Israel und die Hamas: Eine Gewaltspirale ohne Ende

“Mit dem barbarischen Terrorangriff auf Israel am Samstag”, so schreibt das “Tagblatt” vom 9. Oktober 2023, “hat die palästinensische Hamas deutlich ihr Gesicht gezeigt. Ihr Ziel: So viel Leid unter Israelis verursachen wie nur möglich. Die Terroristen massakrierten Zivilisten, nahmen Familien mit kleinen Kindern als Geiseln und schleppten tote Frauen wie Trophäen zurück nach Gaza.” So und ähnlich berichten die westlichen Medien seit drei Tagen über den Angriff der Hamas auf Israel, dem inzwischen bereits Hunderte von Menschen zum Opfer gefallen sind. Dementsprechend klar, eindeutig und unmissverständlich auch die öffentliche Meinung in der westlichen Welt: Mit dem Überfall auf Israel hat die Hamas einen beispiellosen kriegerischen Akt begangen, der durch nichts zu erklären und schon durch gar nichts auch nur im Entferntesten zu rechtfertigen ist.

Gewiss, Krieg ist nie zu rechtfertigen, ist immer und ohne Ausnahme ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Und doch müsste man eigentlich schon längst wissen, dass noch nie ein Krieg einfach so über Nacht vom Himmel gefallen ist. Jeder Krieg hat eine Vorgeschichte. Und kein Krieg lässt sich verstehen, wenn man nicht auch diese Vorgeschichte zu verstehen versucht.

Diese Vorgeschichte, das ist der seit 75 Jahren ungelöste Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern, diese historische Tragödie, dass sich die jüdische und die arabische Bevölkerung gegenseitig um den gleichen Flecken Erde streiten und es während einer so langen Zeit, trotz wiederholter Friedensbemühungen, nicht gelungen ist, entweder in Form eines gemeinsamen Staats oder in Form zweier eigenständiger Staaten eine Lösung zu finden, mit der beide Seiten leben und sich friedlich vertragen könnten.

Als “Gefängnis unter freiem Himmel” – so die “Ärzte der Welt” auf ihrer Internetseite – bezeichnen viele Bewohnerinnen und Bewohner des Gazastreifens ihre Heimat, denn es ist einzig und allein die israelische Regierung, die entscheidet, wer ein- und ausreisen darf. Auf nur 365 Quadratkilometern, weniger als die Hälfte Hamburgs, leben rund zwei Millionen Menschen, über die Hälfte von ihnen Kinder. In den nun mehr als 16 Jahren, seit Israel seine Blockade zu Land, See und Luft begann, hat sich die Situation kontinuierlich verschärft. Es mangelt an allem: Nahrungsmitteln, Medikamenten und Dingen des täglichen Bedarfs. Viele Menschen haben keinen ausreichenden Zugang zu sauberem Trinkwasser. Strom gibt es nur an wenigen Stunden pro Tag. Rund die Hälfte der Bevölkerung ist arbeitslos, mehr als 60 Prozent sind auf Hilfsgüter angewiesen. Auch medizinisches Fachpersonal ist rar und Möglichkeiten zur Weiterbildung sind kaum vorhanden. Viele Krankheiten, zum Beispiel Brustkrebs, können im Gazastreifen nicht mehr behandelt werden. Überweisungen nach Jerusalem oder Ägypten werden von den israelischen Behörden oft zu spät oder überhaupt nicht bewilligt, dies kann für die Betroffenen tödlich enden.

Der bekannte schweizerische Nahostexperte Erich Gysling sprach in einem Interview mit dem “Tagblatt” vom 22. Mai 2021 im Zusammenhang mit dem Gazastreifen von einer “katastrophalen Situation” und fügte hinzu: “Ohne Lösung dieses Grundproblems ist ein Frieden im Nahen Osten nicht möglich.” Wenn das Problem nicht von Grund auf gelöst werde, würden sich die Spannungen immer wieder neu aufbauen und: “Irgendwann kommt die nächste Explosion.” Wie Recht er hatte!

Zu Recht empört sich die Weltöffentlichkeit in diesen Tagen über die von der Hamas verübte Gewalt. Aber weshalb hat sie sich nicht ebenso vehement über die Gewalt empört, welche der palästinensischen Bevölkerung durch die israelische Besatzungsmacht seit 75 Jahren angetan wird, über die Enteignungen von palästinensischen Hausbesitzern in Ostjerusalem, über den völkerrechtswidrigen Ausbau jüdischer Siedlungen im palästinensischen Westjordanland und über die dem Gazastreifen aufgezwungene Blockade, unter der vor allem die Ärmsten der Armen und insbesondere die Kinder am allermeisten zu leiden haben? Dass eine Organisation wie die Hamas, die gewiss nicht über alle Zweifel erhaben ist und mit ihren politischen Gegnern alles andere als zimperlich umgeht, zu solchem Einfluss und zu solcher Macht gelangen konnte, ist ja vor allem eine Folge davon, dass sich in einer so zutiefst gedemütigten und verzweifelten Bevölkerung kaum funktionierende demokratische Strukturen aufbauen lassen.

Schon jetzt herrscht auch von Seiten der israelischen Regierung nichts anderes als die Sprache der nackten Gewalt: Dass man die Blockaden weiter verschärfen, die Nahrungsmittelzufuhr in den Gazastreifen abschneiden und den Strom abstellen werde, um den Aufstand in die Knie zu zwingen. Und die EU hat soeben beschlossen, sämtliche Zahlungen an die Palästinenser – 700 Millionen Dollar pro Jahr – auszusetzen. Einmal mehr trifft es die, denen es jetzt schon am schlechtesten geht. “Zweifellos”, so Erich Gysling am 8. Oktober 2023, “wird Israel auch diese Auseinandersetzung mit massivem Einsatz von Gewalt gewinnen. Am Ende wird man wieder dort sein, wo man bereits vor Jahrzehnten war. Eine Lösung kann es nur geben, wenn beide Seiten Zugeständnisse machen. Sonst wird sich die Gewaltspirale immer weiterdrehen.”