Der namenlose Spitzenakrobat ohne Publikum

Vier Visiere, je etwa 45 Meter hoch, stehen seit ein paar Monaten auf dem Baugrund des geplanten Hochhauses, um die Ausmasse des Gebäudes zu markieren, vier Türme aus einem Stahlrohrgerüst, schmal und schwankend in die Höhe ragend, gesichert durch Drahtseile an jeder Ecke. Nun, da der Baubeginn unmittelbar bevorsteht, müssen die Visiere wieder abgebaut werden. Und als ich heute zufällig an der Stelle vorbeikomme, traue ich meinen Augen kaum…

Zuoberst auf einem der schwankenden Stahlrohrtürme steht ein Bauarbeiter und ist damit beschäftigt, die Stahlrohre von oben nach unten auseinanderzuschrauben und mithilfe eines Seils in die Tiefe zu lassen. Er balanciert auf zwei Brettern, die auf den obersten Stangen aufliegen. Eine Herkulesaufgabe in schwindelerregender Höhe, hat doch jede der Stangen, die er unter Aufbietung aller seiner Kräfte auf die jeweilige nächstuntere Stange legen muss, ein Riesengewicht. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie er die zwei Bretter, sobald die oberen Stangen abgetragen sind, auf die nächstunteren Stangen zu legen vermag, die sich etwa zwei Meter unterhalb der Stelle befinden, wo er jetzt gerade steht. Muss er sich den schräg angebrachten Querstangen hinunterzuhangeln versuchen? Aber wie soll er gleichzeitig die Bretter von oben nach unten bringen können? Und wenn eines unten ist, wie holt er dann das andere? Aber noch mehr beschäftigt mich die Frage, wie er überhaupt zuoberst auf den Gerüstturm gelangen konnte. Er musste sich über 45 Meter hinauf Stange um Stange hinaufgehievt haben, um jeweils wieder die nächsten zwei Meter zur nächsthöheren Stange zu überwinden. Und die Bretter, die jetzt zuoberst liegen, zog er die gleich mit in die Höhe oder gelangten die erst ganz am Schluss auf die oberste Stelle, aber wie kam dann das Seil in die Höhe, musste er dieses mit hinauf schleppen, von Stange zu Stange in immer gefährlicherer Höhe balancierend? Und das alles in einer Hitze von weit über 30 Grad…

In keinem Zirkus habe ich jemals eine solche Nummer gesehen. Und doch gibt es da weit und breit kein Publikum, keinen Applaus, keine Standing Ovations. Der Bauarbeiter, der heute dieses Gerüst abträgt, tut schlicht und einfach seine Arbeit, an der äussersten Grenze körperlicher Belastbarkeit, tödlicher Gefahr ausgesetzt. Wie unzählige andere Arbeiterinnen und Arbeiter, hierzulande und weltweit, die Tag für Tag ohne jeglichen Applaus und ohne jegliches Publikum still und fleissig namenlos ihre Schwerstarbeit verrichten. Damit dann andere, wenn die Visiere abgetragen und das neue Hochhaus dort gebaut sein wird, mit dem Vermieten von Büros, Geschäftslokalen und Wohnungen um ein Vielhundertfaches dessen an Profiten einfahren werden, als der namenlose Spitzenakrobat dieses 16. August 2023 jemals auf seinem Lohnkonto sehen wird. Darüber, wie der Kapitalismus funktioniert, braucht man keine Bücher und keine wissenschaftlichen Arbeiten zu lesen. Es genügt, an all den Brennpunkten, wo seine Widersprüche so gnadenlos aufeinanderprallen, nicht achtlos vorüberzugehen…