Der “Club” diskutiert über die Sinnhaftigkeit beruflicher Tätigkeit: Die im Lichte sieht man, die im Dunklen sieht man nicht…

 

“Wer will noch arbeiten?” – dies die Fragestellung, über die im “Club” vom 2. Mai 2023 im Schweizer Fernsehen diskutiert wurde. Schnell war man sich in der Runde darin einig, dass Arbeit Spass machen und als sinnvoll empfunden werden sollte. Die junge Radiomoderatorin könnte sich vorstellen, so lange zu arbeiten, “bis ich tot umfalle”. Auch die Pflegefachfrau empfindet ihren Beruf als sinnstiftend, wenngleich sie die prekären Arbeitsbedingungen beklagt, welche zur Folge hätten, dass ein grosser Teil ihrer Arbeitskolleginnen ihren Job bereits nach zwei- oder dreijähriger Tätigkeit wieder aufgeben. Gegen Ende der Sendung wurde als besonders vorbildliches Beispiel der mittlerweile 92jährige Zigarrenpatron Heinrich Villiger eingeblendet, der immer noch jeden Tag bis 21 Uhr arbeitet – so viel Spass und Genugtuung verleiht ihm seine Tätigkeit.

Dieser “Club” ist nicht die erste Sendung dieser Art, welche einen gravierenden Mangel aufweist, nämlich den, dass sie einen überwiegenden Teil der gesellschaftlichen Realität ausblendet. Es ist ja gut und schön, wenn sich die Diskussionsteilnehmerinnen und Diskussionsteilnehmer darin einig sind, dass ihr Beruf im Idealfall Spass machen und als sinnvoll empfunden werden sollte. Was aber ist mit all jenen Berufen, in denen sich dieser Spass, diese Sinnhaftigkeit und diese Genugtuung auch mit dem besten Willen nicht einstellen wollen? Was ist mit der Angestellten im Supermarkt, die während acht oder neun Stunden pro Tag nichts anderes tut, als Verkaufsregale aufzufüllen, die umgehend von der Kundschaft wieder geleert werden? Was ist mit dem Koch, der während neun oder zehn Stunden pro Tag nicht nur pausenlosem Stress, sondern auch quälender Hitze und anstrengendster Körperhaltung ausgesetzt ist? Was ist mit dem Zimmermädchen im Hotel, das im Zehnminutentakt Zimmer um Zimmer reinigen und herrichten und nicht selten ekligste Abfälle der abgereisten Gäste entsorgen muss? Was ist mit der Fabrikarbeiterin am Fliessband, die tausendmal am Tag immer wieder den gleichen Handgriff ausüben muss? Was ist mit dem Velokurier, der während seiner ganzen Arbeitszeit so grossem Zeitdruck ausgesetzt ist, dass er nicht einmal eine Toilette aufsuchen kann, sondern in eine mitgenommene Flasche pinkeln muss? Was ist mit den Kehrichtmännern, den Postboten, den Serviceangestellten, den Bauarbeitern, den Landarbeiterinnen, den Putzfrauen und dem Reinigungspersonal auf den Bahnhöfen und in den Zügen? 

Sie alle, die Ausgeschlossenen und Ausgeblendeten, die in dieser und in so vielen anderen Diskussionssendungen und öffentlichen Veranstaltungen oder Fachreferaten nicht vorkommen, können vom Luxus, über die Sinnhaftigkeit beruflicher Arbeit nachzudenken, nur träumen. Aber noch schlimmer: Während Besserverdienende die Möglichkeit haben, ihr Arbeitspensum zu reduzieren, um die tägliche Arbeitsbelastung erträglicher zu machen, ist den Schlechterverdienenden auch noch diese Möglichkeit verwehrt, da sie sich dies aus finanziellen Gründen gar nicht leisten könnten. Im Gegenteil. Sie verdienen oft selbst mit einem Beschäftigungsgrad von 100 Prozent so wenig, dass sie gezwungen sind, nebst ihrer hauptberuflichen Tätigkeit einer zweiten oder gar dritten Beschäftigung nachzugehen, frühmorgens Zeitungen auszutragen, am Wochenende in einem Restaurant auszuhelfen oder spätabends Büroräumlichkeiten oder Fabrikhallen zu putzen.

