Kahlschlag im Detailhandel

Im Schweizer Detailhandel gingen zwischen 1992 und 2018 fast 53’000 Stellen verloren. Die beiden Hauptgründe sind das Einkaufen im Ausland und das Online-Shopping. Jährlich geben Schweizerinnen und Schweizer beim Einkaufen im Ausland schätzungsweise rund 8 Milliarden Franken aus. Beim Online-Shopping stiegen die Umsätze von 1,4 Milliarden Franken im Jahr 2005 auf 8,6 Milliarden Franken im Jahr 2017.

(10vor10, SRF1, 8. Januar 2019)

Wer die Veränderungen in der Arbeitswelt kritisiert, der wird meist belehrt, dass, erstens, der technologische Fortschritt unaufhaltsam sei, dass, zweitens, der Konkurrenzkampf zwischen den verschiedenen Anbietern zu tieferen Preisen führe und daher im Interesse der Konsumenten und Konsumentinnen liege und dass, drittens, verloren gegangene Arbeitsplätze an anderen Orten wieder neu entstehen würden. Betrachten wir das am Beispiel des Detailhandels. Zum ersten Argument: Technologischer «Fortschritt» ist nicht gottgegeben. Und er ist auch nicht per se gut. Es steht nirgendwo geschrieben, dass das Internet-Shopping mit allen seinen verheerenden Auswirkungen unausweichlich sei. Es sind ganz konkrete Menschen, die das erfunden, in die Tat umgesetzt, weiterbetrieben und immer weiter ausgebaut haben. Sie hätten es auch sein lassen können. Die Büchse der Pandora kann man, wenn nichts Gutes dabei herauskommt, auch wieder schliessen. Was technisch möglich ist, muss nicht automatisch auch umgesetzt werden – stets sollte das Wohlergehen von Mensch und Natur an oberster Stelle stehen. Zum zweiten Argument: Tiefe Preise bedeuten nichts anderes als tiefe Löhne für das Verkaufspersonal und für die Produzenten. Zudem erhöhen sie den Spardruck, der auf dem einzelnen Betrieb lastet, worunter wiederum vor allem das Verkaufspersonal leidet, indem die Löhne stagnieren oder gar sinken und «überflüssige» Angestellte entlassen werden, wodurch Arbeitsdruck, Stress und körperliche Belastung für das verbleibende Personal zunehmen. Zum dritten Argument: Tatsächlich entstehen an anderen Orten neue Arbeitsplätze. Aber welches ist die Qualität dieser Arbeitsplätze? Ich erinnere mich an den Sportartikelverkäufer, der mir Turnschuhe verkaufte und mir dabei bis ins letzte Detail die Unterschiede zwischen den verschiedenen Marken erklären konnte. Ich erinnere mich an die Buchhändlerin, die mir meine Vorlieben von den Augen abzulesen schien, mir eine durch und durch passende Auswahl an Büchern präsentierte und den Inhalt jedes einzelnen kurz beschrieb. Ich erinnere mich an den Verkäufer im Elektrofachgeschäft, der mir mehrere TV-Geräte zeigte und dabei die technischen Daten bis ins Kleinste aufzeigen konnte. Und dann stelle ich mir vor, dass dieser Sportartikelverkäufer, diese Buchhändlerin und dieser Elektrofachverkäufer in fünf oder zehn Jahren irgendwo in einer Verpackungszentrale eine Onlineshops arbeiten werden, ohne menschliches Gegenüber, ohne irgendeinen Bezug zum Inhalt der herumgeschobenen und aufeinandergestapelten Pakete, gejagt von einem Geschwindigkeitsmesser, der rot aufleuchtet und ein grelles Signal von sich gibt, wenn zu wenig schnell gearbeitet wird.

Bei alledem dürfen wir nicht vergessen, dass es nicht bloss anonyme Mächte sind, die unser Leben, unsere Art des Konsumierens und unsere Arbeitswelt bestimmen. Ebenso dazu gehört der kapitalistisch gesteuerte Mensch, der das Spiel mitspielt und stets jenen Produkten und Dienstleistungen hinterherrennt, die am billigsten sind. Niemand zwingt ihn dazu. Ebenso gut könnte er dort einkaufen, wo die freundlichsten Verkäufer und Verkäuferinnen am Werk sind und faire Preise eine gerechte Entlöhnung und menschenwürdige Arbeitsbedingungen gewährleisten. Tragen wir nicht auch so etwas wie eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung? Vielleicht ist ja mein Nachbar in einem Lebensmittelgeschäft tätig. Eine gute Freundin arbeitet vielleicht in einem Modegeschäft, eine andere in einer Geschenkboutique. Und mein Sohn möchte vielleicht später einmal in einem Fahrradgeschäft arbeiten. Können wir es verantworten, stets nur dem Bequemsten, Schnellsten und Billigsten nachzurennen und damit in letzter Konsequenz einen ganzen Berufszweig – voller wunderbarer Menschen mit wunderbaren Fähigkeiten – zu zerstören?