Die neue Meinungsvielfalt des Tagesanzeigers

Selten habe ich eine so einseitige Berichterstattung gelesen. Auf den ersten fünf Seiten des “Tagesanzeigers” vom 13. Oktober 2023 geht es um den aktuellen Nahostkonflikt, nahezu ausschliesslich alles aus der Sicht Israels und des Westens.

Die Hauptschlagzeile auf Seite 1 lautet: “Westliche Regierungen sichern Israel ihre volle Unterstützung zu.”

Auf Seite 2 erfahren wir, dass die Hamas bei ihrem Angriff “mit ungeahnter Brutalität” vorgegangen sei und “grauenvolle Massaker an Zivilisten” verübt habe. “Wahllos” seien entlang der Grenze zum Gazastreifen Menschen “erschossen und hingerichtet” worden, “ganze Familien” seien “ausgelöscht” worden. Ganz Israel stehe “unter Schock”. Der Überfall der Terroristen sei mit “bestialischer Wucht” ausgeführt worden. Bilder aus den überfallenen Grenzstationen, auf denen “blutüberströmte Leichen” zu sehen sind, seien von der Hamas im Internet “wie Trophäen” präsentiert worden. Immerhin ist auf Seite 2 auch ein Bild von zerstörten Gebäuden in Gaza-Stadt zu sehen, wobei allerdings auf nähere Umstände nicht eingegangen wird.

Auf Seite 3 ist die Rede von israelischen Opfern “mit abgeschlagenen Köpfen” und von Kindern, die “wahllos massakriert” wurden. Sodann wird über eine Fernsehansprache des französischen Staatspräsidenten Macron berichtet. Er hätte von “blindem, mörderischem Hass” der Hamas gesprochen und von Israels Recht, “stark und gerecht zurückzuschlagen”. Doch, so Macron, sei die Reaktion nur dann “gerecht”, wenn “die palästinensische Zivilgesellschaft dabei verschont” bleibe – ohne dass er aber den unauflösbaren Widerspruch zwischen diesen beiden Aussagen erklären würde. Immerhin wird im Artikel kurz darauf hingewiesen, dass sich Frankreich stets für eine Zweistaatenlösung eingesetzt habe, diese aber in den vergangenen zwei Jahrzehnten “stetig verblasst” sei. Dass daran wesentlich auch die unnachgiebige Haltung Israels schuld gewesen ist, wird mit keinem Wort erwähnt.

Die Hauptschlagzeile auf Seite 3 lautet: “Die Suche nach der verlorenen Stärke”, womit gemeint ist, dass Israel mit allen Mitteln die Vorherrschaft in dieser Region des Nahen Ostens wiedererlangen müsse. Es werden israelische Bürgerinnen und Bürger zitiert, denen das “Blut koche” und die eine grosse Wut gegen diese “Barbaren”, “Hunde” und “Raubtiere” verspürten, einer Wut, die nach “Entladung” suche. Zitiert wird ebenfalls Verteidigungsminister Yoav Galant, der damit drohe, die Hamas “vom Erdboden wegzufegen”. Nun könnte man ja, bei so extremen Aussagen, von einem kritischen Leser oder einer kritischen Leserin allenfalls erwarten, dass sie sich nicht nur über die von der Hamas ausgeübte Gewalt empören würden, sondern ebenso auch über solche extreme Aussagen israelischer Hardliner. Jedoch wird das kaum der Fall sein, nachdem die von der Hamas verübte Gewalt so ausführlich und eindringlich geschildert wurde. Die meisten Leserinnen und Leser werden wohl denken: Recht haben sie, wenn sie fordern, in aller Härte und ohne Rücksicht auf Verluste zurückzuschlagen. Die einzige mässigende Stimme auf Seite 3, allerdings nur auf sechs Zeilen, kommt ausgerechnet von US-Aussenminister Blinken, der daran erinnert, dass es neben dem Pfad des Hasses und der Zerstörung noch einen zweiten Pfad gäbe, nämlich den der “Würde für alle, einschliesslich der Palästinenser.”

Die Hauptschlagzeile auf Seite 5 lautet: “Die Kämpfe werden sehr blutig sein”. Die Behauptungen von Chuck Freilich, ehemaligem stellvertretendem Leiter des US-Sicherheitsdienstes, es sei “klar, dass der Iran in den Terrorangriff verwickelt ist” und das Regime in Teheran wolle “einen Mehrfrontenkrieg führen”, werden unwidersprochen abgedruckt, obwohl selbst die israelische Regierung bis heute diese Vorwürfe nicht erhoben hat. Weiter wird Freilich mit dieser Aussage zitiert: “Die Hamas hat diesen Krieg begonnen. Sie hat israelisches Gebiet überrannt. Sie hat bisher 1200 Israelis getötet. Das ist beispiellos in der Geschichte Israels.” Ein grosses Bild oben auf der Seite zeigt Kämpfer der Hizbollah, furchterregend und angsteinflössend, jeweils die gesamte rechte Gesichtshälfte grün geschminkt.

Auf Seite 8 schreibt Alexandra Föderi-Schmid einen Kommentar der Zeitungsredaktion, der Titel: “Ein Land im Schmerz vereint”. Auch hier geht es einzig und allein um die Perspektive aus israelischer Sicht und darum, was Netanyahu tun müsste, um “politisch zu überleben”.

