Markus Somm und der Mindestlohn: eine reichlich absurde Argumentation

 

“Der Mindestlohn tötet Arbeitsplätze”, schreibt Markus Somm in der “Sonntagszeitung” vom 21. Mai 2023. Wenn es eine angeblich soziale Massnahme gäbe, die in ihrer Wirkung zutiefst unsozial sei, dann sei dies, so Somm, der Einheitslohn. Denn wenn Unternehmen für einen Mitarbeiter mehr bezahlen müssten, als dieser für sie zu leisten vermöge, würden sie diesen gar nicht erst einstellen, sondern lieber eine Maschine einsetzen oder den Betrieb schliessen. Interessanterweise, so Somm, verstünden die meisten Leute diesen Zusammenhang, ausser sie seien links.

Polemischer und realitätsverzerrender geht es nun wirklich nicht mehr. Somm zufolge müssten dann alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, welche in den Genuss eines Mindestlohns kämen, dafür schuld sein, dass andere Arbeitssuchende gar nicht mehr angestellt würden, weil dies die finanziellen Möglichkeiten des jeweiligen Betriebs glatt überfordern würde. In bekannter Manier wird die heisse Kartoffel sozusagen in die Schuhe der Arbeitnehmerinnen und Arbeitsnehmer geschoben statt dorthin, wo sie eigentlich hingehören: auf die Etagen der Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber, auf die Kalkulationen der Unternehmen, auf die kapitalistische Arbeitswelt als solche.

Denn Mindestlöhne, von denen man anständig leben kann, müssten eine reine Selbstverständlichkeit sein. In einem Land, wo Spitzenverdienerinnen und Spitzenverdiener bis zu 10’000 Franken pro Stunde einstreichen, ist es doch eine reine Farce, darüber zu diskutieren, ob ein Arbeitnehmer oder eine Arbeitnehmerin das Recht darauf haben sollte, pro Stunde wenigstens 23 oder 25 Franken zu verdienen. Wenn Somm argumentiert, dass ein Unternehmen nicht mehr bezahlen könne, als der einzelne Arbeitnehmer oder die einzelne Arbeitnehmerin zu leisten vermöge, dann ist genau das der springende Punkt und führt uns zur Frage, was denn “Leistung” tatsächlich sei. Ist die Leistung, welche eine Coiffeuse, eine Krankenpflegerin oder ein Bauarbeiter erbringt, tatsächlich vier-, fünf- oder sechsmal weniger wert als die Leistung eines Informatikers, eines Marketingspezialisten oder einer Universitätsdozentin und gar dreihundert Mal weniger wert als die Arbeit des CEOs einer Grossbank oder eine multinationalen Rohstoffkonzerns? Die Beispiele zeigen, dass in unserer Arbeitswelt und ganz generell in der kapitalistischen Gesellschaft ein völlig verzerrtes Bild von “Leistung” vorherrscht. Unter “Leistung” wird nicht die tatsächlich erbrachte Arbeitsleistung verstanden, sondern das, was der Betrieb am Ende des Monats oder am Ende des Jahres als Reingewinn ausweisen kann – dieser Wert bestimmt den Lohn der betroffenen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und hat nichts zu tun mit der tatsächlich erbrachten Arbeitsleistung.

Gerechtigkeit entsteht nicht, indem man das bestehende Unrechtssystem analytisch zu begründen, zu rechtfertigen oder zu zementieren versucht – so wie das im Mainstream Denkende wie Somm tun. Nicht die “Linken” haben Zusammenhänge nicht verstanden, sondern Menschen wie Somm, welche nicht über die Fähigkeit verfügen, aus dem kapitalistischen Denkgebäude und der kapitalistischen “Logik” auszubrechen. Gerechtigkeit kann nur entstehen, wenn man das bestehende System kritisch hinterfragt und Alternativen aufzuzeigen versucht. Eine radikale Alternative, die aber um ein Vielfaches gerechter wäre als das heutige Lohnsystem, wäre eine Art Einheitslohn. Denn die Coiffeuse und der Bauarbeiter tragen zur Aufrechterhaltung der herrschenden gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ordnung ebenso einen unverzichtbaren Teil bei wie der Informatiker, die Universitätsdozentin und der Bankdirektor. Und weshalb sollen sie daher nicht auch über das gleiche Einkommen verfügen? Logisch, dass sich ein Einheitslohn nicht von heute auf morgen verwirklichen liesse, aber nur schon die Diskussion darüber könnte uns die Augen dafür öffnen, in welche Richtung sich die Definition einer “gerechten Entlöhnung” inskünftig bewegen könnte. Man mag die Idee eines Einheitslohns heute noch als “naiv”, “welt- und realitätsfremd” abtun. Dennoch wäre eine solche Vision um ein Vielfaches weniger absurd und ungerecht als die heutige “Realität”, die es zulässt, dass Abertausende von Menschen rein aufgrund von Börsengewinnen, Dividenden, Erbschaften unsäglich reich werden, ohne dafür einen Finger krümmen zu müssen, während gleichzeitig Zehntausende von Menschen trotz härtester Arbeit nicht einmal genug verdienen, um den Lebensunterhalt einer Familie einigermassen bestreiten zu können. Wenn Markus Somm den “Linken” vorwirft, sie verstünden nichts von wirtschaftlichen Zusammenhängen, so müsste man ihm den Vorwurf machen, ganz offensichtlich nicht allzu viel zu verstehen von sozialer Gerechtigkeit…