Altes und neues Denken: Eine Polarisierung, die Mut macht

Wir leben in einer Zeit der Polarisierungen: Corona, Genderdebatte, Klimawandel, Krieg in der Ukraine, Krieg im Nahen Osten – immer unversöhnlicher und gehässiger prallen Meinungen und Gegenmeinungen aufeinander, gegenseitige Schuldzuweisungen und Feindbilder beherrschen das Feld, nur selten wird der Dialog gesucht und das ehrliche Bemühen, Ursachen auf den Grund zu gehen und gemeinsam Lösungen zu suchen.

Doch gleichzeitig gibt es noch eine andere Polarisierung, die – im Gegensatz zu allen anderen Polarisierungen – Mut machen könnte: die Polarisierung zwischen einem alten Denken, das auf der Macht des Stärkeren beruht, und einem neuen Denken, das auf Aussöhnung, Frieden und Gerechtigkeit ausgerichtet ist. Und fast scheint mir, dass, je unbändiger sich das alte Denken noch einmal in seiner ganzen Gewalttätigkeit aufbäumt, gleichzeitig das neue Denken immer weitere Kreise zieht und immer stärker wird.

Deshalb mag es sich lohnen, Beispiele für altes Denken genauer anzuschauen, seine Widersprüche aufzudecken und daraus zu lernen, wie das neue Denken aussehen müsste, um das alte nach und nach überwinden zu können. Ein solches Beispiel alten Denkens habe ich bei der Lektüre des “Tagesanzeigers” vom 16. Oktober 2023 gefunden, wo der 81jährige deutsche CDU-Politiker Wolfgang Schäuble, eine “deutsche Politiklegende”, wie es heisst, auf zwei ganzen Zeitungsseiten sein Gedankengut ausbreitet.

Herr Geissler, Sie sagen: “Der Terrorismus durch Hamas ist allgegenwärtig, das ist am 7. Oktober brutal deutlich geworden, orchestriert aus dem Iran.” Und ich frage Sie: Weshalb greifen Sie, in Bezug auf den Iran, so schnell zu Schuldzuweisungen? Meines Wissens ist da bis zur Stunde noch gar nichts bewiesen.

Sie sagen: “Die Terroristen müssen entschieden bekämpft werden und die amerikanische Präsenz in der Region muss erhöht werden, um ein klares Signal zu senden, das dann hoffentlich nicht nur die unmittelbar Involvierten verstehen, sondern auch der Kreml.” Und ich frage Sie: Weshalb spielen Sie bewusst mit dem Feuer? Wenn Sie eine Erhöhung der amerikanischen Präsenz fordern, könnte dann von anderer Seite nicht konsequenterweise auch eine Erhöhung der russischen Präsenz gefordert werden? Und was wären die möglichen Folgen? Und weshalb ziehen Sie Russland ins Spiel, das sich bisher jeglicher einseitiger Schuldzuweisung entzogen hat, sich im Gegenteil für eine Vermittlerrolle angeboten hat und überdies seit Jahren sehr gute und konstruktive Beziehungen zur israelischen Regierung unterhält?

Sie sagen: “Auch wenn der Ukrainekrieg und der Krieg im Nahen Osten auf den ersten Blick nicht zusammenhängen, so sind sie durch die globalen Machtstrukturen doch miteinander verknüpft. Das bedeutet, dass wir unsere Anstrengungen, die freie, demokratisch-rechtsstaatliche Ordnung zu verteidigen, noch einmal intensivieren müssen. Das bedeutet auch, dass wir wieder lernen müssen, dass Friedenspolitik vor allem auch Machtpolitik ist und die Fähigkeit zu echter Abschreckung.” Und ich frage Sie: Wissen Sie nicht oder wollen Sie nicht wissen oder haben Sie es vergessen, dass die USA seit dem Zweiten Weltkrieg unvergleichlich viel mehr völkerrechtswidrige Kriege vom Zaun gerissen hat als Russland und allein im Irakkrieg 2003, der von den USA aufgrund einer reinen Lügenpropaganda angezettelt wurde, über eine halbe Million unschuldiger Menschen ihr Leben verloren? Müssten Sie, wenn Sie von “globalen Machtstrukturen” sprechen, nicht ehrlicherweise auch solche Beispiele erwähnen? Und ist Ihnen tatsächlich ernst mit der Behauptung, Friedenspolitik sei vor allem Machtpolitik? Haben Sie aus der Geschichte nichts gelernt? War die reine Machtpolitik, die Politik der Abschreckung, die Durchsetzung des Rechts des Stärkeren nicht stets wieder die Ursache weiterer, oft noch schlimmerer Konflikte und Kriege? Können Sie sich nicht vorstellen, dass man, um Frieden zu schaffen, vor allem bestehende und sich immer wieder neu bildende Gewaltspiralen endlich durchbrechen, eine neue Sprache und ein neues Denken finden müsste?

