Wie das Kaninchen vor der Schlange

Auch in Norwegen, Schweden, Dänemark und Finnland sind rechtspopulistische Parteien auf dem Vormarsch. Es scheint einen unbeirrbaren Block aus Protestwählern zu geben, der zahlenmässig bei einem Sechstel bis einem Fünftel der Bevölkerung liegt und der seine Stimme immer einer laut und bestimmt auftretenden rechtspopulistischen Partei geben wird, wie zerzaust auch immer sich ihm diese präsentiert… Trotz nationaler Unterschiede gibt es zwischen den verschiedenen rechtspopulistischen Kräften Parallelen: die scharfe Rhetorik, die sich an Ausländern, an der EU und seit neuestem an der «Klimahysterie» abarbeitet und die die Angst vor der Globalisierung und vor Statusverlust instrumentalisiert. Das oft reaktionäre Bild von Familie und Heimat. Die Pose, der Anwalt des kleinen Mannes zu sein, der verraten wird von den städtischen «Eliten»… Das Fatale dabei: Viele der anderen Parteien haben sich längst auf das Spiel der Rechtsaussen eingelassen. Dänemarks Sozialdemokraten etwa eben sich im Gegenzug bisweilen populistischer als die Populisten. Angriffe auf Kulturschaffende durch norwegische Regierungspolitiker, politisch sanktionierte Hetze gegen Migranten in Dänemark – Dinge, die früher kaum denkbar gewesen wären, sind heute normal, die Gesellschaften sind nach rechts gerückt… Weder die Isolierung noch das Einbinden der Rechtspopulisten scheinen in Nordeuropa einen Unterschied zu machen, ihre Wahlergebnisse bleiben stabil. Aber das wird sich wohl auch nicht ändern, solange sich alle Politik nur mehr in einem Reagieren auf den Rechtspopulismus erschöpft, solange sämtliche politische Akteure dasitzen wie das Kaninchen vor der Schlange.

(Tages-Anzeiger, 16. April 2019)

Migration. EU. Klimakrise. Globalisierung. Städtische Eliten – vernachlässigte Landbevölkerung: Alle Probleme, welche die rechtspopulistischen Parteien beackern, sind Probleme des Kapitalismus und würden in einer nichtkapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung automatisch von der Bildfläche verschwinden. Das müsste eigentlich die Stunde der Linken sein. Doch weit gefehlt. Der «Linken» – oder dem, was von ihr übrig geblieben ist – scheint es ganz und gar am eigenen Mut zu fehlen. Statt einen neuen Gesellschaftsentwurf zu propagieren, hockt sie wie das Kaninchen vor der Schlange oder, schlimmer noch, biedert sich aus Angst vor weiteren Wählerverlusten, den Rechtspopulisten an. Höchste Zeit für eine Neuorientierung, für eine Radikalisierung und für eine umfassende Aufklärung darüber, dass all die grossen und kleinen Probleme, mit denen wir uns heute herumschlagen, nichts anderes sind als die Folge eines Wirtschaftssystems, das vor lauter Profitgier und Gewinnsucht die Menschen, denen es angeblich dienen will, ganz und gar vergessen hat.