Neueste Entscheide des schweizerischen National- und Ständerats: Mit einer echten Demokratie hat das nicht mehr viel zu tun…

 

Die Schweiz am 1. März 2023: Der Nationalrat verwirft mit 97 zu 92 Stimmen einen Antrag auf den vollen Teuerungsausgleich bei den AHV-Renten, obwohl er in der Herbstsession einer Motion mit demselben Anliegen noch zugestimmt hatte. Der Teuerungsausgleich wäre, so die Befürworterinnen und Befürworter des Anliegens, angesichts der tiefen Minimalrenten, der aktuellen Teuerung und des drohenden Kaufkraftverlusts, bitter nötig gewesen. Dessen ungeachtet lehnt einen Tag später auch der Ständerat mit 21 zu 20 Stimmen das Geschäft ab. Und dies, obwohl der “Zustupf” an die Rentnerinnen und Rentner bloss ein paar Franken pro Monat ausgemacht hätte. Gleichentags beantragen die Lenkungsausschüsse des Stände- und des Nationalrats für sämtliche Parlamentarierinnen und Parlamentarier einen Teuerungsausgleich von 3,2 Prozent, was bei einem durchschnittlichen Jahreseinkommen von 132’000 Franken im Nationalrat und 142’500 Franken im Ständerat einen Zusatzverdienst von 4240 bis 4560 pro Jahr bedeuten würde.

Wer es bisher noch nicht für möglich hielt, dem müsste spätestens jetzt ein Licht aufgehen: Schon längst ist das, was wir immer noch so selbstgefällig als “Demokratie” bezeichnen, zur Scheindemokratie verkommen, zur Bemäntelung einer knallharten Klassengesellschaft höchst unterschiedlicher Privilegien, zu einer Plutokratie, einer Staatsform, in der die Besitzenden und Reichen über die Besitzlosen die politische Herrschaft ausüben. Denn es sind nicht nur solche politischen Entscheide wie an diesem 1. und 2. März 2023. Es ist auch die Tatsache, dass die 300 reichsten Schweizerinnen und Schweizer über ein Vermögen von rund 820 Milliarden Franken verfügen, was dem jährlichen Militärhaushalt der USA entspricht, während über eine Million in der Schweiz lebender Menschen knapp unter der Armutsgrenze oder knapp daran ihr Dasein fristen. Es ist auch die Tatsache, dass die höchsten Einkommen in der Schweiz 300 Mal höher sind als die niedrigsten. Und es ist vor allem auch die Tatsache, dass die “demokratischen” Instrumente hierzulande ein ganz und gar adäquates Abbild der gesellschaftlichen Machtverhältnisse sind: Während es im National- und Ständerat von Rechtsanwälten, Akademikerinnen und Landwirten nur so wimmelt, sucht man dort vergebens einen Bauarbeiter, eine Krankenpflegerin oder eine Fabrikarbeiterin, obwohl Angehörige dieser Berufsgruppen die weitaus überwiegende Mehrheit der Gesamtbevölkerung ausmachen.

Aber es geht noch viel weiter. Jener Reichtum, der auch so viel gesellschaftliche und politische Macht verleiht, ist ja in aller Regel nicht aus eigener Kraft erarbeitet. Reiche sind reich, weil andere, die härter arbeiten und trotzdem weniger verdienen, diesen Reichtum überhaupt erst einmal erarbeitet haben. “Wäre ich nicht arm”, sagt der Arme zum Reichen in einer Parabel von Bertolt Brecht, “dann wärst du nicht reich.” Noch deutlicher formulierte es der französische Schriftsteller Honoré de Balzac: “Hinter jedem grossen Vermögen steht ein grosses Verbrechen.” In der kapitalistischen Klassengesellschaft ist dieses “Verbrechen” legalisiert und zeigt sich in Form von Aktiengewinnen, Erbschaften sowie allen weiteren finanziellen Beteiligungen, bei denen sich der Schweiss, die Tränen und die Schmerzen arbeitender Menschen – nicht nur hierzulande, sondern vor allem auch in der weltweiten Ausbeutung auf dem globalisierten Arbeitsmarkt – unaufhörlich in das Gold, in die Früchte und in die unzähligen Luxusvergnügungen der Reichen verwandeln. 

Da muss man sich nicht wundern, wenn sich immer mehr Menschen von der Politik abwenden und dies damit begründen, dass “die oben sowieso machen, was sie wollen”. Wie recht sie haben! Nur müsste die Schlussfolgerung eine andere sein: nicht, sich abzuwenden, sondern, sich mit aller verbliebenen Kraft einzumischen. Damit die Chance besteht, dass sich die herrschende Plutokratie vielleicht doch noch eines Tages in eine echte Demokratie, in eine echte Volksherrschaft verwandeln kann.