Die Schweiz und der Ukrainekonflikt: Noch wie war Neutralität so wichtig wie heute…

 

Scheibchen um Scheibchen, Rad um Rad: Nachdem bisher für die Schweiz die Regelung gegolten hatte, keine Waffen an kriegsführende Staaten zu liefern, zeichnet sich nun im Ständerat und im Nationalrat eine Mehrheit ab, welche die Lieferung von Waffen schweizerischer Herkunft aus Ländern wie Deutschland oder Schweden an die Ukraine ermöglichen soll. Eine überaus scheinheilige Umgehung des schweizerischen Neutralitätsprinzips, etwas, was Sandro Brotz, Moderator der “Arena” am Schweizer Fernsehen vom 3. Februar 2023, zu recht als “Buebetrickli” bezeichnete. Denn indirekte Lieferungen und Umgehungsgeschäfte sind nicht grundsätzlich etwas anderes, als wenn man die Waffen gleich direkt an den Bestimmungsort liefern würde. Selbst die SP hat nun auf diese Linie eingeschwenkt, nur die Grünen halten kompromisslos daran fest, keine Waffen in Kriegsgebiete zu liefern, auch nicht mittels Umweg über andere Staaten. 

Doch die Kernfrage ist nicht jene zwischen mehr oder weniger Waffen. Die eigentliche Kernfrage ist die zwischen Krieg und Frieden. Denn Waffen dienen stets nur einzig und allein dem Zweck, Kriege unnötig und sinnlos in die Länge zu ziehen. Selbst die vermeintlichen Sieger sind am Ende Verlierer, es gibt im Krieg keine Gewinner, jeden Krieg verlieren die, welche den Krieg führen, an jedem einzelnen Tag ein bisschen mehr, durch jeden Soldaten, der sein Leben verliert, durch jedes Haus, das dem Boden gleichgemacht wird, durch alle Felder, die vernichtet werden, durch alle Frauen und Kinder, die alleine und schutzlos zurückbleiben. Als neutrales Land hätte die Schweiz die einmalige Chance, nicht in den europaweiten, immer lauter werdenden Chor der Kriegstreiber und Waffenlieferanten einzustimmen, sondern sich stark zu machen für den Frieden, jene Rolle also einzunehmen, welche alle anderen tragischerweise schon längst aufgegeben haben. 

Wenig beachtet, aber umso bemerkenswerter hat in diesen Tagen der brasilianische Präsident Lula da Silva eine vielversprechende Friedensinitiative ergriffen, in welche er nebst Brasilien auch China, Indonesien, Südafrika und Indien einbinden möchte, Länder, die zusammen immerhin weit mehr als einen Drittel der gesamten Weltbevölkerung repräsentieren. Alle diese Länder haben zwar den russischen Angriffskrieg klar verurteilt, aber keine Sanktionen ergriffen und sich auch nicht an Waffenlieferungen beteiligt. Was für ein Vorbild! Länder des Südens und des Ostens, die oft genug schmerzvoll und über genug lange Zeit unter Besserwisserei und Belehrungen kolonialistischer Grossmächte gelitten haben und nun mutig einen möglichen Ausweg zeigen aus einem Konflikt, in den sich zwei Länder der nördlichen Hemisphäre auf heillose und höchst gefährliche Weise verbissen haben.  

Und ja: Weshalb beteiligt sich die Schweiz nicht an diesem Friedensprojekt? Mehr als jedes andere Land wäre sie dafür prädestiniert. Die Neutralität darf auf keinen Fall etwas sein, was jetzt unter immer stärkerem internationalen Druck so langsam zerbröckelt und zwischen unseren Fingern zerrinnt. Nein, im Gegenteil: Noch nie war Neutralität so wichtig wie heute. “Lieber hundert Stunden lang verhandeln”, sagte der frühere deutsche Bundeskanzler Helmut Schmidt, “als eine Minute lang schiessen”. Es gibt schon genug andere Länder, die Waffen liefern, da muss nicht die Schweiz auch noch Waffen liefern und weiteres Öl ins Feuer giessen. Die Schweiz hat etwas Besseres zu bieten als Panzer, Artillerie und Raketen. Sie hat die Kunst des Verhandelns und der Diplomatie anzubieten, das facettenreiche Suchen nach innovativen Lösungen, bei denen die unterschiedlichen Interessen der Konfliktpartner konstruktiv eingebunden werden. Ist die Schweiz nicht stets so stolz auf ihre Eigenständigkeit und Unabhängigkeit, darauf, der EU nicht anzugehören und mit möglichst vielen Ländern gute Beziehungen zu pflegen? Jetzt wäre der Moment gekommen, diesen Weg der Eigenständigkeit und Unabhängigkeit mutiger und entschiedener zu gehen denn je, auch und wenn gerade der allgemeine Wind total in die andere Richtung bläst. 

“Dieser Krieg”, schreibt die “Berliner Zeitung” am 2. Februar 2023, “wird nur durch eine diplomatische Lösung beendet werden. Dabei wird keine Seite Maximalforderungen durchsetzen können. Es wird aller Voraussicht nach am Ende eine neutrale Ukraine geben, die nicht eindeutig dem westlichen oder russischen Einflussgebiet zufällt. Jede andere durchsetzbare Option ist schlechter, weil sie entweder einen jahrelangen und verlustreichen Abnützungskrieg oder aber eine militärische Eskalation mit Russland zur Folge hätte. Wenn mithin am Ende eines langen oder weiter eskalierenden Krieges das gleiche Ergebnis herauskommt, das auch heute bereits möglich wäre, dann ergibt es keinen Sinn, immer weiterzukämpfen mit zehntausenden Toten und traumatisierten Menschen. Warum also nicht die Chancen auslosten, die Lulas Initiative bieten könnte?”