Im Schatten des Klimawandels

Die Kautschukplantagen der Firma Socfin in Liberia umfassen eine Fläche von 1300 Quadratkilometern, das ist fast die Grösse des Kantons Aargau. Liberia ist eines der zehn wichtigsten Produktionsländer für Kautschuk, stellt selber aber keine Pneus her. Der Kautschuk geht über Antwerpen in die USA, wo er für die Produktion von Pneus der Firmen Michelin und Continental verwendet wird. Die in Liberia gebrauchten Pneus müssen importiert werden, in der Regel handelt es sich um Occasionen, abgefahrene Pneus aus Europa… 2010 wurden die Kautschukplantagen massiv erweitert. Dabei wurden 25 Dörfer von Bulldozern niedergewalzt und die Bewohnerinnen und Bewohner, obwohl sie ein verbrieftes Recht auf ihre Grundstücke besassen, in die Flucht geschlagen. Auch Wasserquellen, Gräber und Kultstätten wurden zerstört… Ein Plantagenarbeiter verdient pro Tag 4 Dollar. Dafür muss er über 650 Bäume ernten und Kessel von 30 Kilo Gewicht über Hunderte von Metern an die nächste Sammelstelle schleppen. Erreicht er das Soll nicht, wird der Lohn um die Hälfte gekürzt. Selbst in der mörderischen Mittagshitze jagen die Arbeiter wie gehetzte Tiere von Baum zu Baum, um das Tagessoll zu erfüllen. Ein Manager der Firma würde wohl sagen, diesen Arbeitern gehe es ja im Vergleich zu den Plantagenarbeitern des 19. Jahrhunderts noch gut, damals nämlich hätte man den Arbeitern, die ihr Tagessoll nicht erreichten, die Hände abgehackt… Der Hauptsitz der Firma Socfin befindet sich im schweizerischen Fribourg. Dieser Standort wurde ausgewählt, weil in der Schweiz die Gewinnsteuern für Rohstoffkonzerne besonders niedrig sind. Die beiden Firmenbesitzer sind Multimilliardäre und frönen so exklusiven Hobbys wie Yachten und Oldtimern. Der Verwaltungsratspräsident hat seinen Wohnsitz im exklusiven Rougement bei Gstaad. Als ein Team der «Rundschau» sein Haus aufsucht, um mit ihm ein Interview zu führen, wird ihnen von dessen Ehefrau mitgeteilt, er sei gerade abwesend. Die Frau regt sich darüber auf, dass das TV-Team ihr Grundstück betreten hat. Offenbar ist ihr der Zynismus dieses Verhaltens nicht bewusst oder sie hat keinerlei Kenntnisse davon, dass vor neun Jahren 25 liberianische Dörfer dem Erdboden gleichgemacht wurden, damit die Firma Socfin jenen Reichtum schaffen konnte, von dem sie und ihr Mann im fernen Rougement nun profitieren…

(Schweizer Fernsehen SRF1, «Rundschau», 20. Februar 2019)

Alles spricht vom Klimawandel. Doch der Klimawandel ist nur eine von zahllosen Folgeerscheinungen des globalisierten kapitalistischen Wirtschaftssystems. Eine andere Folgeerscheinung ist, wie das Beispiel der Kautschukgewinnung in Liberia zeigt, die – nach wie vor gewaltige – Ausbeutung der Länder der «Dritten Welt» durch die Länder der «Ersten Welt». Dass uns – in den reichen Ländern des Nordens – der Klimawandel wachgerüttelt hat, ist nur allzu verständlich, sind wir doch selber unmittelbar davon betroffen. Ebenso sollten uns aber Zustände wie die Kautschukproduktion in Liberia oder die Tatsache, dass jeden Tag weltweit 10’000 Kinder in ihrem ersten Lebensjahr sterben, wachrütteln. Die Überwindung des Kapitalismus, des gemeinsamen Übels aller dieser Missstände, kann nur gelingen, wenn sich Menschen über alle Grenzen hinweg gegenseitig solidarisieren und gemeinsam am Aufbau einer neuen, nicht an Gewinnsucht, Ausbeutung und Wachstum, sondern am Wohl von Mensch und Natur orientierten Wirtschaftsordnung beteiligen.