Im Taumel einer sich verändernden Welt sollte man nicht vergessen, dass es auch Weisheiten gibt, die niemals “aus der Zeit fallen”…

Der “Club” vom 28. Februar 2023 am Schweizer Fernsehen debattierte über die Frage, ob es zukünftig erlaubt werden solle, Waffen, die von der Schweiz zum Beispiel an Deutschland oder Schweden geliefert wurden, nachträglich an die Ukraine weiterzugeben. Die Befürworter einer solchen Praxis betonten, dass es nicht zu verantworten sei, die Ukraine, welche Opfer eines brutalen Aggressors geworden sei, im Stich zu lassen – Neutralitätspolitik und Neutralitätsrecht hin oder her. Der Gedanke, dass die Schweiz als neutrales Land dann aber auch Waffen an Russland liefern müsste, wurde weit von sich gewiesen. In der heutigen Welt einer zunehmenden Polarisierung zwischen Ost und West, zwischen Demokratie und Autokratie könne die Schweiz nicht länger abseits stehen und müsse klar Partei ergreifen.

Es ist schon erstaunlich, dass selbst in einer so hochkarätig besetzten Gesprächsrunde wie jener im “Club” an diesem 28. Februar das Bild des bösen Aggressors Russland, der “ohne jeglichen Grund” ein friedliches, demokratisches Land überfallen habe, so unhinterfragt im Raum stehen blieb. Nicht einmal die Historiker in der Runde wiesen darauf hin, dass es zu dieser offiziellen Sicht der Dinge noch eine andere, zweite Seite geben könnte. Und die gibt es in der Tat. So lässt sich nicht wegdiskutieren, dass die Ausweitung der NATO Richtung Osten bis hin zu einer möglichen Eingliederung der Ukraine von Russland zweifellos als Bedrohung empfunden werden musste. Sogar die damalige deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel sagte im Jahre 2008, ein NATO-Beitritt der Ukraine würde von Russland zweifellos als “Kriegserklärung” wahrgenommen. Man braucht sich nur vorzustellen, wie die USA reagieren würden, wenn auf einmal Mexiko und Kanada einem Militärbündnis mit Russland beitreten würden. Dazu kommt die globale Bedrohungslage. Während die USA weltweit über rund 1000 Militärstützpunkte verfügen, von denen ein grosser Teil ringförmig um Russland angeordnet sind, besitzt Russland gerade mal 25 Militärbasen ausserhalb seines eigenen Territoriums. Namhafte neokonservative Politiker und Ideologen innerhalb des US-amerikanischen Machtapparats werden seit Jahrzehnten nicht müde, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion nun auch noch den Zusammenbruch Russlands herbeizureden. So etwa sagte der ehemalige US-Sicherheitsberater Zbigniew Brzezinski im Jahre 2009: “Die neue Weltordnung wird gegen Russland errichtet, auf den Ruinen Russlands und auf Kosten Russlands.” Dies alles soll den russischen Einmarsch in die Ukraine keineswegs rechtfertigen, aber es vermag doch aufzuzeigen, dass es  – aus der Sicht Russlands – durchaus “Gründe” gegeben haben mag für einen “Befreiungsschlag” aus einer zunehmend als Bedrohung empfundenen Umkreisung durch den Westen. Zumal ein letzter Versuch Putins im Dezember 2021, mit der US-Regierung eine friedliche Lösung des Ukrainekonflikts auszuhandeln, von dieser ohne Begründung zurückgewiesen wurde.

Es ist schon erstaunlich, dass mit Hans-Ueli Vogt ausgerechnet ein ehemaliger SVP-Nationalrat in der “Club”-Diskussionsrunde als Einziger konsequent aus dem gängigen Freund-Feind-Bild ausbrach und davor warnte, sich als neutrale Schweiz auf nur eine einzige Seite der Konfliktparteien zu schlagen. Die Aufgabe der Schweiz, so Vogt, müsste es vielmehr sein, sich als Gesprächsvermittlerin zur Verfügung zu stellen, um auf einen Frieden zwischen Russland und der Ukraine hinzuarbeiten. Genau diese Chance aber verspiele unser Land, wenn es einseitig Partei ergreife.

Man spricht heute oft von einer “Zeitenwende”. Diese “Zeitenwende” hat offensichtlich auch dazu geführt, dass selbst die schweizerische Sozialdemokratie ihre pazifistischen Wurzeln mehr und mehr in Frage stellt, während ausgerechnet ihr politischer Hauptgegner, die SVP, die Chance der Schweiz als neutrale Konfliktvermittlerin unablässig in Erinnerung ruft. Ein Phänomen, das in Deutschland noch viel deutlicher in Erscheinung tritt, wo die Grünen trotz ihrer pazifistischen Wurzeln an vorderster Front für Waffenlieferungen an die Ukraine eintreten, während sich ausgerechnet die AfD an die Seite jener stellt, die ein baldmöglichstes Ende des Kriegs fordern.

Verschiedentlich wurde im “Club” gesagt, man müsse “umdenken”, die Zeiten hätten sich “geändert”, was eben noch Gültigkeit gehabt hätte, sei heute “aus der Zeit gefallen”, die Welt sei nicht mehr die gleiche wie zur Zeit, als die Neutralität als Grundlage des Staates in die schweizerische Bundesverfassung geschrieben worden sei. Doch im Taumel einer sich verändernden Welt sollte man nicht vergessen, dass es auch Weisheiten gibt, die niemals “aus der Zeit fallen”. Eine von ihnen ist der Pazifismus, die kompromisslose Überzeugung, dass nur eine Welt ohne Waffen, Armeen und Kriege eine menschenfreundliche Zukunft sein kann heute und für alle zukünftigen Generationen, dies ganz besonders in einem Zeitalter, da die bereitstehenden Atomwaffenarsenale gleich mehrfach dafür ausreichen würden, alles menschliche Leben auf diesem Planeten für immer auszulöschen. “Entweder”, sagte der amerikanische Bürgerrechtskämpfer Martin Luther King, “werden die Menschen als Brüder und Schwester miteinander überleben, oder sie werden als Narren miteinander untergehen.”