Höchst fadenscheinige Argumente gegen das von Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht lancierte “Manifest für Frieden”

 

Es ist schon erstaunlich, mit was für Argumenten der von Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht lancierte und mittlerweile von einer halben Million Menschen unterzeichnete Aufruf für Friedensverhandlungen zwischen Russland und der Ukraine bekämpft wird. So schreibt zum Beispiel Stephan Israel, Korrespondent des “Tagesanzeigers”, am 16. Februar 2023, dieser Friedensappell blende die Tatsache aus, dass “Putin gar keinen Frieden will”. Weiter stellt er in Frage, ob Kompromisse überhaupt möglich seien, wenn “ein Land ein anderes grundlos überfällt”. Viel zu salopp zudem sei die Forderung nach einem “für beide Seiten gesichtswahrenden Kompromiss”. Es könne doch nicht angehen, dass “die Ukraine auf 20 Prozent ihres Territoriums verzichten müsste”. Überhaupt sei die ganze Debatte dadurch gekennzeichnet, dass “die Ukrainerinnen und Ukrainer darin kaum vorkommen”. Auch würden die Friedensappelle ausser Acht lassen, dass es schliesslich nicht nur um die “Existenz der Ukraine” ginge, sondern auch um die “Stabilität des ganzen europäischen Kontinents”. Und schliesslich zieht Israel einen Vergleich mit dem Zweiten Weltkrieg: Da sei auch niemand auf die Idee gekommen, Churchill zu Verhandlungen mit Hitler aufzufordern. 

Putin wolle keinen Frieden? Stephan Israel scheint entgangen zu sein, dass Putin noch im Dezember 2021 der amerikanischen Regierung eine diplomatische Lösung des Ukrainekonflikts vorschlug, was aber von der US-Administration ohne nähere Begründung verworfen wurde. Zudem waren Russland und die Ukraine anfangs März einer unter der Vermittlung des israelischen Premierministers Bennett ausgehandelten Friedenslösung ganz nahe – dass sie schliesslich scheiterte, lag an der Intervention der USA und Grossbritanniens.

Putin habe die Ukraine “grundlos” überfallen? Auch in diesem Punkt scheint dem Journalisten des “Tagesanzeigers” ganz Wesentliches entgangen zu sein. Obwohl nämlich führende westliche Politiker nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 zugesichert hatten, die NATO nicht weiter nach Osten auszudehnen, kamen in der Folge nach und nach 14 osteuropäische Länder zur NATO. Auch die Ukraine erhielt 2008 eine Beitrittsperspektive, die Zusammenarbeit zwischen NATO-Truppen und ukrainischen Truppen wurde intensiviert und militärische Einrichtungen wurden ausgebaut. Zudem wurden in mehreren NATO-Staaten Raketensysteme stationiert, mit denen auch Marschflugkörper abgeschossen werden können, welche in kurzer Zeit Russland erreichen können. An warnenden Stimmen vor dieser Entwicklung fehlte es nicht. So hatte bereits 1997 der US-Historiker George F. Kennan gesagt: “Die Entscheidung, die NATO bis zu den Grenzen Russlands zu erweitern, ist der verhängnisvollste Fehler und wird die russische Aussenpolitik in eine Richtung zwingen, die uns entschieden missfallen wird.” Im gleichen Jahr sagte Joe Biden, damals US-Senator: “Das Einzige, was Russland zu einer heftigen Reaktion provozieren kann, ist die Erweiterung der NATO auf die baltischen Staaten.” Und die ehemalige deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel meinte 2008: “Wenn die Ukraine Teil der NATO wird, dann bedeutet dies aus der Perspektive Russlands eine Kriegserklärung.” Was die NATO-Osterweiterung bis hin zur Ukraine aus der Sicht Russlands bedeutet, kann man sich vor Augen führen, wenn man sich vorstellt, dass Mexiko und Kanada einem Militärbündnis mit Russland beitreten würden – es wäre wohl nicht anzunehmen, dass die USA dies sang- und klanglos hinnehmen würden. Erst recht kann man die Bedrohungsängste Russlands nachvollziehen, wenn man bedenkt, dass die USA weltweit über rund 1000 Militärstützpunkte verfügen, von denen der grösste Teil einen Ring rund um Russland bildet, während Russland weltweit gerade mal über 25 Militärstützpunkte verfügt. Ähnlich sieht es bei den Rüstungsausgaben aus: Die NATO verfügt über ein 20 mal höheres Militärbudget als Russland. Dies alles rechtfertigt zwar keineswegs den Überfall Russlands auf die Ukraine. Doch zu behaupten, dieser sei “grundlos” erfolgt, zielt doch meilenweit an der Realität vorbei.

