Tragischer Todesfall auf der Tour de Suisse: Doch das ist nur die Spitze jenes tödlichen Konkurrenzkampfs, der immer gefährlichere und absurdere Formen annimmt…

 

Der Schweizer Radprofi Gino Mäder ist den schweren Verletzungen, die er sich infolge seines fürchterlichen Sturzes an der Tour de Suisse bei über hundert Stundenkilometern auf der Abfahrt vom Albulapass zugezogen hatte, erlegen. “Die Radwelt steht still”, titelt der “Tagesanzeiger” am 17. Juni 2023. Anstelle der nächsten Etappe findet am folgenden Tag eine Gedenkfahrt zu Ehren Gino Mäders statt. Als die sechs Fahrer seines Teams geschlossen über die Ziellinie fahren, brandet in den Zuschauerrängen Applaus auf. Auf einer Grossleinwand ist Mäders Bild zu sehen, versehen mit dem Schriftzug “We ride for you, Gino!” Nach der Gedenkfahrt finden die Athleten nur wenige Worte. Einer sagt: “Das Leben ist nicht immer fair.” Und ein anderer: “Ich hatte immer das Gefühl, dass er wieder auftaucht, leider ist es aber so, dass er nicht mehr bei uns ist.”

Kaum zu glauben. Da wird seit Jahren alles daran gesetzt, Wettkämpfe im Spitzensport – vom Kunstturnen über das Skirennfahren und Tennisspielen bis zum Radfahren – immer schneller, härter, spektakulärer und gefährlicher zu machen – und dann wundert man sich, wenn die geschundenen Körper nicht mehr mitmachen, schwere Verletzungen oft zu lebenslangen Beeinträchtigungen führen oder gar Menschen zu Tode kommen. Als würden Kinder mit Streichhölzern bei einem Heustall spielen und sich dann wundern, wenn plötzlich der ganze Stall in Flammen aufgeht.

Der Spitzensport bildet die augenfälligste, extremste und zerstörerischste Spitze des Konkurrenzprinzips, das die Menschen in einen gnadenlosen gegenseitigen Konkurrenzkampf zwingt, der naturgemäss immer absurdere Formen annimmt, nicht nur bei sportlichen Wettkämpfen, sondern auch in der Wirtschaft, der Arbeitswelt und ganz besonders früh schon in den Schulen, wo die Kinder dazu angehalten werden, nicht gemeinsam, miteinander und füreinander zu lernen, sondern in gegenseitigem Wettstreit möglichst gute Noten, Zeugnisse und Zukunftschancen zu erkämpfen. Dass es dabei immer absurder und zerstörerischer zu- und hergeht, liegt daran, dass es ganz vorne, an der Spitze, immer enger wird: Wenn eine Kunstturnerin eine neue Figur entwickelt hat, die an Schwierigkeit und Gefährlichkeit alles Bisherige in den Schatten stellt, dann sind alle anderen Kunstturnerinnen gezwungen, sich diese Figur ebenfalls anzueignen oder, wenn möglich, eine noch schwierigere und gefährlichere Figur einzuüben. Wenn der schnellste Fahrer an der Tour de Suisse mit hundert Stundenkilometern vom Albulapass hinunterrast, sind alle anderen Fahrer gezwungen, sich mindestens so schnell, oder wenn möglich noch schneller, den Berg hinunterzustürzen. Wenn der “beste” Schüler so lange mit zusätzlichem Privatunterricht gedrillt wurde, bis er unangefochten an der Spitze der Klasse steht, dann sind alle seine Mitschülerinnen und Mitschüler dazu gezwungen, einen mindestens so hohen oder, wenn möglich, noch einen grösseren Aufwand zu bestreiten, um den Anschluss nicht zu verlieren. Das Konkurrenzprinzip führt sich selber ad absurdum, weil es für einen immer kleineren Erfolg einen immer grösseren Aufwand erfordert und dabei allen daran Beteiligten, die gar keine andere Wahl haben, immer grössere Leiden, Zerstörungen und Opfer abverlangt. 

Tragische “Einzelfälle” wie der Tod eines Radprofis sollten nicht bloss dazu führen, dass die Sportwelt für einen Tag lang “still steht”, Tränen vergossen werden, man hilflos um Worte ringt, Trauerfahrten und Gedenkfeiern zelebriert werden. Sie sollten vielmehr dazu führen, das so zerstörerische und immer absurdere Formen annehmende Konkurrenzprinzip grundsätzlich zu hinterfragen. Daran werden all jene, denen – als Unternehmen, Sponsoren, Werbeträgern, Sportverbänden, usw. – fette Gewinne entgehen könnten, sowie all jene, die sich – als Zuschauende – nicht mehr an der Waghalsigkeit und dem prickelnden Gefühl, es könnte jederzeit etwas ganz Furchtbares geschehen, ergötzen können, freilich keine Freude haben. Umso grössere Freude dürften wohl all jene haben, die nicht mehr dazu gezwungen wären, im gegenseitigen Wettkämpfen solche Opfer zu erbringen und gar ihr Leben aufs Spiel zu setzen. Einer der Fahrer sagte, Gino schaue jetzt allem “von oben” zu. Eines ist sicher: “Dort oben” wird er sich nicht mehr mit hundert Stundenkilometern auf zwei wackligen Rädern in die Tiefe stürzen…