Die DDR: ein “gescheiterter” Staat?

 

Tagesschau am Schweizer Fernsehen, 8. Juli 2023: Berichtet wird über die Schliessung des DDR-Museums in Dresden infolge massiv gesunkener Besucherzahlen. Der Nachrichtensprecher sagt, in diesem Museum seien “Erinnerungen an einen gescheiterten Staat” ausgestellt gewesen. Doch nicht alle scheinen die Auffassung vom “gescheiterten” Staat zu teilen, einer der letzten Museumsbesucher meint im Interview: “Nein, in der DDR war nicht alles schlecht.” In der Tat, wer sich die 40jährige Geschichte der DDR etwas genauer anschaut, wird wohl ebenfalls zum Schluss kommen, dass in der DDR tatsächlich nicht alles schlecht war. So, wie es auch Katja Hoyer in ihrem in diesem Jahr erschienen Buch “Eine neue Geschichte der DDR” beschreibt, aus dem ich im Folgenden einige Passagen zitiere, wohl wissend, dass es auch sehr viel “Schlechtes” gab, aber darüber ist schon so viel geschrieben worden, dass es nicht sehr viel bringt, es immer und immer wieder zu wiederholen…

Nach den überaus schwierigen und entbehrungsreichen Nachkriegsjahren, so Hoyer, habe der Lebensstandard in der DDR ab etwa 1950 merklich zu steigen begonnen, das Durchschnittseinkommen hätte sich zwischen 1950 und 1960 fast verdoppelt. Und dies, obwohl die DDR nach dem Krieg hohe Reparationszahlungen an die Sowjetunion entrichten musste, von einem gewaltigen Raubbau an einem Grossteil der intakt gebliebenen Industrie- und Geleiseanlagen durch die Sowjetunion betroffen war wie auch durch eine massive Abwanderung von Fachkräften, zudem nicht, wie Westdeutschland, von einem grosszügigen Marshallplan profitieren konnte und im Vergleich zu Westdeutschland nur über geringe Bodenschätze verfügte. 

Besonders gross war in der DDR von Anfang an das Bemühen um die Gleichberechtigung der Geschlechter. “Ostdeutsche Frauen”, so Hoyer, “hatten ein soziales Leben ausserhalb des häuslichen Bereichs. Sie gingen abends mit ihren Arbeitskollegen ein Bier trinken und fühlten sich als Teil der Gesellschaft, wie es sich in Westdeutschland erst viel später entwickelte. Während in der DDR 1955 etwas mehr als die Hälfte aller Frauen erwerbstätig war und diese Quote bis 1970 auf zwei Drittel anstieg, war in der BRD im Jahr 1950 nur ein Drittel der Frauen erwerbstätig und 1970 waren es nur 27,5 Prozent.”

Bald “schossen kulturelle Einrichtungen wie Theater, Konzerthallen und Kinos überall aus dem Boden und erfreuten sich grosser Beliebtheit. Immer mehr begannen sich die Menschen in der DDR von den politischen, wirtschaftlichen, sozialen und psychischen Folgen des Krieges zu erholen.” Auch seien die sozialen Unterschiede viel geringer gewesen als im Westen: “Im Vergleich zu den politischen Führern anderer Nationen lebten die Eliten der DDR in bescheidenen Verhältnissen, ihre Häuser waren luftig und geräumig, doch keinesfalls extravagant oder luxuriös.” Viel sei getan worden, um möglichst vielen Bürgerinnen und Bürgern grosszügig subventionierte Urlaubsmöglichkeiten zu bieten, Ferienhäuser am Meer, Hotels, Campingplätze und Bungalows in Bergregionen, Waldgebieten oder an Seen.

Auch der wirtschaftliche Aufschwung hätte sich sehen lassen: “Selbst das westdeutsche Zentrum für Historische Sozialforschung in Köln befand, dass der DDR zwischen 1961 und 1967 allmählich der Anschluss an den Westen gelinge. In diesem Zeitraum verzeichnete die ostdeutsche Wirtschaft ein Wachstum von etwa fünf Prozent, so dass man allgemein den Eindruck hatte, dass die Dinge vorankamen und die DDR zu einem stabilen Staat mit funktionierendem Wirtschaftssystem wurde.” Der technische Fortschritt sollte mit dem sozialen Fortschritt einhergehen: “1965 führte die Regierung eine Reihe von Bildungsreformen ein, um den Aufbau einer klassenlosen Gesellschaft zu gewährleisten. Deshalb besuchten alle Kinder in den ersten zehn Jahren ihrer Schulzeit eine Gesamtschule, die Polytechnische Oberschule. Dort erwarben sie neben der allgemeinen Schulbildung auch eine Reihe praktischer Fertigkeiten. Im Gegensatz zum dreigliedrigen System in Westdeutschland, das die Kinder schon in jungen Jahren nach ihren Fähigkeiten einteilte, sollte damit sichergestellt werden, dass Benachteiligungen im kulturellen Umfeld des Elternhauses durch Bildung ausgeglichen würden. Diejenigen, die ein Hochschulstudium anstrebten, mussten gleichzeitig eine Berufsausbildung absolvieren, in der Regel in der Landwirtschaft oder in der Industrie, sodass sie neben einem akademischen auch einen beruflichen Abschluss erwarben. So blieben Intellektuelle, Wissenschaftler und Akademiker weiterhin kulturell mit der Arbeiterklasse verbunden. Wer eine Universität besuchte oder einen akademischen Beruf ausübte, hatte auf diese Weise eine Vorstellung davon, wie das Leben eines Maschinenarbeiters oder eines Milchbauern aussah. Alle Kinder wurden von klein auf mit praktischer Arbeit vertraut gemacht. Obendrein war der Staat bemüht, ehrgeizigen Menschen in jeder Phase ihres Lebens eine Weiterbildungsmöglichkeit zu bieten. Dies führte zu einer beispiellosen sozialen Aufwärtsmobilität für Menschen aus bescheidenen Verhältnissen. Dies war so effektiv, dass 1967 etwa ein Drittel der Universitätsstudenten in der DDR aus der Arbeiterschicht stammte, während es in Westdeutschland lediglich 3 Prozent waren.” 

