Der Krieg in der Ukraine: Blindwütige gegenseitige Zerstörung oder Kipppunkt in eine neue Zeit?

 

Kann man sich etwas Sinnloseres vorstellen? Je mehr Waffen die eine Seite in die Schlacht wirft, umso mehr Waffen muss die andere Seite in die Schlacht werfen. Jeder Panzer und jede Rakete auf der einen Seite der Front schreit nach einem zusätzlichen Panzer und einer zusätzlichen Rakete auf der anderen Seite der Front. Je mehr Zerstörungen die eine Seite anrichtet, umso mehr Zerstörungen muss die andere Seite anrichten. Je mehr Menschen auf der einen Seite verletzt werden oder sterben, umso mehr Menschen werden auf der anderen Seite verletzt oder müssen sterben. Etwas Dümmeres und Selbstzerstörerisches kann man sich nicht vorstellen. “Jede Kanone, die gebaut wird”, sagte der ehemalige US-Präsident Dwight D. Eisenhower, “jedes Kriegsschiff, das vom Stapel gelassen wird, jede abgefeuerte Rakete bedeutet letztlich einen Diebstahl an denen, die nichts zu essen haben, frieren und keine Kleidung besitzen. Eine Welt unter Waffen verpulvert nicht nur Geld allein. Sie verpulvert auch den Schweiss ihrer Arbeiter, den Geist ihrer Wissenschaftler und die Hoffnung ihrer Kinder.”

Lauthals ging es bei der Ramstein-Konferenz vom 20. Januar 2023, an der rund 50 westliche Verteidigungsminister teilnahmen, um die Lieferung zusätzlicher Panzer an die Ukraine. Eine völlig abstrakte Diskussion fernab jeder Realität auf dem Schlachtfeld. Denn so berauschend die Bilder von Panzern, die in hohem Tempo auch schwierigstes Gelände durchjagen, auch sein mögen: Das ist nur die eine Seite der Wirklichkeit. Die andere Seite, das sind zerschossene Wohnhäuser, vor denen in klirrender Kälte jene Menschen kauern, die zuvor in diesen Häusern gelebt haben. Der Soldat, der sich mit zerfetztem Bein im knietiefen Schlamm wälzt, keine Kraft mehr hat, seine Kollegen um Hilfe zu rufen, und in Todesangst feindliche Soldaten auf sich zurasen sieht. Die Kinder, deren Schulen und Spielplätze dem Erdboden gleichgemacht wurden und die am gleichen Tag die Nachricht erhalten haben, ihre Väter seien an der Front ums Leben gekommen.

Kein einziger der feinen Herren im Anzug und mit Krawatte, die an der Ramstein-Konferenz teilnahmen, weder der US-Verteidigungsminister Austin noch der ukrainische Verteidigungsminister Resnikow, und schon gar nicht Joe Biden oder Wolodomyr Selenski werden jemals selber in einen jener Panzer steigen, deren Lieferung sie so lautstark fordern, und sich ins Schlachtgetümmel stürzen. “Ich dachte immer”, schrieb der deutsche Schriftsteller Erich Maria Remarque zur Zeit des Ersten Weltkriegs, “jeder Mensch sei gegen den Krieg. Bis ich herausfand, dass es welche gibt, die dafür sind, besonders die, die nicht hingehen müssen.”

Meine Vision: Die Ukraine und Russland hören auf, das umstrittene Land in der Ostukraine zu zerstören, das sie angeblich so lieben. Stattdessen bauen sie es gemeinsam wieder auf. als Brüder. Und sie lassen die dort lebenden Menschen frei darüber entscheiden, ob sie zur Ukraine oder zu Russland gehören oder eine eigene, unabhängige Republik bilden möchten. Sowohl die Ukraine wie auch Russland könnten dabei nur gewinnen, höchstes weltweites Ansehen, das Leben ihrer Landsleute und ihrer Nachbarn, ein Leben in Frieden und Wohlstand für alle. Nicht eine wachsende Zahl von Waffen sollte der Westen liefern, sondern das Knowhow und das Prestige seiner besten und fähigsten Diplomatinnen und Diplomaten, um den Kriegsparteien eine Plattform zu bieten, auf der sie zu einer Einigung finden könnten, ohne dass die eine oder die andere Seite dabei ihr Gesicht verlieren müsste.

In der Parabel des Kaukasischen Kreidekreises von Bertolt Brecht streiten sich eine Gouverneurin und ihre Magd . Beide behaupten, die wahre Mutter des Kindes zu sein. Mit Kreide zieht der Richter einen Kreis und stellt das Kind in die Mitte. Wem es gelingen würde, das Kind auf seine Seite zu ziehen, so der Richter, soll als wahre Mutter des Kindes anerkannt sein. So ziehen die beiden Frauen am Kind, jede an einem Arm. Als das Kind vor Schmerzen zu weinen beginnt, lässt die Magd es los. Die Gouverneurin frohlockt und wähnt sich schon als wahre Mutter. Doch der Richter spricht das Kind dennoch der Mutter zu, die bewiesen hätte, dass ihre Liebe zum Kind stärker ist als der Wunsch, es um alles in der Welt zu besitzen. Eine Geschichte, die uns hoffnungsvoll in eine Zukunft blicken lässt, in der die Liebe und die Sorge um das Wohl anderer die weit höheren und bestimmenderen Werte sein werden als Habgier, Gewalt und Eroberungslust. Der Krieg in der Ukraine hat uns in eine finstere Vergangenheit zurückgeworfen und lässt uns noch einmal alle Fehler begehen, die wir schon tausendmal begangen haben. Er könnte aber auch zu einem Kipppunkt werden, in der die alte Zeit in eine neue Zeit umschlägt, in der so etwas wie Kriege und blindwütige gegenseitige Zerstörung für immer der Vergangenheit angehören. Das liegt nicht nur an Putin, Selenski, Scholz und Biden. Es liegt an uns allen.