Zunehmender Fachkräftemangel: Die vom Arbeitgeberverband vorgeschlagenen Massnahmen wären reine Symptombekämpfung…

 

Wie das “Tagblatt” am 25. April 2023 berichtet, zeichnet sich in der Schweiz ein zunehmender Fachkräftemangel ab. Bereits sind 120’000 Stellen unbesetzt und gemäss Schätzungen von Arbeitgeberseite werden bis 2030 eine halbe Million Arbeitskräfte fehlen. Der Arbeitgeberverband schlägt daher verschiedene Massnahmen vor, um gegen diesen Missstand anzukämpfen. Zunächst müsse das Arbeitsvolumen erhöht werden, indem die Menschen “mehr und länger arbeiten”. Ältere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter müssten “länger im Arbeitsmarkt gehalten” werden, um “bis ins Alter von 70 Jahren oder noch länger” berufstätig zu sein. Schliesslich fordert der Arbeitgeberverband einen “Ausbau von Drittbetreuungsplätzen”. Wobei jeder staatliche Franken, der die Kinderbetreuung subventioniere, in “zusätzliche Arbeit oder Aus- und Weiterbildung” fliessen müsse und “nicht in Freizeit”.

Die Forderungen des Arbeitsgeberverbands suggerieren, dass die Menschen in der Schweiz generell zu wenig lange arbeiten. Immer wieder ist auch der Vorwurf zu hören, zu viele Menschen würden ihr Arbeitspensum reduzieren, um dadurch mehr Freizeit zu gewinnen. In der Tat ist der Anteil an Männern, die einer Teilzeitbeschäftigung nachgehen, zwischen 2010 und 2019 von 13 auf 17 Prozent angestiegen. Doch ist es ganz und gar nicht so, dass die gewonnene Zeit vor allem dazu genutzt wird, irgendwelchen Hobbys nachzugehen. Vielmehr dient die gewonnene Zeit vor allem dazu, einen Teil der Hausarbeit und Kinderbetreuung zu übernehmen. Weil auch Frauen zunehmend einer ausserhäuslichen Erwerbsarbeit nachgehen, hat sich das Volumen der gesamten Erwerbsarbeit gegenüber früher nicht reduziert, sondern im Gegenteil erhöht, und zwar seit 2010 um ganze 3 Prozent!

Allerdings ist der Fachkräftemangel tatsächlich ein Problem. Aber die Massnahmen, die der Arbeitgeberverband vorschlägt, wäre reine Symptombekämpfung. Solange akademisch Ausgebildete doppelt oder drei Mal so viel verdienen wie Menschen in praktischen und handwerklichen Berufen, muss man sich nicht wundern, wenn immer mehr Jugendliche an die Gymnasien drängen und eine akademische Laufbahn anstreben. So sammeln sich “oben”, in der Welt der Akademikerinnen und Akademiker, eine immer grössere Anzahl von Menschen mit “hohen” oder “höchsten” Bildungsabschlüssen an, während es “unten”, an der Basis der Arbeitswelt, immer mehr am nötigen Nachwuchs fehlt. Eine verkehrte Welt. Denn während Akademikerinnen und Akademiker zu einem beträchtlichen Teil auf den höchsten Etagen der Arbeitswelt damit beschäftigt sind, wissenschaftliche Arbeiten zu schreiben, immer kompliziertere und anspruchsvolle Konzepte auszuarbeiten und sich nicht selten sogar noch gegenseitig zu beschäftigen, ist es am unteren Ende der Arbeitswelt genau umgekehrt: Ob Sanitärinstallateure, Serviceangestellte, Krankenpflegerinnen, Bauarbeiter, Verkäuferinnen, Fahrradmechaniker oder Fabrikarbeiterinnen – sie alle erbringen absolut unverzichtbare Arbeitsleistungen, ohne welche die gesamte Wirtschaft und auch die Gesellschaft als Ganzes von einem Tag auf den andern in sich zusammenbrechen müssten.

Es geht darum, den Spiess umzudrehen. Nicht nur was die Arbeitsbedingungen, sondern auch was die Löhne und die gesellschaftliche Wertschätzung betrifft, sollten die handwerklichen und praktischen Berufe den genau gleichen Stellenwert geniessen wie die akademischen Berufe. Vor langer Zeit sprach man noch vom “goldenen Handwerk”. Diese Zeit ist leider längst vorbei. Nur wenn es gelingt, sie wieder Wirklichkeit werden zu lassen, kann der so sehr in Schieflage geratene Arbeitsmarkt wieder ins Gleichgewicht gelangen. Nicht, indem wir arbeiten, bis wir tot umfallen. Sondern indem wir jedem Beruf jenen Respekt und jene Achtung entgegenbringen, die er in Bezug auf seine gesellschaftliche Bedeutung auch tatsächlich verdient hat. Eine Aufgabe, die freilich weder alleine vom Arbeitgeberverband noch alleine vom Gewerkschaftsbund, sondern nur von der Gesellschaft als Ganzer bewältigt werden kann. Denn, wie schon Friedrich Dürrenmatt so weise sagte: “Was alle angeht, können nur alle lösen.”