In einer Welt, wo zurzeit über 40 Kriege wüten, ist die Stimme jener, die dem Frieden, der Völkerverständigung und der Diplomatie das Wort reden, unvergleichlich viel wichtiger und unerlässlicher denn je…

 

„Die Neutralität schadet der Schweiz“, schreibt der ehemalige Spitzendiplomat Thomas Borer im „Tagesanzeiger“ vom 3. April 2023. Bedrohungen von aussen könnten heute am besten „in einem grossen Verband“ bekämpft werden, dies hätten Schweden und Finnland begriffen und sich daher für einen Beitritt zur NATO entschieden. Das Instrument der Schweizer Neutralität werde heute im Ausland „schlichtweg nicht mehr begriffen“. Das Waffenausfuhrverbot, gekoppelt mit dem neutralen Status der Schweiz, schädige die „Reputation bei den westlichen Staaten“. Die Eidgenossenschaft werde als egoistisch eingestuft, als ein Land, das im Kampf des „Guten“ gegen das „Böse“ nicht nur abseitsstehe, sondern sogar der westlichen Wertegemeinschaft „Knüppel zwischen die Beine“ werfe. Daher sei unsere Neutralität „obsolet“ geworden und schade der Schweiz mehr als sie ihr nütze.

Gewiss. Wenn die Neutralität bloss in einem passiven Abseitsstehen gegenüber internationalen Konflikten und Bedrohungen besteht, kann man sie ebenso gut über Bord werfen. Wird sie aber aktiv gelebt, kann sie eine riesige Chance sein, diplomatische Dienste anzubieten, welche in nichtneutralen Ländern aufgrund ihrer Befangenheit nicht mehr geleistet werden können. Selbst wenn die Schweiz noch das einzige verbliebene neutrale Land wäre, müsste sie erst recht an ihrem neutralen Status festhalten, sozusagen als letzte Bastion, wo sich die Exponenten der Kriegsparteien treffen könnten. Leider wird diese Chance immer noch nicht wahrgenommen und vergebens wartet man darauf, dass der Schweizer Aussenminister Cassis Putin und Selenski zu Friedensgesprächen nach Genf einlädt – ob die dann tatsächlich kämen, ist die andere Frage, aber versuchen müsste man es doch zumindest. Wenn die Neutralität so passiv gelebt wird, dann verstehe ich alle, die sie schon lieber heute als morgen abschaffen möchten. 

Borer spricht von einer „Wertegemeinschaft“ des Westens, der die Schweiz „Knüppel zwischen die Beine“ werfe. Wenn etwas veraltet ist, dann dieses Blockdenken. Diese vielbeschworene „Wertegemeinschaft“ bildet nämlich nur der geringste Teil der Weltbevölkerung. Ganz Lateinamerika, ganz Afrika und die meisten Länder Asiens gehören nicht zu dieser „Wertegemeinschaft“ und nehmen im Ukrainekonflikt fast ausschliesslich eine neutrale Haltung ein. Für sie alle kann die neutrale Schweiz ein grosses Vorbild sein, ein Land, das den Mut hat, seinen eigenen Weg zu gehen und sich nicht in den Strudel eines sich anbahnenden dritten Weltkriegs hineinziehen zu lassen.

Borer spricht auch von einem Kampf des „Guten“ gegen das „Böse“. Ja wenn es so einfach wäre. Tatsache ist, dass der Westen durch seine aggressive NATO-Osterweiterung und die militärische Aufrüstung der Ukraine seit 2008 eine wesentliche Mitschuld am Ausbruch des Ukrainekriegs trägt. Tatsache ist auch, dass in der Ukraine die russischsprachige Bevölkerungsminderheit massiver Diskriminierung und Ausgrenzung ausgesetzt ist: Mehrere regierungskritische Parteien, Zeitungen und TV-Stationen wurden verboten, sämtliche Werke russischer Autorinnen und Autoren wurden aus den ukrainischen Bibliotheken entfernt, musikalische Werke russischer Komponistinnen und Komponisten dürfen nicht mehr öffentlich aufgeführt werden und ein 2019 erlassenes Sprachengesetz untersagt die Verwendung der russischen Sprache im öffentlichen Raum. Wer mit dem Argument, man müsse für das „Gute“ gegen das „Böse“ Partei ergreifen, für eine Absage an die Neutralität plädiert, verbaut sich den Blick auf alle Zwischentöne und jegliche differenzierte Meinungsbildung über einen Konflikt, der sich durch zahlreiche widersprüchliche Facetten auszeichnet und nicht simpel auf einen Kampf zwischen „Gut“ und „Böse“ reduziert werden kann. Von einem Spitzendiplomaten wie Thomas Borer wäre eigentlich eine ausgewogenere Haltung zu erwarten.

Wenn Borer meint, die Neutralität schade der Schweiz, so mag das kurzfristig möglich sein. Langfristig aber wird die Neutralität der Schweiz höchstwahrscheinlich mehr nützen als schaden. Spätestens dann, wenn es vielleicht doch noch in absehbarer Zeit zu Friedensverhandlungen kommt und sich dafür kein anderer Ort so sehr anbieten würde wie die Stadt Genf mit ihrer jahrzehntelangen humanitären Tradition. Denn in einer Welt, wo zurzeit über 40 Kriege wüten, ist die Stimme jener, die dem Frieden, der Völkerverständigung und der Diplomatie das Wort reden, unvergleichlich wichtiger und unerlässlicher denn je.