Die Forderung nach einem “für beide Seiten gesichtswahrenden Kompromiss” sei viel zu salopp? Stephan Israel scheint nicht verstanden zu haben, dass doch genau dies die Voraussetzung für jeglichen Versuch erfolgsversprechender Friedensgespräche bildet. Friedensgespräche sind nur möglich, wenn jede Seite bereit ist, auf die Bedürfnisse und Interessen der Gegenseite einzugehen und nicht von Anfang an einen Standpunkt einzunehmen, an dem kompromisslos festgehalten wird.

Es könne nicht sein, dass die Ukraine 20 Prozent ihres Territoriums abgeben müsste? Wie war denn das 1991, als die Sowjetunion zusammenbrach und ebenfalls rund 20 Prozent ihres früheren Territoriums verlor? Und wird nicht auch die Abspaltung des Kosovo von Serbien im Westen als selbstverständlich betrachtet? Weshalb lässt man die Menschen in der Ostukraine nicht darüber abstimmen, ob sie zur Ukraine oder zu Russland gehören oder eine eigene Republik bilden wollen? Ist nicht jede friedliche Lösung, ganz unabhängig von der territorialen Zugehörigkeit der einzelnen Menschen, einem Krieg vorzuziehen, der alles in Schutz und Asche legt und Tag für Tag Hunderte von Menschen tötet, die auch nicht das Geringste davon gehabt haben, ob sie nun Bürgerinnen und Bürger des einen oder des anderen Landes gewesen waren.

Ukrainerinnen und Ukrainer kämen in der Debatte rund um den Friedensappell “gar nicht vor”? Was für eine abstruse Behauptung. Es geht ja, auf der Suche nach dem Friedens, um nichts anderes als um die Menschen in der Ukraine, um wen denn sonst? Der Vorwurf, hier würden Friedensgespräche “über den Kopf der Betroffenen” hinweg gefordert, fällt doch ganz und gar auf jene zurück, die ihn erheben. Wenn etwas über die Köpfe der Betroffenen hinweg geschieht, dann bestimmt nicht das Ansinnen, Frieden zu stiften, sondern, ganz im Gegenteil, dieser furchtbare und sinnlose Krieg, von dem nie auch nur ein einziger Ukrainer oder eine einzige Ukrainerin gefragt wurden, ob sie ihn auch tatsächlich wollen.

Die Friedensappelle würden ausser Acht lassen, dass es doch um die “Stabilität ganz Europas” gehe? Auch diese Feststellung kann höchstens Kopfschütteln auslösen. Soll Krieg etwas beitragen zur “Stabilität” eines Kontinents? Ist es nicht vielmehr gerade das Gegenteil, das friedliche Zusammenleben der Völker und Staaten, welches die Grundlage bilden müsste für eine grösstmögliche Stabilität, nicht nur innerhalb dieses oder jenes Kontinents, sondern weltweit?

Schliesslich noch der Verweis auf den Zweiten Weltkrieg. Immer wieder: die Vergangenheitskeule, indem man von gegenwärtigen Konflikten auf frühere Konflikte zurückverweist, als würde sich die Geschichte stets von Neuem wiederholen. Doch um den Ukrainekonflikt zu lösen, brauchen wir nicht den Blick in die Geschichte, sondern eigentlich nur den gesunden Menschenverstand und den Mut, heutige Probleme geschickter, kreativer und zukunftsgerichteter zu lösen, als unsere Vorfahren dies getan haben. Denn: “Probleme”, sagte Albert Einstein, “kann man nie mit der gleichen Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind.” Nach so langer Zeit des Grauens, der Zerstörung, des Leidens besteht nun endlich, mit der von Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht ergriffenen Friedensinitiative, die Chance zu einer Kehrtwendung. Wie dumm wären wir, würden wir sie nicht ergreifen…