Plädoyer für eine Welt, in der so etwas Absurdes wie Kriege für immer der Vergangenheit angehören

 

Unglaublich, wie hartnäckig sich weiterhin der Mythos am Leben erhält, wonach die Ukraine ein mustergültiges, demokratisches Land sei und sozusagen den Vorpfosten bilde des demokratisch-freiheitlichen Westens im Kampf gegen das autokratische russische “Reich des Bösen”. Dieser Mythos beherrscht wohl nur deshalb den öffentlichen Diskurs, weil Fakten, welches dieses Bild in Frage stellen könnten, in den westlichen Medien systematisch unterdrückt werden.

Die Tatsache zum Beispiel, dass die Ukraine eines der korruptesten Länder der Welt ist. Die Tatsache, dass das Europäische Komitee zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe schon mehrfach die Haftbedingungen in ukrainischen Gefängnissen, wo Foltermethoden an der Tagesordnung sind, kritisiert hat. Die Tatsache, dass – gemäss Amnesty International – ukrainische Regierungssoldaten und insbesondere das berüchtigte Asowregiment seit 2014 schwerste Menschenrechtsverletzungen in der Ostukraine begangen haben. Die Tatsache, dass seit dem 2019 erlassenen ukrainischen Sprachengesetz die Verwendung der russischen Sprache in der öffentlichen Verwaltung, den Schulen und an den Universitäten untersagt ist. Die Tatsache, dass sämtliche Werke russischer Schriftstellerinnen und Schriftsteller aus den ukrainischen Bibliotheken entfernt wurden und Musikstücke russischer Komponistinnen und Komponisten nicht mehr öffentlich aufgeführt werden dürfen. Die Tatsache, dass oppositionelle politische Parteien, Zeitungen und Fernsehstationen verboten und Gewerkschaftsrechte massiv eingeschränkt worden sind. Die Tatsache, dass ukrainische Bürgerinnen und Bürger, die sich gegenüber der Regierung kritisch äussern, auf öffentlichen Plätzen an Laternenpfähle festgebunden und vor den Augen der Passantinnen und Passantinnen verprügelt werden. Die Tatsache, dass selbst Bürgerinnen und Bürger anderer Länder, die unliebsame Aussagen machen, ins Visier der ukrainischen Staatsbehörden geraten, so zum Beispiel der deutsche SPD-Politiker Rolf Mützenich, der sich für einen Waffenstillstand zwischen Russland und der Ukraine aussprach und deshalb auf einer staatlichen Terrorliste landete.

Grundsätzlich sind drei mögliche Positionen gegenüber dem Ukrainekonflikt denkbar. Die erste besteht darin, die alleinige Schuld dem russischen “Aggressor” und insbesondere Wladimir Putin in die Schuhe zu schieben, der sozusagen aus heiterem Himmel in eklatanter Verletzung des internationalen Völkerrechts am 23. Februar 2022 ein friedliches, demokratisches und wehrloses Land überfallen habe und dem es um nichts anderes gehe, als kaltblütig und ohne Rücksicht auf menschliche Opfer sein Herrschaftsgebiet auszudehnen, so wie das blutrünstige Diktatoren im Laufe der Geschichte immer wieder getan hätten. Es ist dieses Bild, das in den allermeisten westlichen Medien vorherrscht und auch als Argument dient, um die Ukraine mit immer mehr Waffen zu beliefern, um damit den heldenhaften Verteidigungskampf des kleinen David gegen den übermächtigen Goliath zu unterstützen.

Die zweite Position ist genau das Gegenteil. Sie sieht das “Böse” nicht primär bei Russland und Putin, sondern bei den USA, der Nato und einer ukrainischen Regierung, die sich in die Macht- und Expansionspolitik des Westens einspannen lasse. Aus dieser Sicht bilden die Nato-Osterweiterung, die seit dem Zerfall der Sowjetunion systematisch vorangetrieben wurde, die Ausbildung und Aufrüstung der ukrainischen Armee durch die USA seit 2014, die vom ukrainischen Militär begangenen Menschenrechtsverletzungen im Donbass, die Diskriminierung der russischsprachigen Bevölkerungsminderheit sowie der mutmasslich von der CIA gesteuerte Regierungsputsch auf dem Maidan anfangs 2014 die entscheidenden Ursachen für den Angriff Russland im Februar 2022. Anhängerinnen und Anhänger dieser Sichtweise erinnern auch immer wieder daran, dass Putin noch im Dezember 2021 den USA Gespräche zum zukünftigen Status der Ukraine vorgeschlagen hatte, was aber von der US-Regierung ohne nähere Begründung verworfen wurde.

Die dritte Position geht davon aus, dass die “Wahrheit” möglicherweise nicht zur Gänze nur auf der einen oder anderen Seite liegen könnte. Sie geht davon aus, dass sowohl Russland wie auch der Westen einen wesentlichen Anteil am Ausbruch dieses Konflikts und seiner weiterführenden Eskalation haben. Sind die beiden ersten Positionen von reinem Schwarzweissdenken und einer Haltung des “Ich bin im Recht, der andere ist im Unrecht” oder “Der eine ist der Gute, der andere ist der Böse” geprägt, so versucht die dritte Position, dieses Freundfeinddenken zu durchbrechen, hinter die gängigen Feindbilder zu schauen, die herrschenden Fronten aufzubrechen, das Gespräch, dort, wo es verstummt ist, wieder ins Leben zu rufen. Und noch etwas zeichnet diese dritte Position aus: Sie klammert sich nicht so sehr an die Vergangenheit und an die Fixierung auf Fehler, die gemacht worden sind, sondern auf die Zukunft: Sie fragt nicht, ob der Konflikt erst 2014 begonnen hat oder vielleicht schon 1991 oder möglicherweise noch früher – was dann stets wieder andere Begründungen und Erklärungsmuster zur Folge hat. Nein, sie fragt vielmehr, wie die Koexistenz Russlands und der Ukraine, das Verhältnis zwischen Osten und Westen, das Leben und die politischen Verhältnisse in den ostukrainischen Dörfern und Städten im Jahre 2024 aussehen könnte, um für alle Menschen, unabhängig von Sprache und nationaler Zugehörigkeit, ein gutes Leben in Sicherheit, Wohlstand und Frieden möglich zu machen. “Mehr als die Vergangenheit”, sagte Albert Einstein, “interessiert mich die Zukunft, denn in ihr gedenke ich zu leben.”

Dieses Einstehen für die Zukunft mmüsste in der politischen Diskussion im Vordergrund stehen. Visionen, wie die Welt in fünf, zehn oder zwanzig Jahren aussehen müsste, um gut zu sein für alle Menschen und nicht bloss für diejenigen, die auf der “falschen” oder “richtigen” Seite stehen. Eine Welt, in der so etwas Absurdes wie Kriege für immer der Vergangenheit angehören. Dazu ist eine radikale Revolution unumgänglich, nicht im bewaffneten Kampf zwischen vermeintlich “Guten” und vermeintlich “Schlechten”, sondern auch in unserem Denken, in unseren Köpfen. Denn, wie Albert Einstein sagte: “Probleme kann man niemals mit der gleichen Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind.” Eigentlich ist das doch etwas so Einfaches und Logisches, dass man sich nur wundern kann, dass es nicht schon längst geschehen ist.