Es braucht eine neue Gesprächskultur: All die Probleme, die gegenwärtig auf unseren Schultern lasten, sind einfach zu gross, als dass wir uns den Luxus leisten könnten, uns gegenseitig die Köpfe einzuschlagen…

 

Der kritische Blick eines Schweizers auf Deutschland sei erlaubt. Dies in einer Zeit, da wir uns fürwahr nicht über einen Mangel an Krisen beklagen können: Klimawandel, Bedrohung der natürlichen Lebensgrundlagen, Energieknappheit, Inflation, steigende Lebenskosten, Wohnungsnot, der Krieg in der Ukraine, Migration und Nachwirkungen der Coronapandemie. Freilich beschäftigen auch uns Schweizerinnen und Schweizer diese Themen, und doch scheint mir der Tonfall der öffentlichen Auseinandersetzung in Deutschland um einiges härter und aggressiver zu sein als hierzulande: in den Talkshows am Fernsehen, wo kaum je miteinander, sondern meist nur aneinander vorbei geredet wird, in den Bundestagsdebatten, wo stets die gleichen Fronten unverbesserlich aufeinander prallen, auf öffentlichen Plätzen, wo Rednerinnen und Redner regelrecht niedergebrüllt werden, in den sozialen Medien, wo man sich akribisch auf nur schon die geringsten Missgeschicke des “gegnerischen” Lagers stürzt.

Vielleicht sind es einfach zu viele Krisen, zu viele Bedrohungen, zu viele Ängste aufs Mal. Aber indem jeder die Schuld nur immer bei den anderen sucht und nie bei sich selber, kommen wir nicht weiter. Die Schuld, dass so vieles aus dem Ruder geraten ist, liegt nämlich nicht so sehr bei einzelnen Politikern oder Vertreterinnen unterschiedlicher Weltanschauungen, sondern zur Hauptsache in jenem Kapitalismus genannten Wirtschaftssystem, in dem wir so tief verwurzelt leben, als gäbe es dazu nie und nimmer eine Alternative. Die Coronapandemie hätte es wahrscheinlich nie gegeben, wenn nicht der Mensch in unersättlicher Profitgier immer mehr in bisher unberührte Lebensgebiete von Wildtieren eingedrungen wäre, was die Gefahr einer Übertragung von Krankheitserregern immer wahrscheinlicher macht, und wenn nicht wieder kapitalistische Profitgier die Globalisierung so vehement immer weiter vorantreiben würde, dass auch die Verbreitung von Krankheitserregern immer schneller vonstatten geht. Auch den Klimawandel gäbe es höchstwahrscheinlich nicht, wenn nicht der unselige kapitalistische Wachstumszwang, wonach die Wirtschaft nie still stehen darf, sondern unaufhörlich wachsen muss, auf diese Weise zu einer immer stärkeren Belastung der Umwelt und der natürlichen Lebensgrundlagen führen würde. Auch zunehmende Flüchtlingsströme sind eine logische Folge kapitalistischer Weltwirtschaftspolitik, einerseits infolge jahrhundertelanger kapitalistischer Ausbeutung, anderseits durch die Folgen des Klimawandels wie auch durch kriegerische Auseinandersetzungen, bei denen nur zu oft wirtschaftliche Interessen der Grossmächte eine wichtige Rolle spielen. Auch der Krieg in der Ukraine wäre undenkbar, wenn nicht kapitalistisches Grossmachtdenken sowie Macht- und Expansionsbestrebungen unauflöslich miteinander verstrickt wären, so dass, egal ob in “westlicher” oder “östlicher” Ausprägung, der Krieg nichts anderes ist als die äusserste und perverseste Form von Kapitalismus – wie dies der französische Sozialist Jean Jaurès so trefflich erkannt hatte: “Der Kapitalismus”, sagte er, “trägt den Krieg in sich wie die Wolke den Regen.” Und auch Armut, wirtschaftliche Probleme, Inflation, Wohnungsnot, alles sind Folgen eines Wirtschaftssystems, in dem nicht die soziale Wohlfahrt an oberster Stelle steht, sondern die Profitmaximierung zu Gunsten einer Minderheit auf Kosten der Mehrheit.

“Was alle angeht, können nur alle lösen”, sagte der Schweizer Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt. Ja, mit gegenseitigen Feindseligkeiten, Schuldzuweisungen und dem Niederbrüllen des politischen Gegners werden wir aus der Sackgasse, in die wir uns verrannt haben, nicht herauskommen, solange der Kapitalismus als weltweit herrschendes Wirtschafts- und Denksystem weiterhin sein Unwesen treibt. Drehen wir doch den Spiess um: Reissen wir die feindselig gegeneinander aufgebauten Mauern ein, führen wir unsere Debatten so, dass sich alle gegenseitig zuhören und sich alle Mühe geben, den anderen zu verstehen. All die Probleme, die gegenwärtig auf unseren Schultern lasten, sind einfach zu gross, als dass wir uns den Luxus leisten könnten, uns gegenseitig die Köpfe einzuschlagen. Eine schwere Zeit, die uns oft zur Verzweiflung bringen könnte oder zu Mutlosigkeit und Resignation. Aber zugleich eine Zeit, die uns die einmalige Chance bietet, unsere bisherigen Denkvorstellungen, Lebensgewohnheiten, Machtgebilde und gesellschaftspolitischen Muster radikal in Frage zu stellen, um ein unerwartetes, hoffnungsvolles, neues Land zu entdecken: ein Land, in dem weltweit alle Güter gerecht verteilt sind und niemand mehr gezwungen ist, seine eigene Heimat verlassen zu müssen, ein Land, in dem so etwas Absurdes wie Kriege, Reichtum einer Minderheit auf Kosten der Mehrheit und masslose Verschwendung von Ressourcen auf Kosten zukünftiger Generationen für immer der Vergangenheit angehören. Dazu gibt es nicht wirklich eine Alternative. Denn, wie schon der amerikanische Bürgerrechtskämpfer Martin Luther King sagte: “Entweder werden wir als Brüder und Schwestern gemeinsam überleben oder als Narren miteinander untergehen.”