Erst wenn die Gewalt des herrschenden Gesellschafts- und Wirtschaftssystems überwunden wird, kann auch jene Gewalt, die Jugendliche sich selber oder anderen zufügen, überwunden werden…

 

Gemäss „Sonntagszeitung“ vom 2. April 2023 zeigt die neue schweizerische Kriminalstatistik, welche diese Woche veröffentlicht wurde, dass schwere Gewaltdelikte weiterhin zunehmen, vor allem auch bei den Jüngsten. So wurden 1385 Minderjährige zwischen 10 und 14 Jahren letztes Jahr einer Gewaltstraftat beschuldigt, 11 Prozent mehr als im Vorjahr und fast 50 Prozent mehr als vor zehn Jahren. Ihnen werden Körperverletzung, Raub, sexuelle Nötigung oder versuchte Tötung vorgeworfen. Über 80 Prozent sind Buben. Dirk Bauer von der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaft, der seit Jahren zum Thema Kinder- und Jugendgewalt forscht, kann sich diese Entwicklung „noch nicht schlüssig erklären“. Am ehesten sieht er die Ursachen bei den „sozialen Medien“, „problematischen Vorbildern“, „desinteressierten Elternhäusern“ und „problematischen Familienverhältnissen.“

Diese Sichtweise scheint mir zu kurz zu greifen. Die Schuldzuweisung an „soziale Medien“ oder „problematische Familienverhältnisse“ individualisiert die Problematik und lenkt davon ab, dass auch die Gesellschaft als Ganzes und die Veränderungen in der Lebens- und Arbeitswelt eine ganz wesentliche Ursache steigender Jugendkriminalität bilden könnten. Beobachten wir diese Veränderungen, dann stellen wir nämlich fest, dass sich die Anforderungen am Arbeitsplatz, der Konkurrenzkampf um den sozialen Aufstieg und die Schere zwischen Arm und Reich seit Jahren immer mehr verschärfen, lauter Belastungen, von denen nicht nur die Erwachsenen, sondern auch die Kinder und Jugendlichen betroffen sind. Besonders stark wirkt sich dies alles auch auf die Schule aus, wo die Kinder einem laufend wachsenden Leistungsdruck ausgesetzt sind, für gute Noten und damit gute Zukunftschancen ein immer grösserer Aufwand betrieben werden muss und all jene Kinder, welche diesem Konkurrenzkampf nicht gewachsen sind, mit immer grösseren Enttäuschungen und verlorenem Selbstvertrauen auf der Strecke bleiben. Wie erbarmungslos sich dies auswirken kann, zeigt das Beispiel einer Neunjährigen im St. Galler Rheintal, die unlängst von ihrem Vater geprügelt, geohrfeigt und mit einem Essensverbot bestraft wurde, weil sie wiederholt schlechte Schulnoten nach Hause gebracht hatte.

Es ist nicht lange her, da wurde in den Medien darüber berichtet, dass psychische Probleme bei Mädchen und jungen Frauen in den vergangenen zehn Jahren massiv zugenommen hätten, so vor allem Essstörungen, Magersucht, Depressionen und Suizidversuche. Doch nur selten werden von Fachleuten oder von den Medien psychische Probleme von Mädchen und gewalttätiges Verhalten von Buben in einen gemeinsamen Zusammenhang gebracht, man tut so, als hätte das eine mit dem anderen nicht das Geringste zu tun. Tatsächlich aber sind das die beiden Kehrseiten der gleichen Ursache, des zunehmenden Drucks und des sich laufend verschärfenden Konkurrenzkampfs im Alltag, in der Arbeitswelt und in der Schule. Nur dass Mädchen und Buben eben der unterschiedlich darauf reagieren: Während Knaben die „Gewalt“ nach aussen tragen und anderen Menschen Schaden zufügen, fressen die Mädchen dagegen die „Gewalt“ in sich selber hinein und fügen sich selber Schaden zu. Diese „Gewalt“ aber ist nichts anderes als eine Reaktion auf die bereits vorhandene gesellschaftliche Gewalt, in der diese jungen Menschen aufwachsen. Kein Mensch ist von Natur aus gewalttätig, es sind die Umstände, die ihn dazu bringen. „Der Mensch ist gut und will das Gute“, sagte Johann Heinrich Pestalozzi, „und wenn er böse ist, dann hat man ihm den Weg verrammelt, auf dem er gut sein wollte.“

Wenn wir daher die Gewalttätigkeit oder die psychischen Probleme junger Menschen wirksam bekämpfen wollen, dann müssen wir bei den Ursachen ansetzen, nicht bei den Symptomen. Irgendwelche Aufklärungs- und Präventionsprogramme nützen ebenso wenig wie individuelle Therapiemassnahmen. Denn die extremen, von der Statistik erfassten Fälle bilden nur die Spitze des Eisbergs. Unzählige andere Kinder und Jugendliche leiden ebenso unter den Belastungen, dem Druck und den übertriebenen Erwartungen, denen sie täglich ausgesetzt sind – ohne aber straffällig zu werden oder auf psychologische Hilfe angewiesen zu sein. Was wir brauchen, ist nichts weniger als die Überwindung einer Leistungsgesellschaft, die schon längst aus allen Fugen geraten ist. Was wir brauchen, ist eine Gesellschaft, eine Arbeitswelt und eine Schule, in welcher die Menschen nicht in einen permanenten gegenseitigen Überlebenskampf gezwungen werden, sondern jede und jeder Einzelne in ihrer Individualität und Einzigartigkeit wahrgenommen, geschätzt und geliebt wird. Eine Arbeitswelt, die nicht auf Konkurrenzkampf und gegenseitige Ausgrenzung ausgerichtet ist, sondern auf Kooperation und gegenseitige Unterstützung. Und, nicht zuletzt, eine massive Verringerung der bestehenden Lohnunterschiede, sodass nicht alle gezwungen sind, sich verzweifelt immer weiter nach oben zu kämpfen. Erst wenn die Gewalt, die das herrschende Gesellschafts- und Wirtschaftssystem ausübt, überwunden wird, kann auch jene Gewalt, welche Jugendliche sich selber oder anderen zufügen, überwunden werden können.