Bis auch noch der allerletzte Politiker, die allerletzte Politikerin begriffen hat, dass man Frieden niemals gegeneinander, sondern stets nur miteinander schaffen kann..

 

In seiner Rede am 21. Februar 2023, kurz vor dem Jahrestag des Ukrainekriegs, kündigt der russische Präsident Wladimir Putin die Aussetzung von “New Start” an, dem letzten grossen atomaren Abrüstungsvertrag, der die strategischen Atomwaffenarsenale Moskaus sowie der USA begrenzt. Diesen Schritt begründet Putin vor allem damit, dass etwa Frankreich und Grossbritannien ihre Atomwaffenarsenale weiter entwickeln und ihre Nuklearpotenziale gegen Russland ausrichten würden. Allerdings werde man, so lässt das russische Aussenministerium verlauten, die festgelegten Obergrenzen für Atomwaffen weiterhin einhalten. An einem verantwortungsvollen Vorgehen werde festgehalten und für die Dauer der Vertragslaufzeit würden die vorgesehenen quantitativen Beschränkungen für strategische Offensivwaffen strikt eingehalten. Die Aussetzung von “New Start” könne auch wieder rückgängig gemacht werden, dazu müsse aber Washington politischen Willen zeigen, sich gewissenhaft für eine allgemeine Deeskalation einzusetzen und Bedingungen für die Wiederaufnahme des vollen Funktionierens des Vertrags zu schaffen. Die Aussetzung von “New Start” bezeichnet US-Aussenminister Blinken als “enttäuschend und unverantwortlich”, auch NATO-Generalsekretär Stoltenberg bedauert den Entschluss und westliche Sicherheitsexperten sprechen schon vom “Beginn eines neuen Wettrüstens” und davon, dass Putin damit die “letzten Brücken” abgerissen hätte. Für alle, die schon immer Putin als die Inkarnation des Bösen oder geradezu des Teufels gesehen haben, ist die Aussetzung von “New Start” ein weiterer Beweis dafür, dass Putin nicht einmal davor zurückzuschrecken scheine, die Welt in ein atomares Massengrab zu verwandeln. 

Doch wenn man jetzt Russland und insbesondere Putin rücksichtsloses imperialistisches Machtgebaren vorwirft, dann sollte man nicht vergessen, dass US-Präsident Trump am 1. Februar 2019 genau das Gleiche tat, was Putin an diesem 21. Februar 2023 getan hat. Trump erklärte an diesem Tag nämlich offiziell den Ausstieg – und nicht bloss die Aussetzung! – aus dem INF-Abrüstungsvertrag. Dieses Abkommen aus dem Jahre 1987 zwischen den USA und der ehemaligen Sowjetunion hatte den Bau und den Besitz landgestützter, atomar bewaffneter Raketen oder Marschflugkörper mit einer Reichweite von 500 bis 5500 Kilometern untersagt. Kremlsprecher Peskow warnte damals, dass die USA nach einem Ausstieg aus dem INF-Vertrag genau jene Waffensysteme entwickeln wollten, die durch das Abkommen verboten gewesen waren. Auch die damalige deutsche Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen betonte, der INF-Vertrag sei ein Kernelement der europäischen Sicherheit, und plädierte für eine Weiterführung des Vertrags. Und selbst Analena Baerbock, damals Parteivorsitzende der Grünen, sagte, der Ausstieg der USA aus dem INF-Vertrag sei “absolut fatal”.

Überhaupt scheint der Westen ein erstaunlich kurzes historisches Gedächtnis zu haben. Man spricht gerne und oft vom imperialistischen Machtgebaren Russlands. Und zwar so oft und so laut, dass ganz vergessen geht, dass der Begriff eines “imperialistischen Machtgebarens”, über längere Zeit betrachtet, in ungleich viel höherem Ausmass auf die USA zutrifft, welche seit 1945 nicht weniger als 44 Militäroperationen und grösstenteils völkerrechtswidrige Angriffskriege geführt haben, mit insgesamt über 50 Millionen Toten und rund 500 Millionen Verletzten, von Korea, Ägypten, Kuba, Vietnam, Laos und Kambodscha über Bolivien, Angola, El Salvador, Nicaragua bis zu Libyen, Irak, Jugoslawien und Afghanistan – um nur ein paar wenige sämtlicher Schauplätze zu nennen. Gleichzeitig sah sich Russland über die ganze Zeit in der Rolle des Machtlosen, Gedemütigten, zwar immer wieder gegen die Auswüchse des US-Imperialismus protestierend, dennoch immer wieder von ihm überrollt und nie als vollwertiger Partner innerhalb einer globalen Sicherheitspolitik und eines globalen Gleichgewichts ernst genommen. Sind die feindseligen Gefühle und Rachegedanken gegenüber dem Westen, nicht nur bei Putin, sondern auch in weiten Teilen der russischen Bevölkerung, nicht zumindest ein klein wenig verständlich?

Die westlichen Medien waren voll des Lobes, als US-Präsident Joe Biden am 20. Februar Präsident Selenski in Kiew einen Besuch abstattete. Viele sprachen gar von einem “historischen” Ereignis. So wenig braucht es also mittlerweile, um in die Geschichte einzugehen: Ein 80Jähriger, der für seinen Mut gelobt wird, sich mitten in ein Kriegsgebiet zu begeben, bei blauem Himmel die Umarmung des grossen mit dem kleinen Bruder, die inniger nicht sein könnte, ein gemeinsamer Spaziergang bei heulendem Luftalarm, der wohl ebenso zur hollywoodähnlichen Inszenierung gehört wie die Sonnenbrille auf der Nase des US-Präsidenten – denn wäre der Alarm echt gewesen, wären die wohl nicht so locker übers Strassenpflaster gebummelt, sondern hätten so schnell wie möglich in einem Bunker Zuflucht gesucht. Nein, das einzige “Historische” an diesem Ereignis ist, dass die Medien im Bunde mit Politikerinnen und Politikern etwas “Historisches” daraus machen. In die grosse Geschichte, über die man auch in hundert Jahren noch sprechen wird, in diese Geschichte wird erst jener Tag eingehen, an dem der Krieg als dümmstes und menschenfeindlichstes Mittel zur Lösung von Konflikten zwischen Ländern und Völkern für immer ein Ende gefunden hat und auch noch der allerletzte Politiker, die allerletzte Politikern begriffen hat, dass man Frieden niemals gegeneinander, sondern stets nur miteinander schaffen kann.