«Der verwöhnte Westen muss sich warm anziehen»

Politische, wirtschaftliche, gesellschaftliche und militärische Vorherrschaft durch Technologie – auf diese Formel lassen sich die chinesischen Ambitionen bringen, glaubt man einem Spezialisten der Fachzeitschrift «Foreign Affairs». So hat technologische Vormachtstellung für das Reich der Mitte weit mehr als eine ökonomische Dimension. Hierfür bedarf es einer mindestens so konsequenten Innenpolitik, soll das ganze Gebäude nicht am Widerstand der Bevölkerung zerbrechen. Mittlerweile soll die ganze Kommunikation auf Social Media kontrollierbar sein, die Sammlung von Kauf-, Bewegungs-, Gesundheits-, Steuer- und anderer Daten durch den Staat ist umfassend und Internetzensur ohnehin Realität. Mit Gesichtserkennung, Mobilitätsdaten sowie künstlicher Intelligenz werden «Cities» erst richtig «smart». Die neuen Technologien erlauben somit die Steuerung nicht nur der individuellen Bewegungen, sondern überhaupt der öffentlichen Meinung. China hat verstanden, dass sich mit den neuen Technologien alle Bereiche – die Wirtschaft, die Gesellschaft, die Politik und das Militär – in ihrer Gänze durchdringen lassen. Wer mit dem technologischen Vorsprung nicht nur die Verteidigung nach aussen, sondern ebenso die Kontrolle nach innen und auch den wirtschaftlichen Nutzen im Griff hat, hat den Schlüssel zur Supermacht in der Hand. Der verwöhnte Westen und ganz besonders Europa müssen sich warm anziehen.

(Katja Gentinetta, politische Philosophin, in: NZZ am Sonntag, 10. Februar 2019)

Wenn Katja Gentinetta postuliert, der «verwöhnte Westen» müsse sich «warm anziehen», um sich gegen die aufkommende Supermacht China behaupten zu können, so würde dies ja im Klartext bedeuten, dass auch wir im Westen eine vergleichbare Vorherrschaft der Technologie über Politik und Gesellschaft anstreben müssten, denn dies ist ja das angebliche Erfolgsrezept Chinas. Ein gefährlicher Gedanke, wenn wir an all die Auswüchse des chinesischen Überwachungsstaates denken. Wäre es nicht gescheiter, dem chinesischen «Erfolgsmodell» bewusst etwas radikal anderes entgegenzusetzen, nämlich die Abkehr vom «Weltmachtdenken» und die Vision einer einzigen Welt gleichberechtigter Partner, um in globaler Zusammenarbeit und gegenseitigem Erfahrungsaustausch zwischen allen Regionen und Ländern der Erde über Sinn und Zweck technologischer und gesellschaftlicher Errungenschaften zum Wohle der Menschheit nachzudenken.