Zwei Welten im gleichen Land. Die einen schwärmen von der Sinnhaftigkeit beruflicher Tätigkeit. Die anderen schuften sich zu Tode und können sich dennoch oft kaum das Nötigste für den täglichen Lebensunterhalt leisten. Oder, wie Bertolt Brecht so treffend sagte: “Die im Lichte sieht man, die im Dunklen sieht man nicht.” 

Was jetzt folgt, ist eine Zukunftsvision in zwei Teilen. Der erste Teil besteht in der These, dass es nicht so etwas wie “wichtige” und “unwichtige” Berufe gibt, sondern jede berufliche Tätigkeit für das Funktionieren von Wirtschaft, Gesellschaft und allgemeinem Wohlergehen gleichermassen unentbehrlich ist. Wenn aber alle beruflichen Tätigkeiten den gleichen gesellschaftlichen Stellenwert haben, dann müssten sie logischerweise auch die gleiche Wertschätzung geniessen, die gleiche “Sinnhaftigkeit” haben und mit dem gleichen Lohn entschädigt werden.

Der zweite Teil meiner Zukunftsvision besteht in der These, dass es nun einmal naturgemäss berufliche Tätigkeiten gibt, in denen sich Menschen voll und ganz verwirklichen und in denen sie einen lebenserfüllenden Sinn finden können, während es auf der anderen Seite ebenso naturgemäss zahlreiche berufliche Tätigkeiten gibt, denen eine solche Sinnhaftigkeit mit bestem Willen nicht abzugewinnen ist, die aber trotzdem von irgendwem verrichtet werden müssen, damit Wirtschaft und Gesellschaft als Ganzes funktionieren können. Ist es nun gerecht, einen Teil der Bevölkerung mit “sinnhaften” beruflichen Tätigkeiten zu privilegieren und den übrig bleibenden Rest “unliebsamer”, mühsamer und routinehafter Tätigkeit dem anderen Teil der Bevölkerung aufzubürden? Wäre es nicht viel gerechter, beides unter alle fair zu verteilen? Das könnte dann zum Beispiel so aussehen, dass sämtliche Berufstätige an drei Tagen pro Woche in ihrem “sinnerfüllten” Traumberuf arbeiten könnten und  während der übrigen zwei Tage einen “Knochenjob” in einem jener Bereiche übernehmen würden, welche für die Aufrechterhaltung von Wirtschaft und Gesellschaft unverzichtbar sind. So wäre alles auf alle Schultern gerecht verteilt, niemand müsste sich ausgenützt oder benachteiligt fühlen, der soziale Zusammenhalt würde enorm gestärkt und die heute herrschende “Klassengesellschaft”, an deren oberem Ende ein paar hunderte Male höhere Löhne und ein Vielfaches mehr an Wertschätzung sprudeln als am unteren Ende, würde endgültig der Vergangenheit angehören.

Eine Zukunftsvision, die sich freilich nicht von heute auf morgen verwirklichen lässt, aber doch den Blick dafür öffnen könnte, wie die Arbeitswelt in Zukunft organisiert werden könnte, damit Arbeit, die mit Spass, Freude und Genugtuung verbunden ist, nicht mehr das Privileg Einzelner wäre, sondern für alle Berufstätigen zur Selbstverständlichkeit würde. Damit sich nicht nur eine junge Radiomoderatorin und ein 92jähriger Tabakunternehmer, sondern sämtliche Menschen vorstellen könnten, so lange zu arbeiten, bis sie “tot umfallen.”