Serbien: Auf der falschen Seite der Geschichte?

  

Zähneknirschend, so berichtet das schweizerische “Tagblatt” vom 25. Januar 2023, gibt der serbische Präsident Aleksandar Vucic bekannt, dem von der EU diktierten “Kosovoplan” zuzustimmen, wonach Serbien und der Kosovo zwar einander nicht formell anerkennen, jedoch ihre staatliche Existenz in den gegenwärtigen Grenzen akzeptieren, was unter anderem zur Folge hat, dass Serbien die Mitgliedschaft des Kosovos in internationalen Organisationen nicht mehr verhindern kann.

Der “Kosovoplan” mag zwar ein taugliches Instrument sein, um die Spannungen zwischen Serbien und dem Kosovo abzubauen. Fragwürdig ist und bleibt aber die Art und Weise, wie dieser Plan Serbien gegenüber vom Westen aufgezwungen wird, ein Vorgehen, bei dem man schon fast von Erpressung sprechen müsste, haben die westlichen Staaten doch gedroht, sämtliche Handelsbeziehungen mit Serbien abzubrechen, wenn es dem Plan nicht zustimme. “Dabei”, so Vucic, “kann es für uns keine schlimmeren Sanktionen als den Rückzug der ausländischen Investitionen geben.” Und weiter: “Beide Seiten müssen Zugeständnisse machen, das haben wir verstanden. Aber das Problem ist, dass die andere Seite alles tun kann, was sie will, und dafür noch vom Westen belohnt wird.”

Serbien bezahlt jetzt bitter dafür, dass Präsident Vucic bisher einen Mittelkurs gefahren hat und sowohl freundschaftliche Beziehungen zu Russland gepflegt hat wie auch zum Westen. Dies lässt sich in der aktuell aufgeheizten und polarisierten Stimmung im Zuge des Ukrainekriegs offensichtlich nicht mehr aufrechterhalten. Entweder gehört man zu den “Guten” oder zu den “Bösen”, nichts dazwischen. Egal, ob Vucic sich mehr nach Osten oder mehr nach Westen ausrichten möchte, stets ist er auf der falschen Seite der Geschichte. Dabei wären doch Staaten, die anstelle gegenseitiger Konfrontation Brücken zwischen den verfeindeten Lagern bauen möchten, gerade angesichts der heutigen globalen Spannungen dringender nötig denn je.

Doch Serbien steht nicht zum ersten Mal auf der falschen Seite der Geschichte. Schon am 24. März 1999 wurde es zum Opfer westlicher Machtpolitik, als die Nato das Land zu bombardieren begann mit der Begründung, Serbien hätte dem Vertrag von Rambouillet, der den Konflikt zwischen serbischen Sicherheitsbehörden und der kosovarischen Befreiungsarmee UCK hätte beenden sollen, nicht zugestimmt. Tatsächlich war der Vertrag von Rambouillet aber sowohl am Widerstand der Serben wie auch an jenem der UCK gescheitert. “Der Rambouillettext”, so der frühere US-Aussenminister Henry Kissinger, “war ein ungeheuerliches diplomatisches Dokument, das niemals in dieser Form hätte präsentiert werden dürfen. Kein Serbe mit Verstand hätte Rambouillet akzeptieren können.” Weil nämlich, so Kissinger, dieses Dokument den Durchmarsch von Nato-Truppen durch Serbien genehmigt hätte und eigentlich bloss dem Westen als Vorwand dafür gedient hätte, Serbien bombardieren zu können. Die am 24. März 1999 von der Nato begonnene Militäroperation war der erste Krieg, den die Nato sowohl ausserhalb des Bündnisfalls, als auch ohne ausdrückliches UN-Mandat führte und  der daher bis heute unter dem Aspekt des internationalen Völkerrechts höchst umstritten ist.

An diesem 24. März 1999 also schlug die Nato mit 200 Flugzeugen und 50 Lenkwaffen zu. Nachdem zuerst nur militärische Ziele ausgewählt worden waren, erfolgte in einer zweiten Phase die Ausweitung auf die zivile Infrastruktur, zahlreiche Wohngebäude, Schulen, Krankenhäuser, Fernsehstationen und Brücken wurden zerstört. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch geht davon aus, dass die Militäroperation der Nato den Tod von rund 500 Zivilpersonen verursacht hat. Von der US Air Force und der Royal Air Force wurden auch die später international geächteten Streubomben eingesetzt, zahllose Blindgänger stellen bis heute eine erhebliche Gefahr für die Zivilbevölkerung dar. Ebenfalls beschossen wurden zahlreiche Chemieanlagen, Mediziner machen die dabei freigesetzten, enormen Mengen an Schadstoffen sowie die verwendete Uranmunition dafür verantwortlich, dass Serbien heute die höchste Rate von Lungenkrebs in Europa aufweist.

Das Beispiel Serbien zeigt, wie weit wir immer noch von einer Welt entfernt sind, in der Demokratie und Selbstbestimmung nicht nur für jene Gültigkeit haben, die auf der “richtigen” Seite der Geschichte stehen. Das Recht scheint nach wie vor stets nur das Recht der Starken und Mächtigen zu sein. Je nachdem, auf welcher Seite der Geschichte man steht, erlebt man demzufolge dann auch die Welt sehr unterschiedlich. Man braucht die Augen vor der komplexen Geschichte ethnischer Spannungen auf dem Gebiet des früheren Staates Jugoslawien keineswegs zu verschliessen. Aber wenn man sich auch nur ein klein wenig in die Gefühlslage der Serbinnen und Serben hineinzuversetzen versucht, dann werden wohl die Nato-Militäroperation vom 24. März bis 10. Juni 1999 und die aktuelle Erpressungspolitik durch den Westen tiefe Wunden hinterlassen, die nicht so schnell verheilen werden…

(Quellen: “Tagblatt” 25.1.23; Wikipedia)  

„Der Rambouillet-Text, der Serbien dazu aufrief, den Durchmarsch von NATO-Truppen durch Jugoslawien zu genehmigen, war eine Provokation, eine Entschuldigung dafür, mit den Bombardierungen beginnen zu können. Kein Serbe mit Verstand hätte Rambouillet akzeptieren können. Es war ein ungeheuerliches diplomatisches Dokument, das niemals in dieser Form hätte präsentiert werden dürfen. […] Die Serben haben sich vielleicht in der Bekämpfung des KLA- (UÇK-)Terrors barbarisch verhalten. Jedoch wurden 80 % der Brüche des Waffenstillstandes, zwischen Oktober und Februar, von der KLA begangen. Es war kein Krieg der ethnischen Säuberung zu dieser Zeit. Wenn wir die Lage korrekt analysiert hätten, hätten wir versucht den Waffenstillstand zu unterstützen und nicht die ganze Schuld auf die Serben geschoben.“

 Henry Kissinger[21]