Eine andere Sicht auf den Taiwankonflikt: Wer ist denn da von allen guten Geistern verlassen, Emanuel Macron oder die, welche ihn nun so lauthals kritisieren?

 

Am 10. April, auf dem Rückweg von seinem Staatsbesuch in Peking, gab der französische Präsident Emanuel Macron ein Interview, das im Folgenden Wellen ungeahnten Ausmasses schlagen sollte. Macron vertrat die Ansicht, die “grösste Gefahr für Europa” sei, von Amerika wegen des Taiwankonflikts in eine kriegerische Auseinandersetzung mit China hineingezogen zu werden. Macron plädierte dafür, die EU müsse und könne eine eigenständige “Supermacht” werden, anstatt immer nur den USA zu folgen. Europa müsse in der Welt einen eigenen, gleichberechtigten Platz zwischen den USA, Russland und China finden.

Was auf den ersten Blick ganz vernünftig klingt, scheint offensichtlich jenen westlichen Politikern und Meinungsträgern, die sowohl gegenüber Russland wie auch gegenüber China einen harten, kompromisslosen Kurs verfolgen, ganz gehörig in den falschen Hals geraten zu sein. Der schweizerische “Tagesanzeiger” schreibt am 11. April: “Allerdings fällt es schwer, den französischen Präsidenten ernst zu nehmen.” Mit seinen Worten habe er ein “umfassendes Desaster angerichtet”, indem er das “dümmste und staubigste Argument aus der gaullistischen Mottenkiste” verwendet habe, wonach sich Europa aus der amerikanischen Bevormundung lösen müsse. “Soviel Schaden mit ein paar Sätzen anzurichten”, so der “Tagesanzeiger”, “muss man erst noch schaffen.” Macron hätte vor seinem Besuch in Peking schon als gescheiterter Präsident gegolten, jetzt habe er auch aussenpolitisch “seinen Bankrott erklärt.” Noch schriller die Töne aus Deutschland: Der “Spiegel” fragt, ob Macron “jetzt völlig von Sinnen” sei. Und die “Welt” schreibt: “Macron scheint von allen guten Geistern verlassen zu sein.” Mit seinen Worten habe er “für Entsetzen gesorgt” und rundum reagiere die Politik auf Macrons Äusserungen “mit Unverständnis”.

Ich denke spontan an die Art und Weise, wie in deutschen Talkshows mit Menschen umgegangen wird, welche die Schuld am Ukrainekrieg nicht einzig und allein bei Russland sehen, sondern auch die Mitschuld des Westens aufzuzeigen versuchen. Ich denke an einen Artikel, in dem der Historiker Daniele Ganser, der das gängige Feindbilddenken des Westens aufzubrechen versucht, als “Gaukler”, “Verschwörungstheoretiker” und “Putinversteher” gebrandmarkt worden ist. Und ich denke an die von Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer ins Leben gerufene Friedensinitiative, die man nicht mit Argumenten, sondern nur mit der Behauptung, die beiden Frauen sässen im gleichen Boot mit Nazis und Rechtsextremisten, mundtot zu machen versucht hat. Offensichtlich scheint es nur eine einzige Möglichkeit zu geben, “richtig” zu denken – wer es wagt, anders zu denken, ist entweder ein Verschwörungstheoretiker, ein Putinversteher, ein Chinafreund oder er ist, wie Macron, “von allen guten Geistern verlassen” worden.

Habe ich etwas falsch verstanden? Werden die Waffenlieferungen an die Ukraine nicht immer wieder damit begründet, es ginge letztlich um den Kampf für Freiheit und Demokratie in der Auseinandersetzung gegen die Autokratie und gegen die Unterdrückung von Freiheit und Menschenrechten? Doch gehört zur Demokratie nicht auch die Meinungsfreiheit, das Recht darauf, Gedanken und Ideen zu äussern, die gerade nicht oder noch nicht mehrheitsfähig sind, ganz so, wie das Emanuel Macron getan hat? Ob sich die Demokratie oder die Autokratie durchsetzt, diese Frage wird nicht so sehr auf irgendwelchen Schlachtfeldern entschieden. Sie wird vor allem in unseren Köpfen entschieden, in der Art und Weise, wie mit unterschiedlichen, widersprüchlichen und vielleicht auch unbequemen Gedanken umgegangen wird, und wie ernsthaft man sich bemüht, auch die eigenen, eingefahrenen Denkmuster in Frage stellen zu lassen. Emanuel Macron hat Türen geöffnet und dabei viel Mut bewiesen – bleibt zu hoffen, dass möglichst viele andere ihm folgen werden…