“Im Grossen und Ganzen verbesserte sich das Leben der Ostdeutschen zwischen 1960 und 1970 enorm. 1967 wurde die Samstagsarbeit abgeschafft und die Wochenarbeitszeit auf 43,75 Stunden bei gleichem Lohn reduziert. Der monatliche Mindestlohn stieg von 220 auf 300 Mark mit der Massgabe, die Löhne schrittweise anzuheben, sofern sie noch unter 400 Mark lagen. Das Kindergeld stieg von 40 auf 60 Mark für das erste Kind und von 45 auf 70 Mark für weitere Kinder. Subventionen für Mieten, Lebensmittel, Aktivitäten und öffentliche Verkehrsmittel machten das Leben erschwinglich. Ein Kinobesuch kostete ganze 50 Pfennig. Es entwickelte sich eine rege Freizeitkultur, auch die Gastronomie wurde zu einem Wachstumsbereich. Die unaufhaltsame Entwicklung in Richtung eines modernen Lebensstils war überall sichtbar.”

“Zwischen 1969 und 1973 stieg die Arbeitsproduktivität um 23 Prozent. Die meisten Historiker sind sich heute einig, dass die Wirtschaft in der ersten Hälfte der 1970er-Jahre stetig wuchs und und mit einer stabilen Zunahme des Bruttosozialprodukts einherging. Dies hatte zur Folge, dass der Staat enorme Summen in Wohnungsbau, Sozialwesen und Freizeitgestaltung investierte. Die Mieten waren so stark subventioniert, dass die DDR-Bürger ihre Wohnungen problemlos bezahlen konnten. Damals musste ein Vierpersonenhaushalt in Westdeutschland rund 21 Prozent des Nettoeinkommens für Mietkosten aufbringen, während es für eine ähnliche Haushaltsgrösse im Osten lediglich 4,4 Prozent waren. Auch die Versorgung der Bevölkerung mit Konsumgütern machte grosse Fortschritte. 1975 besass mehr als ein Viertel der Haushalte ein Auto, 1970 waren es erst 15 Prozent gewesen, und bis zum Ende des Jahrzehnts sollte diese Zahl auf 38 Prozent steigen. Zudem war 1980 nahezu jeder Haushalt mit Kühlschrank, Fernseher und Waschmaschine ausgestattet.”

“Selbst Marianne Strauss, die Ehefrau des damaligen bayrischen Ministerpräsidenten Franz Josef Strauss, meinte anlässlich eines Staatsbesuchs in der DDR anfangs 1982, wie sehr sie das umfassende ostdeutsche System zur Kinderbetreuung, die finanziellen Hilfen für junge Paare sowie die Unterstützung von Frauen während und nach der Schwangerschaft am Arbeitsplatz bewundere. Sie bedaure, dass das Fehlen solcher Massnahmen in Westdeutschland zu einem Bevölkerungsrückgang führe.”

Die DDR hätte, so Hoyer, auch Ende der 80er-Jahre den Eindruck eines stabilen Landes mit einem vergleichsweise hohen Lebensniveau gemacht: “Es herrschte Vollbeschäftigung, und durch die subventionierten Mieten, Lebensmittel, Kulturangebote und Einrichtungen zur Kinderbetreuung gab es kaum Anlass für existenzielle Sorgen. Zu einer Zeit, als Westdeutschland mit einer Arbeitslosenquote von rund 8 Prozent rang und viele Beschäftigte um ihre Stellen bangten, mussten ostdeutsche Familien keinen unerwarteten Einkommensverlust fürchten oder Angst haben, die Miete nicht mehr bezahlen zu können. Geselligkeit und Freizeitaktivitäten standen hoch im Kurs. Klubhäuser, Schrebergärten, Gaststätten, öffentliche Grillplätze und Partyräume in Wohnblocks waren beliebt. Die Mehrheit der Ostdeutschen wünschte sich 1988 weder die Abschaffung des Staates noch eine baldige Wiedervereinigung mit dem Westen. Die DDR war eine hochgebildete, hoch qualifizierte und hoch politisierte Gesellschaft, die selbstbewusst und stolz auf ihre Errungenschaften war und sich weiterentwickeln wollte.”

Allen, die von der DDR als einem “gescheiterten” Staat sprechen, sei dieses Buch von Katja Hoyer, die freilich auch in Bezug auf die Schattenseiten der DDR kein Blatt vor den Mund nimmt, wärmstens empfohlen. Nein, in der Tat war in der DDR nicht alles schlecht. Ganz im Gegenteil. Leider wurde bei der “Wiedervereinigung” der BRD mit der DDR 1989 die historische Chance verpasst, die Vorzüge des westlichen Systems – Meinungs- und Gedankenfreiheit – mit den Vorzügen des sozialistischen Systems – soziale Gerechtigkeit – zu verbinden und damit etwas von Grund auf Neues zu schaffen, das für die ganze Welt ein Vorbild hätte sein können…