Überwachungskapitalismus: Wie Frösche, die im kochenden Wasser sitzen

Die Monster im Pokémon-Spiel verlocken Spieler dazu, private Daten zu verraten. Wann gehen sie wohin? Und sie steuern die Spieler, denn die gehen gezielt an Orte, wo es Monster gibt. Niantic, die Firma hinter Pokémon Go, verdient so ihr Geld. Sie verkauft sogenannte Pokéstops an Geschäfte, an einen McDonald’s oder an eine Pizzeria – und die bekommen Laufkundschaft. Das Spiel ist Teil eines ökonomischen Systems, das ich Überwachungskapitalismus nenne. Die Überwachungskapitalisten öffnen die Tür zu unserem Leben, kommen herein und saugen unsere privaten Erlebnisse aus uns heraus. Diesen Rohstoff übersetzen sie in Nullen und Einsen, ohne uns zu fragen, um dann mit ausgefeilten Computertechnologien Vorhersagen über unser Verhalten daraus zu gewinnen… Die Unternehmensberater von McKinsey glauben, dass die Kombination aus großen Datenmengen und künstlicher Intelligenz die Wirtschaft bis 2030 weltweit um 16 Prozent zusätzlich wachsen lässt. Wenn McKinsey oder andere so etwas behaupten, dann ist das entweder ideologisch naiv, oder sie lassen absichtlich außer Acht, was hier gesellschaftlich auf dem Spiel steht. Wir zahlen mit Informationen über unser Leben. Überwachungskapitalisten erklären unser ganzes Menschsein einseitig zu ihrem frei verfügbaren Rohstoff… Klar kann man große Datenmengen – Big Data – auch nutzen, um der Gesellschaft zu helfen, den Krebs zu bekämpfen oder die Klimakrise. Aber dazu brauchen wir keinen Überwachungskapitalismus. Die Überwachungskapitalisten nutzen ihre geheimen Datenwelten ja gerade nicht, um solche Probleme zu lösen. Sie nutzen sie, um Geld zu verdienen… Genau so funktioniert Überwachungskapitalismus: wie ein Einwegspiegel. Die sehen uns, aber wir sehen sie nicht. Die wissen alles über uns, aber wir wissen wenig über sie und ihre Methoden, ihre Maschinen, ihre Algorithmen… Das alles führt zu einer extremen Elitenbildung. Denn so eine ungleiche Verteilung von Wissen hat es in der Geschichte der Menschheit noch nicht gegeben. Das schafft eine neue Dimension der sozialen Ungleichheit – und ein gewaltiges Machtgefälle. Nur einige wenige profitieren vom Wachstum. Wir werden zurückkatapultiert in ein feudales Zeitalter. Ähnlich ist es beim Überwachungskapitalismus. Er kontrolliert Wissen und Macht so, wie wir es von vormodernen Gesellschaften kennen. Es gibt viele Gründe, warum die Überwachungskapitalisten in den vergangenen zwei Jahrzehnten ziemlich ungehindert tun und lassen konnten, was sie wollten. Einer davon ist die Geheimhaltung. Sie haben alles getan, um uns ahnungslos zu halten, um dann im rhetorischen Nebel von Beschönigungen und Verschleierungen gedeihen zu können. Google und Facebook haben so getan, als seien sie unsere Freunde und nicht profitorientierte Firmen, als würden sie uns stark machen, uns befreien. Ich habe eine Zeit lang Lehrbücher von großen Zauberern gelesen. Irreführung ist der Kern eines jeden Zaubertricks. Das Publikum merkt nicht, was wirklich geschieht, weil der Zauberer die Aufmerksamkeit auf etwas anderes lenkt… Was sich Überwachungskapitalisten wünschen: eine total transparente Menschheit.  Leider haben zu viele Menschen die Sicht der Überwachungskapitalisten hingenommen. Sie sind wie der Frosch, der im Wasser sitzen bleibt, das langsam zu kochen beginnt.

(Shoshana Zuboff, Professorin an der Harvard Universität, in: www.stern.de)

Und immer wieder, wenn wir den Kapitalismus des 19. Jahrhunderts mit dem heutigen vergleichen, stellen wir fest: Der Kapitalismus ist nicht weniger bedrohlich und weniger gefährlicher geworden, er ist nur viel raffinierter geworden…