Die Verleihung des Karlspreises an den ukrainischen Präsidenten Selenski: Kriegerische Zeiten sind ganz offensichtlich Zeiten, in denen das Denken und die öffentliche Wahrnehmung in ganz gefährliche Richtungen umgebogen werden…

 

Am 14. Mai 2023 wurde in Aachen der ukrainische Präsident Selenski mit dem renommierten Karlspreis, der alljährlich an bedeutende politische Persönlichkeiten verliehen wird, ausgezeichnet. In ihrer Laudatio sagte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen: “Die ukrainischen Soldaten sichern mit ihrem Blut und ihrem Leben die Zukunft ihrer Kinder, aber auch die unserer Kinder, sie kämpfen für unsere Freiheit und unsere Werte.” Bundeskanzler Scholz sagte, an der Spitze der Ukraine verteidige Selenski “die Werte, für die Europa steht.” Und Selenski selber meinte, die Ukraine wolle “nichts lieber als den Frieden”, dieser aber könne nur “mit einem Sieg gewonnen werden.”

So viele Unglaublichkeiten in so kurzer Zeit. Haben Olaf Scholz und Ursula von der Leyen eigentlich geschlafen, als ukrainische Einheiten im Donbass zwischen 2014 und 2022 unzählige Male das Minsker Abkommen zum Schutz der Zivilbevölkerung verletzten, als die rechtsextreme Asowbrigade zahllose Menschenrechtsverletzungen an der russischsprachigen Bevölkerung der Ostukraine verübte, als sämtliche Bücher russischsprachiger Schriftstellerinnen und Schriftsteller auf Geheiss der ukrainischen Regierung aus den Bibliotheken des Landes entfernt werden mussten, als das Aufführen musikalischer Werke russischer Komponistinnen und Komponisten landesweit untersagt wurde, als in der Ukraine sämtliche regierungskritische Parteien, Zeitungen und TV-Stationen verboten wurden und als ein Sprachengesetz in Kraft gesetzt wurde, welches das Ukrainische als alleinige Staatssprache zulässt und die Verwendung des Russischen im öffentlichen Raum unter Strafe stellt? Das sollen die “Werte” sein, “für die Europa steht”? Und Selenski also soll derjenige sein, der “an der Spitze der Ukraine” diese “europäischen Werte verteidigt”? Ja, sie müssen sehr gründlich geschlafen haben, als all das geschah, von dessen Gegenteil sie so euphorisch schwärmen. Und auch Selenski selber: Wie kann er behaupten, die Ukraine wolle “nichts lieber als den Frieden”, und gleichzeitig immer mehr Waffen fordern, um den Krieg sinnlos in die Länge zu ziehen und Abertausende seiner eigenen Mitbürgerinnen und Mitbürger in den sicheren Tod zu schicken. Einen Krieg kann man nicht beenden, indem man siegen will, sondern nur durch einen Waffenstillstand, durch Friedensverhandlungen und gegenseitige Kompromisse. Auch Ursula von der Leyen scheint das alles immer noch nicht begriffen zu haben, wenn sie meint, die ukrainischen Soldaten würden mit ihrem “Blut” das “Blut und das Leben ihrer Kinder und auch aller anderen europäischen Kinder sichern.” Man kann nicht Blut mit Blut, Leben mit Leben aufrechnen, das Blut ihrer Männer und ihrer Väter ist das gleiche wie das ihrer Mütter, ihrer Frauen und ihrer Kinder und alles ist stets gleichermassen kostbar. Sein Leben hinzugeben, um das Leben anderer zu retten – was für eine zynische Logik…

An dieser Stelle lohnt sich ein kurzer Blick in die Geschichte des Karlspreises, der seit 1950 für politische Persönlichkeiten bestimmt ist, welche sich in besonderem Masse um die Einigung Europas Verdienst gemacht haben. Schon der Namensgeber des Preises, der deutsche Kaiser Karl der Grosse, bekannt für sein Massaker an 4500 “heidnischen” Sachsen, irritiert. Auch die Tatsache, dass mehrere Mitglieder des ersten Karlspreisdirektoriums dem Nationalsozialismus nahestanden, muss zu denken geben. Und erst recht wird man stutzig, wenn man sich anschaut, wer im Laufe der Zeit den Preis erhielt und wer nicht. So zum Beispiel war der sozialdemokratische Bundeskanzler Willy Brandt, der sich wie kein anderer für die Einigung Europas stark machte, für die Mehrheit der damaligen Jury ein “rotes Tuch”. Auch sein Nachfolger Helmut Schmidt wurde bei der Verleihung des Preises übergangen. Dafür erhielten mit Tony Blair 1999 und Bill Clinton 2000 zwei Politiker den Karlspreis, welche  hauptverantwortlich waren für die Nato-Luftangriffe gegen die Bundesrepublik Jugoslawien im Jahre 1999. Ebenfalls in den Genuss des Preises kamen der deutsche Bundespräsident und früheres NSDAP-Mitglied Karl Carstens und der ehemalige amerikanische Aussenminister Henry Kissinger, zu dessen Amtszeit sowohl die Ausweitung des Vietnamkriegs als auch der von den US-Geheimdiensten unterstützte Putsch gegen die Regierung Chiles unter Salvador Allende durchgeführt wurden.

Kriegerische Zeiten sind ganz offensichtlich Zeiten, in denen das Denken und die öffentliche Wahrnehmung in ganz gefährliche Richtungen umgebogen werden. Willy Brandt und Helmut Schmidt würden sich wohl im Grabe umdrehen, wenn sie wüssten, dass der Karlspreis, der ihnen selber versagt geblieben ist, ausgerechnet einem ukrainischen Präsidenten verliehen wurde, der nichts so sehr vorangetrieben hat wie die Spaltung zwischen der russischen und der ukrainischen Volksgruppe in seinem eigenen Land. Olaf Scholz wird nicht müde zu betonen, die heute noch verbliebenen Pazifistinnen und Pazifisten seien “aus der Zeit gefallen”. Die Frage ist, ob nicht viel eher er selber und seine Gesinnungsgenossen und Gesinnungsgenossinnen, die sich längst von der Friedenslogik abgewendet und der Kriegslogik verschrieben haben, aus der Zeit gefallen sind. “Der Krieg”, sagte Willy Brandt vor über 50 Jahren, “darf kein Mittel der Politik sein, es geht darum, Kriege abzuschaffen, nicht nur, sie zu begrenzen, Krieg ist nicht mehr die ultima ratio, sondern die ultima irratio.” Und Helmut Schmidt meinte: “Lieber Stunden umsonst verhandeln, als eine Minute schiessen.” Dem ist eigentlich nichts beizufügen.