Schweizerische Bundespolitik: Und über allem schweben unsichtbar die ungeschriebenen Gesetz der “Freien Marktwirtschaft”

 

“Nur 140 Stimmen hat Alain Berset bei der Wahl zum Bundespräsidenten für das Jahr 2023 bekommen”, schreibt der “Tagesanzeiger” vom 17. Dezember 2022. Zurückzuführen sei dies vor allem darauf, dass er im Innendepartement “nach zehn Jahren bei weitem nicht erreicht hat, was er erreichen wollte – zumindest nicht in den beiden wichtigsten Dossiers, dem Gesundheitswesen und den Sozialversicherungen.”

Dass ein Bundesrat in seinem Departement viel weniger erreicht, als er ursprünglich hätte erreichen wollen, gilt allerdings nicht nur für Alain Berset. Und es ist auch nicht bloss das Unvermögen oder das Versagen dieses Bundesrates oder jener Bundesrätin, wenn wichtige politische Geschäfte über Jahre nicht so richtig vom Fleck kommen. Denn die ungeschriebenen, allesbeherrschenden Kräfte, Mechanismen und Prinzipien der “Freien Marktwirtschaft” – ungebremstes Wirtschaftswachstum, Gewinn- und Profitmaximierung auf Kosten sozial Schwächerer und der Wettbewerb als Massstab aller Dinge – sind so umfassend, wirkungsvoll und mächtig, dass ein einzelner Bundesrat, eine einzelne Bundesrätin im Kampf dagegen noch kleiner und mächtiger ist als der vielbewunderte David im Vergleich zum übermächtigen Goliath.

Nicht nur was Bundesrätinnen und Bundesräte betrifft, sondern ganz generell im politischen Tagesgeschäft ist es üblich, bei sämtlichen ungelösten Problemen dem politischen Gegner die Schuld in die Schuhe zu schieben. Am augenfälligsten zeigt sich dies jeden Freitagabend in der Diskussionsrunde “Arena” am Schweizer Fernsehen, wenn die Vertreterinnen und Vertreter der verschiedenen Parteien gegeneinander die Klingen kreuzen: kein Argument der einen Seite, das nicht sogleich zum Gegenargument der anderen Seite wird oder umgekehrt. Doch dies alles lenkt bloss vom eigentlichen “Hauptschuldigen” ab, dem Machtsystem der kapitalistischen “Freien Marktwirtschaft”, das sozusagen wie eine unsichtbare Gottheit über allem schwebt und auch im heftigsten Geplänkel der irdischen Kontrahentinnen und Kontrahenten nie ernsthaft in Frage gestellt wird.

So gesehen gaukeln die verschiedenen politischen Parteien bloss eine demokratische Vielfalt vor, während sie doch tatsächlich nur einzelne Fraktionen einer grossen kapitalistischen Einheitspartei sind. Betrachten wir die kleineren und grösseren Probleme, die uns heutige beschäftigen, von den steigenden Krankenkassenprämien, Lebenskosten und Wohnungsmieten über die zunehmende Kluft zwischen Arm und Reich bis hin zu der existenziellen Bedrohung durch den Klimawandel, dann scheint es doch auf der Hand zu liegen, dass wir ganz offensichtlich in einem Zug sitzen, der immer schneller in eine falsche Richtung fährt. Solange wir nur an den Symptomen herumbasteln und uns nicht an die eigentlichen Ursachen der Probleme heranwagen, ist das, wie wenn wir in diesem immer schneller fahrenden Zug ein paar Schritte in die entgegengesetzte Richtung machen würden und der Eindruck entstünde, grosse Fortschritte erzielt zu haben – während der Zug dennoch weiterhin unvermindert in die falsche Richtung weiterfährt.

Um beim Bild des fahrenden Zuges zu bleiben: Das Einzige, was wirklich helfen würde, wäre, die Notbremse zu ziehen, alle bisherigen ungeschriebenen Gesetze der “Freien Marktwirtschaft” und alle damit verbundenen Macht- und Ausbeutungsverhältnisse radikal zu hinterfragen, um sodann den Zug in eine neue Richtung lenken zu können, an deren Ende nicht ein Abgrund droht, sondern ein gutes Leben für alle verwirklicht sein wird. Heute noch erscheint uns dies als Illusion jenseits aller politischen Machbarkeit, als naive Träumerei einiger weniger realitätsfremder Weltverbesserer. Doch viel naiver als solche Träumerei ist der Glaube, es soll nur alles weiterhin so bleiben, wie es ist. Denn, wie Albert Einstein sagte: “Probleme kann man niemals mit der gleichen Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind.”