Der Mensch wird zum Feind des Menschen

«Mein Körper ist gebrochen und nicht mehr zu reparieren», sagte Lindsey Vonn im Hinblick auf ihren Rücktritt als aktive Skirennfahrerin. Sie ist nicht die Einzige, es liessen sich beliebig viele weitere Namen aufzählen. Vreni Schneider, Dominique Gysin, Aksel Svindal. Das gängige Bild des zurückgetretenen Skirennfahrers. Sein Körper ist malträtiert von Tausenden Schlägen auf die Gelenke, geschunden vom Malochen im Kraftraum, zertrümmert von Dutzenden Stürzen. Doch es betrifft nicht nur Athleten im gestandenen Sportleralter, sondern auch ganz junge. Man würde derzeit, so Walter O. Frey, Chefarzt bei Swiss-Ski, Daten sammeln über 13- und 14-jährige Alpinfahrer. Fast die Hälfte der 200 Athleten hat dauernd Schmerzen…

(Tages-Anzeiger, 12. Februar 2019)

Das ist die fatale, auf die äusserste Spitze getriebene Folge des Konkurrenzprinzips: Die Beteiligten werden zu Widersachern ihrer selbst. Wenn sich A. so schnell wie er nur kann die Skipiste hinunterstürzt, muss B., um ihn bezwingen zu können, noch ein bisschen schneller sein, was wiederum A. dazu zwingt, ein noch höheres Risiko einzugehen und noch schneller zu fahren. Der Mensch wird zum Feind des Menschen. Niemals würde Tina Weirather Michaela Shiffrin im täglichen Leben auch nur das Geringste zuleide tun. Doch kaum sind sie auf der Skipiste, tun sie nichts anderes als sich gegenseitig grösst mögliches Leid zuzufügen, denn jedes Leiden bei der einen Skirennfahrerin verstärkt das Leiden bei der anderen und umgekehrt. Wie die russischen und rumänischen Kunstturnerinnen: Je härter und risikoreicher die einen trainieren, umso härter und risikoreicher müssen die anderen trainieren, um bei den nächsten Weltmeisterschaften erfolgreich zu sein. Und weil dabei die Sprünge immer anspruchsvoller werden, die gezeigten Figuren immer halsbrecherischer, dreht sich die Spirale, ohne dass die Kunstturnerinnen dies wirklich wollen, gegenseitig immer weiter in die Höhe. Das gleiche bei den chinesischen und japanischen Fabrikarbeiterinnen: Je länger und härter die einen arbeiten, umso länger und härter müssen die anderen arbeiten und umgekehrt. Oder in der Schule: Je mehr Schüler A. für die Prüfung, die auf den nächsten Tag angesetzt ist, büffelt, umso mehr muss Schüler B. büffeln, um möglichst eine gleich gute oder wenn möglich bessere Note zu erzielen. Weil sich in allen Gebieten der gegenseitige Konkurrenzkampf immer mehr verschärft – überall wird alles immer schneller, perfekter und immer mehr auf die Spitze getrieben -, wird das Konkurrenzprinzip früher oder später an einen Punkt gelangen, wo der Mensch schlicht und einfach nicht mehr kann und erschöpft und mit «gebrochenem Körper» liegenbleibt. Und was kommt darnach? Das Zeitalter der Kooperation, der Fürsorge, der Gemeinschaftlichkeit, des Gemeinwohls? Könnten wir nicht, um noch grösseres Leiden zu verhindern, schon heute damit beginnen? Was soll uns davon abhalten?