Offensichtlich wäre ihnen lieber, alle würden genau gleich denken…

“An der Israel-Frage”, so Francis Chevenal, seit 2011 Inhaber des Lehrstuhls für Politische Philosophie an der Universität Zürich, im “Tagblatt” vom 14. Oktober 2023, “wird sich der Westen eher spalten als an der Ukraine. Der Westen ist bisher ziemlich geschlossen in der Unterstützung der Ukraine gegen den Aggressor. Aber bei Israel brechen schnell Differenzen auf, das hat in Europa leider eine lange Tradition.”

Ist dem Politphilosophen gänzlich entgangen, dass es auch in Bezug auf die Ukraine, zwar weniger bei den westlichen Regierungen, umso mehr aber in der Bevölkerung höchst unterschiedliche Ansichten gibt? Und wie kann er Russland im Ukrainekonflikt als alleinigen “Aggressor” hinstellen, wo er doch eigentlich wissen müsste, dass Russland durch die Osterweiterung der NATO ganz wesentlich zu diesem Schritt provoziert wurde? Was mich aber noch viel mehr stört, ist das Wort “leider”, das Chevenal in diesem Kontext verwendet. Ich musste zwei Mal hinschauen, aber tatsächlich: Chevenal scheint es zu bedauern, dass es in Europa bezüglich Nahostkonflikt “leider” unterschiedliche Meinungen gäbe. Offensichtlich wäre es ihm viel lieber, es gäbe nur eine einzige Sicht der Dinge, und alle würden ihr ohne Ausnahme folgen.

Doch Chevenal liegt mit dieser Meinung, leider, voll und ganz im Trend. Wie abweichende Meinungen systematisch an den Rand gedrängt, verunglimpft und schliesslich ausgemerzt werden, haben wir jetzt gerade in diesen Tagen wieder hautnah mitverfolgen können, bei der Debatte in der Sicherheitskommission des Nationalrats über die Frage, ob die Hamas verboten werden sollte oder nicht. Anfänglich gab es noch Stimmen, die ein solches Verbot mit der Begründung ablehnten, dadurch würde sich die Schweiz jeglicher Chance berauben, weiterhin mit der Hamas zu verhandeln und auf diesem Weg mögliche Friedensverhandlungen zu initiieren. Diese durchaus vernünftigen und einleuchtenden Stimmen erhielten Unterstützung von namhaften Diplomaten wie Tim Guldimann, der auf eine langjährige Erfahrung im Bereich von Konfliktlösungsstrategien zurückblicken kann, oder von Laurent Goetschel, dem Direktor des Friedensforschungsinstituts Swisspeace, der darauf hinwies, wie wichtig es ist – um in einem Konflikt vermitteln zu können -, bereit zu sein, mit allen Akteuren, die in diesem Konflikt eine wichtige Rolle spielen, zu sprechen. Dessen ungeachtet kippte eine der kritischen Stimmen um die andere, bis am Ende die Kommission den einstimmigen Beschluss fasste, die Hamas verbieten zu wollen. Offensichtlich war der Druck durch die Mehrheitsmeinung und durch die zusätzlich von den Medien hochgepushte Stimmung in der Bevölkerung bereits so gross, dass Widerstand dagegen schlicht und einfach keine Chance mehr gehabt hätte, da hätte man noch so glaubwürdige Argumente ins Spiel bringen können. Besonders deutlich konnte man das beim Umgang der Medien mit SP-Nationalrat Fabian Molina, einem der letzten Verfechter diplomatischer Friedensarbeit, beobachten. Er wurde regelrecht an den Pranger gestellt, als unverbesserlicher “Querulant” und “Palästinenserfreund” oder gar als “Terrorismussympathisant” abgestempelt und niemand nahm sich die Mühe, zur Kenntnis zu nehmen, dass er sich zwar für eine diplomatische Lösung aussprach, gleichzeitig aber auch in aller Unmissverständlichkeit den Angriff der Hamas verurteilte. Die Verabsolutierung einer völlig einseitigen Mehrheitsmeinung hat auch dazu geführt, dass nun, nicht nur in der Schweiz, sondern auch in anderen europäischen Ländern, friedliche Kundgebungen, welche die Autonomie der Palästinenserinnen und Palästinensern fordern, verboten worden sind, während Demonstrationen von Anhängerinnen und Anhängerinnen Israels weiterhin erlaubt sind.

Was für ein Widerspruch! Auf der einen Seite begründen westliche Regierungen ihre ideelle, finanzielle und militärische Unterstützung sowohl der ukrainischen wie auch der israelischen Regierung damit, dass es bei alledem um den weltweiten Kampf für Demokratie und Meinungsfreiheit ginge, und stets ist von der westlichen “Wertegemeinschaft” die Rede, die es gegen antidemokratische und autoritäre Kräfte zu verteidigen gälte. Gleichzeitig aber geht man gegen missliebige und abweichende Stimmen im eigenen Land höchst unzimperlich und undemokratisch vor, gibt dem offenen, von unterschiedlichen Meinungen gebildeten Diskurs kaum eine Chance und setzt alles daran, dass alle möglichst genau gleich denken. Dass dabei genau das, was man zu verteidigen vorgibt, nämlich die Demokratie, nach und nach verloren zu gehen droht, diese zentrale Zukunftsfrage scheint im Getöse zunehmenden Kriegs- und Feindbilddenkens verhängnisvollerweise zunehmend in Vergessenheit zu geraten. Umso wichtiger ist jede einzelne Stimme, die sich dem allgemeinen Strom entgegenstellt, damit dann vielleicht eines Tages in den Zeitungen nicht mehr zu lesen sein wird, dass die Menschen, welche die Demokratie ernst nehmen, “leider”, sondern vielmehr “glücklicherweise” höchst unterschiedliche Gedanken und Meinungen haben.