Sie sagen: “Verantwortung scheint uns immer noch wahnsinnig schwer zu fallen. Selbst wenn Sie heute 20jährige Deutsche fragen, ob sie zur Verteidigung ihres Landes auch mit der Waffe kämpfen würden, stossen Sie meist bloss auf Ablehnung.” Und ich frage Sie: Würden Sie Ihre eigenen Kinder und Kindeskinder gerne in den Krieg schicken? Oder gehören Sie auch zu jenen Menschen, die, wie Erich Maria Remarque einmal schrieb, Krieg zwar befürworten, aber nur, weil sie selber nicht hingehen müssen? Und ist das, was Sie bedauern, nämlich dass die meisten 20jährigen Deutschen keine Lust verspüren, eine Waffe in die Hand zu nehmen, nicht etwas Grossartiges und so etwas wie der Ausdruck davon, dass wahrscheinlich immer mehr Menschen die Illusion aufgegeben haben, zwischenstaatliche Konflikte liessen sich durch Waffengewalt und Krieg sinnvoll lösen?

Sie sagen: “In den Jahrzehnten der Teilung haben sich viele Menschen, die in der DDR lebten, stärker vom Westen bedroht gefühlt als von der Sowjetunion. Eigentlich verrückt, aber so war es.” Und ich frage Sie: Was finden Sie daran so verrückt? Haben Sie sich jemals ernsthaft und vorurteilslos mit der Geschichte der DDR beschäftigt? So schlimm, wie die westliche Propaganda dies immer wieder darzustellen versucht, war das Leben in der DDR wohl nicht. Von vielen sozialen Errungenschaften, die dort selbstverständlich waren, kann eine wachsende Zahl von Menschen in der heutigen Bundesrepublik nur träumen.

Sie sagen: “Ob die Welt der Neutralität noch zur Welt des 21. Jahrhunderts passt, ist eine andere Frage. In einer globalisierten Welt sind alle grossen Herausforderungen kollektiv, nicht nur die Verteidigung. Da kann es im Grunde keine Neutralität mehr geben.” Und ich frage Sie: Was verstehen Sie unter der Welt des 21. Jahrhunderts? Eine Welt, in der Neutralität keinen Platz mehr hat, also nur das kriegerische Gegeneinander von Staaten und Machtblöcken? Kann das unsere Zukunft sein? Sie reden davon, dass in einer globalisierten Welt alle grossen Herausforderungen kollektiv seien. Das stimmt, würde aber logischerweise zur Schlussfolgerung führen, dass alle Völker und Staaten nicht gegeneinander und nicht durch Kriege, sondern nur gemeinsam und durch Frieden diese grossen gemeinsamen Herausforderungen meistern können.

Sie sagen: “Die Zerstörung der ökologischen Lebensgrundlagen schreitet schneller voran, als selbst pessimistische Wissenschaftler vorausgesagt haben. Ich bin immer traurig, wenn ich über die Alpen fliege und und unten kaum noch Weiss sehe.” Und ich frage Sie: Wie können Sie sich da überhaupt noch in ein Flugzeug setzen, wenn Sie das, was Sie dabei selber anrichten, so traurig macht?

Altes und neues Denken. Der Weg ist noch weit. Doch nähern wir uns immer mehr dem Punkt, wo wir uns definitiv entscheiden müssen und es zwischen dem alten und dem neuen Denken kaum noch irgendwelche Kompromisse oder Zwischenwege geben wird. Denn, wie schon Martin Luther King sagte: “Entweder werden wir als Brüder und Schwestern gemeinsam überleben oder aber als Narren miteinander untergehen.”