SVP: Wahlkampf auf dem Buckel ausgerechnet jener, ohne deren unermüdliche Arbeitsleistung unsere ganze Wirtschaft und Gesellschaft augenblicklich in sich zusammenfallen würden…

 

“Die ständige ausländische Wohnbevölkerung in der Schweiz”, so schreibt der “Tagesanzeiger” am 17. April 2023, “hat im letzten Jahr deutlich zugenommen. 2022 wanderten rund 81’000 Ausländerinnen und Ausländer mehr ein, als das Land verliessen.” Die Zuwanderung und ihre Folgen seien also nicht ohne Grund ein beliebtes Wahlkampfthema der SVP. Wahlkampfleiter Marcel Dettling spreche denn auch von einem “Versagen der links-grünen Politik” und sage: “Wir können nicht die ganze Welt aufnehmen. Denn schon jetzt zeigt sich, dass die masslose Zuwanderung zu immer mehr Problemen führt.” Das sehe man beispielsweise bei der Überlastung der Autobahnen und des öffentlichen Verkehrs, bei den hohen Lebenskosten, den zubetonierten Landschaften, der Zersiedelung und den Problemen in den Schulen.

Solcher Polemik ist zunächst entgegenzuhalten, dass der Vorwurf, die Zuwanderung sei eine Folge “linksgrüner Politik”, voll und ganz ins Leere greift. Ganz im Gegenteil. Wenn schon jemand “schuld” sein soll, dann die bürgerlichen Parteien inklusive SVP, denn diese bilden in fast allen kantonalen Parlamenten und Regierungen wie auch im eidgenössischen Parlament und im Bundesrat die Mehrheit.

Wer aber ist tatsächlich “schuld” daran, dass zunehmend deutlich mehr Ausländerinnen und Ausländer in die Schweiz einwandern, als im gleichen Zeitraum wieder auswandern? Es ist nicht die eine oder andere politische Partei, sondern, einfach gesagt, das – kapitalistische – Wirtschaftssystem, das im Kleinen wie im Grossen unseren Alltag, die Wirtschaft und die Arbeitswelt dominiert. Dieses kapitalistische Wirtschaftssystem beruht auf der Idee, dass die Wirtschaft, will sie nicht untergehen, beständig wachsen muss. Diese Wachstumsideologie widerspiegelt sich in den Gewinnzahlen expandierender Unternehmen, in der wachsenden Mange an Produkten und Dienstleistungen, die auf den Markt geworfen werden, in der Zubetonierung der Landschaft und dem unaufhörlich zunehmenden Verkehrsaufkommen – genau all jenen “Problemen”, welche die SVP so unermüdlich anprangert.

Die zweite Komponente ist das – ebenfalls durch die kapitalistische Wettbewerbs- und Leistungsgesellschaft angetriebene – Konkurrenzkampf aller gegen alle um den sozialen Aufstieg, um möglichst lukrative Jobs und eine möglichst hohe Position auf der gesellschaftlichen Machtpyramide. Dies zeigt sich darin, dass immer mehr junge Menschen an die Gymnasien drängen und eine akademische Laufbahn anstreben, während sich immer weniger junge Menschen für Jobs interessieren, bei denen man körperlich hart arbeiten, sich die Hände schmutzig machen und sich erst noch mit einem geringeren Lohn und geringerer gesellschaftlicher Wertschätzung zufrieden geben muss, so dass sich in immer mehr Bereichen der Arbeitswelt ein zunehmender Arbeitskräftemangel manifestiert.

Beides – der systemimmanente Zwang zu Expansion und Wachstum wie auch der durch zunehmende Akademisierung bedingte Arbeitskräftemangel in handwerklichen und praktischen Berufen – bewirkt, dass unser Land in steigendem Masse auf die Einwanderung von ausländischen Arbeitskräften angewiesen ist. Es ist also keineswegs so, dass die Zuwanderung die Ursache für die genannten Probleme ist, sondern es ist genau umgekehrt: Das herrschende Wirtschafts- und Gesellschaftssystem ist der Grund für die Zuwanderung. Das Problem sind, einfach gesagt, nicht die Ausländerinnen und Ausländer. Das Problem ist der Kapitalismus.

Ehrliche Politik würde bedeuten, diese Zusammenhänge aufzudecken und nicht ausgerechnet auf dem Buckel jener Menschen Wahlkampf zu betreiben, auf die wir so sehr angewiesen sind und ohne deren unermüdliche Arbeitsleistung unsere ganze Wirtschaft und Gesellschaft von einem Tag auf den anderen in sich zusammenbrechen würden.