Erst auf Seite 10, eigenartigerweise in der Rubrik “Schweiz”, kommt es endlich zu einem Perspektivenwechsel. Der Titel des Artikels lautet: “Es ist ein grosses Chaos”. Gemeint ist die Situation im Gazastreifen. Hakam Awad, seit 2017 beim Schweizer Hilfswerk Heks als Landesdirektor für Israel/Palästina zuständig, berichtet über die Forderung der UNO und internationaler Hilfsorganisationen nach einem Zugang für humanitäre Hilfe zugunsten der palästinensischen Bevölkerung. Eine Forderung, die bisher erfolglos geblieben sei. Gaza sei komplett abgeriegelt, alle Zugänge seien geschlossen, seit Sonntag gäbe es schwere Luftangriffe, bald werde es keinen Strom mehr geben und damit werde auch die Wasserversorgung nicht mehr funktionieren. Die Spitäler seien komplett überfordert, ihnen fehlten Personal und Material, um alle Verletzten zu versorgen. In den letzten Jahren hätte sich die Situation der Menschen im Gazastreifen zusehends verschlechtert. Eine solche humanitäre Krise, so Awad, hätte er noch nie erlebt. Wenn die Leute per Handy alarmiert würden, dass ein Luftschlag bevorstehe, gingen sie in ein anderes Gebiet. Und dann gäbe es dort wieder eine Warnung. Inzwischen seien 300’000 Menschen aus ihren Häusern vertrieben worden. Ägypten hätte sich bereiterklärt, Kraftstoff zur Erzeugung von Strom zu liefern, doch die israelischen Behörden hätten dies abgelehnt. In der öffentlichen europäischen Debatte stehe nach den schrecklichen Taten der Hamas die Empathie nicht auf Seiten der palästinensischen Bevölkerung. Doch, so Awad: “Wir haben eine Verantwortung. Wir müssen darauf hinweisen, dass dieser Konflikt nicht am vergangenen Wochenende mit dem Angriff der Hamas auf Israel begonnen hat.”

Über fünf Seiten Berichte und Kommentare aus der Sicht Israels und des Westens. Gerade mal drei Viertel Seiten und weitaus weniger prominent platziert ein Artikel, der dann immerhin noch in Erinnerung ruft, dass dieser Konflikt nicht vor wenigen Tagen begann, sondern die ganz logische Folge einer jahrzehntelangen Verarmung, Stigmatisierung und Ausgrenzung von über zwei Millionen Menschen im derzeit “grössten Gefängnis der Welt” ist, wo sich über eine so lange Zeit eben dieses Übermass an Verzweiflung aufstauen konnte, ohne welche eine Organisation wie die Hamas gar nie den Nährboden gehabt hätte, um zu ihrer heutigen Bedeutung heranzuwachsen.

Glücklicherweise gibt es da noch zum Beispiel das Gratisblatt “20Minuten”. Dort konnte man schon am 10. Oktober 2023 Folgendes lesen: “Aufgrund der Ankündigung der israelischen Regierung, die 2,3 Millionen Bewohnerinnen und Bewohner des Gazastreifens von Wasser, Nahrung, Energie und Gas abzuschneiden, ermahnte die UNO Israel, sich an das geltende Völkerrecht zu halten.” UNO-Generalsekretär Guterres und Menschenrechtsorganisationen hätten Israel gewarnt, keine “Kriegsverbrechen” zu begehen. Gemäss der Organisation “Human Rights Watch” stellten die Massnahmen der israelischen Regierung eine unrechtmässige “kollektive Bestrafung” dar und seien, ebenso wie die Angriffe der Hamas-Kämpfer auf Zivilisten, ein “Kriegsverbrechen”. Bereits im Jahre 2020 hätte der UNO-Sonderberichterstatter Michael Lynk Israel vorgeworfen, kollektive Bestrafung anzuwenden und “Verursacher der humanitären Krise” in Gaza zu sein. Israels Politik der kollektiven Bestrafung hätte zu einer “völlig zusammengebrochenen Wirtschaft, einer zerstörten Infrastruktur und einem kaum noch funktionierenden Sozialsystem” geführt. Die Abriegelung des Gazastreifens habe für die dortige Bevölkerung “unermessliches Leid” zur Folge gehabt.

Und am 13. Oktober schreibt “20Minuten” unter dem Titel “Palästinenser trauen sich kaum noch raus”: “Sie haben keinen Strom, kein Wasser, keine Lebensmittel. Augenzeugen berichten nach den Vergeltungsschlägen der israelischen Armee von verzweifelten Szenen vor Ort. Ganze Strassenzüge liegen in Schutt und Asche. Jeder, der sein Haus verlässt, kann jeden Moment bombardiert werden und sterben. Und alle befürchten, dass es noch viel schlimmer wird.”

Zurück zum “Tagesanzeiger”: Im August 2023 teilte die Redaktion des “Tagesanzeigers” Folgendes mit: “Grosse Neuigkeit. Fabio Renz übernimmt ab Mitte September die Leitung des Debattenteils. Mit diesem Schritt möchten wir unsere Diskussionskultur weiter ausbauen und eine Plattform für politische und gesellschaftliche Kontroversen bieten. Unsere Zeitung folgt somit unserer Position als führende Meinungsvielfalt-Publikation. Herzliche Gratulation und viel Erfolg.” Meinungsvielfalt – das habe ich mir, ehrlich gesagt, ein bisschen anders vorgestellt…