Kraft und Ressourcen. Ein Offizier berichtet, er schaffe es kaum mehr, mit den schrecklichen Erfahrungen auf dem Schlachtfeld und dem Anblick der gefallenen Kampfgefährten fertig zu werden, es raube ihm die Seele.”

Wie bei so viel sinnlosem Leiden ein vernünftig denkender Mensch auf die Idee kommen kann, Krieg könnte eine Sache sein, “für die es sich zu sterben lohnt”, ist mir schleierhaft. Für wen soll sich das Sterben lohnen? Für den Soldaten, der im Kampf gefallen ist? Für seine Freundin oder seine Frau? Für seine Eltern? Für seine Kinder? Für all die Schwerverletzten, die zeitlebens in einem Rollstuhl sitzen oder unter Kopf- und Bauchschüssen, zerfetzten Armen, verbrannten Körperteilen und unheilbaren Traumata leiden werden? Für all die Häuser, die kaputtgehen, für die Erde, die mit tödlichen Minen durchsetzt ist, für die Tiere und für die Pflanzen? Die Behauptung, Sterben im Krieg könnte sich auch nur im Entferntesten für irgendetwas lohnen, ist ein Rückfall in finsterste vergangene Zeiten, in der nur die Siege oder Niederlagen von Königen oder Kaisern eine Rolle spielten und die Menschen nichts anderes waren als “Kanonenfutter” auf dem Schachbrett der Mächtigen. Diese Zeit, meinte ich immer, sei längst vorüber. Da habe ich mich offensichtlich ganz gewaltig getäuscht. 

“Ich dachte immer, jeder Mensch sei gegen den Krieg”, schrieb der deutsche Schriftsteller Erich Maria Remarque zur Zeit des Ersten Weltkriegs, “bis ich herausfand, dass es welche gibt, die dafür sind, besonders die, die nicht hingehen müssen.” Wer behauptet, im Krieg zu sterben könnte sich für irgendetwas lohnen, macht sich, indem er den Krieg geradezu zur moralischen Pflicht emporstilisiert, für jeden einzelnen Tag, an dem das sinnlose Töten weitergeht, mitverantwortlich. Es gibt nur eine einzige vernünftige Alternative zum Krieg und diese lautet: kein Krieg. Wer, wie Erich Guyer, eine so grosse und wichtige Plattform öffentlicher Meinungsbildung wie die “NZZ” zur Verfügung hat, sollte dies doch nicht dafür missbrauchen, einseitig für die eine oder andere Seite der Kriegsparteien Stellung zu beziehen, sondern alles daran setzen, sich zwischen die Fronten zu stellen und mit aller Entschiedenheit für einen sofortigen Waffenstillstand und ein Ende des Krieges einzutreten. Wenn sich etwas “lohnt”, dann gewiss nicht das Sterben auf dem Schlachtfeld, sondern einzig und allein die Forderung, diesem so schnell wie möglich ein Ende zu setzen, auch wenn diese Forderung augenblicklich noch so utopisch und unrealistisch erscheinen mag. “Lieber hundert Stunden umsonst verhandeln”, sagte der frühere deutsche Bundeskanzler Helmut Schmidt, “als eine Minute schiessen.”