“Moderne” Partnerschaften und Arbeitsteilung: An erster Stelle müsste immer die Gerechtigkeitsfrage stehen…

 

Sämtliche Artikel, Bücher, Fernsehdiskussionen und Zukunftsideen über “Frauenrollen” und “Männerrollen”, “Emanzipation” und zeitgemässe Aufgabenteilung zwischen Haus- und Erwerbsarbeit, die ich bisher gelesen oder gesehen habe, sprechen immer generell von Männern und Frauen, als sei es völlig unerheblich, in welchen sozialen und gesellschaftlichen Verhältnissen die betroffenen Menschen leben. Dabei ist es doch offensichtlich: Was für die einen schon fast selbstverständlich scheint, davon wagen andere nicht einmal zu träumen. Der Informatiker kann es sich locker leisten, nur zu 70 oder 80 Prozent zu arbeiten und sich während der übrigen Zeit an der Haushaltsarbeit und der Kinderbetreuung zu beteiligen, selbst wenn seine Frau keiner Erwerbsarbeit nachgeht – das Einkommen reicht immer noch für ein gutes Leben. Ganz anders der Schichtarbeiter, der mit seinem kärglichen Lohn mindestens zu 100 Prozent arbeiten muss, um seine Familie durchzubringen, er hat schlicht und einfach keine andere Wahl. Vielleicht muss sogar seine Frau ebenfalls einer Erwerbsarbeit nachgehen, um gemeinsam über die Runden zu kommen und sich trotz widrigster äusserer Umstände den einen oder anderen kleinen “Luxus” leisten zu können.

So müssen Artikel, Bücher, Fernsehdiskussionen und Zukunftsideen über “moderne” Partnerschaften und Arbeitsteilung für all jene, die sich dies, selbst wenn sie es möchten, schlicht und einfach gar nicht leisten können, so etwas sein wie eine schallende, ohrenbetäubende Ohrfeige, welche die ohnehin schon tiefe Kluft zwischen privilegierten und weniger privilegierten Gesellschaftsschichten nur noch weiter ins Unermessliche vertieft. “Modern” zu sein, ist den Privilegierten vorbehalten, die weniger Privilegierten müssen sich damit abfinden, zugleich zu allen anderen Diskriminierungen auch noch als “altmodisch” oder “ewiggestrig” zu gelten.

Deshalb müsste jedem Artikel, jedem Buch, jeder Fernsehdiskussion und jeder Zukunftsidee über “moderne” Partnerschaften und Rollenverteilung die Gerechtigkeitsfrage vorausgehen. Echter gesellschaftlicher Fortschritt kann nur erfolgen, wenn die materiellen Verhältnisse so sind, dass sich auch alle das tatsächlich leisten können.

Der erste Ansatz wäre ein Mindestlohn, der nicht bloss knapp zum Überleben reicht. Ein erster kleiner Schritt, der immerhin schon einiges bewirken kann, wie das Beispiel des Kantons Genf zeigt, wo mit 23 Franken der höchste Mindestlohn der Welt gesetzlich eingeführt wurde und damit die finanzielle Lage von rund 30’000 Arbeitnehmenden verbessert werden konnte.

Der zweite Ansatz wäre ein Einheitslohn. Eine Vision, die zugegebenermassen in schier unerreichbarer Ferne liegt. Und doch gäbe es dafür tausend Argumente, ist doch in jeder Gesellschaft und jeder Volkswirtschaft jegliche berufliche Tätigkeit unauflöslich mit allen anderen beruflichen Tätigkeiten verbunden, von ihnen abhängig und auf sie angewiesen. Kein Bankdirektor könnte seinen Job ausüben, wenn nicht irgendwer das Brot backen und das Gemüse ernten würde, das er isst, und niemand die Kleider nähen würde, die er trägt – um nur ein einziges von Millionen von Beispielen zu nennen. Jahrhundertelanges Unrecht hat sich so tief in unser Denken eingegraben, dass wir uns einen gleichen Lohn für sämtliche berufliche Tätigkeit schon gar nicht vorstellen können, während wir uns gleichzeitig kaum an der Tatsache stören, dass Spitzenverdienerinnen und Spitzenverdiener bis zu 10’000 Franken pro Stunde verdienen, während es schon als sozialpolitisches Erdbeben gefeiert wird, wenn in irgendeinem Kanton ein Mindestlohn von 23 Franken eingeführt wird. 

Zurück zur Realität. Einen Einheitslohn werden wir weder heute noch morgen verwirklichen können, obwohl er die logischste Sache der Welt wäre. Aber was wir können, ist, bei jeder sozialpolitischen Diskussion die Gerechtigkeitsfrage nie aus den Augen zu verlieren. Denn echter gesellschaftlicher Fortschritt ist nicht möglich, solange solche “Fortschritte” bloss Privilegien einzelner Gesellschaftsschichten sind auf Kosten anderer.