“Bürgerliche feiern Etappensieg gegen Mindestlöhne” – doch vielleicht haben sie schon zu früh gefeiert…

 

“Bürgerliche feiern Etappensieg gegen Mindestlöhne”, titelt der “Tagesanzeiger” am 16. Dezember 2022. Gemeint ist, dass National- und Ständerat beschlossen haben, in einzelnen Kantone erlassene und durch Volksabstimmungen legitimierte Mindestlöhne zwischen 20 und 23 Franken pro Stunde durch allgemein verbindliche Gesamtarbeitsverträge auszuhebeln. So müssen sich beispielsweise Angestellte im Coiffeurgewerbe, in der Gastronomie, in Tankstellenshops oder in der Uhren- und Mikrotechnikindustrie in den Kantonen Neuenburg, Jura, Genf, Basel-Stadt und Tessin darauf einstellen, Ende des Monats wieder weniger Geld im Portemonnaie zu haben. Zwei Drittel der Betroffenen sind Frauen.

Das ist nicht nur, sozusagen durch die Hintertür, ein Totalangriff auf die Demokratie, hat doch das Bundesgericht unmissverständlich festgehalten, dass Kantone das Recht darauf hätten, Mindestlöhne zu erlassen. Es ist vor allem auch ein Schlag ins Gesicht all jener Menschen, die mit harter Arbeit zu geringem Lohn täglich eine unverzichtbare Leistung zur Aufrechterhaltung unseres Wohlstands erbringen. Auf rund 40 Franken beläuft sich zurzeit der durchschnittliche Stundenlohn in der Schweiz, da sind die 20 oder 22 Franken, die gegenwärtig von einzelnen kantonalen Mindestlohnbestimmungen vorgegeben sind, nicht viel mehr als ein Almosen – von noch tieferen Löhnen in jenen Kantonen, die keine Mindestlohnbestimmung kennen, ganz zu schweigen. Wenn man bedenkt, wie sehr in einer funktionierenden Wirtschaft sämtliche berufliche Tätigkeiten voneinander abhängig und aufeinander angewiesen sind und kein Unternehmen einen Gewinn abwerfen könnte ohne die unermüdliche Arbeit aller seiner Angestellten, dann müsste die Diskussion über Mindestlöhne eigentlich genau in die entgegengesetzte Richtung gehen. Und man müsste sich fragen, ob all das Geld, das aus den Unternehmen in die Taschen von Firmenbesitzern, Managern, Aktionärinnen und Aktionären fliesst, nicht fairerweise in die Taschen der Arbeiterinnen und Arbeiter fliessen müsste, welche alle diese Gewinne überhaupt erst dadurch möglich machen, dass sie für ihre Arbeit so viel weniger verdienen, als ihre Arbeit eigentlich Wert wäre.

Am gleichen Tag, an dem über den Beschluss von National- und Ständerat betreffend Aushebelung kantonaler Mindestlohnvorschriften berichtet wird, ist zu erfahren, dass die schweizerische Uhrenindustrie von einem akuten Arbeitskräftemangel betroffen ist und bis 2026 rund 4000 Fachkräfte fehlen werden. Auch in der Gastronomie, im Gesundheitswesen und in vielen handwerklichen Berufen wie etwa den Spezialistinnen und Spezialisten der Solartechnologie zeichnet sich ein immer akuterer Fachkräftemangel ab. Kann man etwas anderes erwarten in einem Land, wo Menschen durch Erbschaften, Kapitalgewinne und Börsenspekulation weitaus reicher werden als durch ehrliche, harte Arbeit und wo das Gefälle zwischen den höchsten und den tiefsten Einkommen, welches heute schon bei 300:1 liegt, laufend noch weiter zunimmt? 

Heute noch feiern die Bürgerlichen ihren “Etappensieg gegen Mindestlöhne”. Gut möglich, dass sie schon in naher Zukunft bitterlich zur Kenntnis nehmen müssen, dass sie zu früh gefeiert haben – spätestens dann, wenn sie in einem Restaurant sitzen und nicht mehr bedient werden, wenn sie auf ihrem Hausdach eine Solaranlage installieren möchten, aber keine Firma finden, die das in nützlicher Frist bewerkstelligen könnte, wenn sie vergeblich auf ein bestelltes Paket warten, weil es längst nicht mehr genug Postbotinnen und Postboten gibt, wenn ihre kaputte Uhr, ihr kaputtes Auto und ihre Heizung von niemandem mehr repariert wird oder wenn sie sich ihre Haare schneiden lassen möchten, aber vor der verschlossenen Tür ihres Coiffeursalons stehen bleiben, wo jetzt ein Schild hängt, dass man wegen Personalmangels niemanden mehr bedienen könne…