Zweiter Teil der Geschichte von Amin, Ela, Baran und Aziz: Spaghetti im Spielzeugauto, eine dunkelrote Rose und ein Festmahl um zwei Uhr nachts…

In den drei Monaten, seit ich mit Amin, Ela und ihren beiden Buben Baran und Aziz aus Afghanistan zusammenlebe, ist viel geschehen, und fast täglich kommt etwas Neues dazu. Gestern hat sich der viereinhalbjährige Baran den Kopf an einer Bettkante angeschlagen. Der zweijährige Aziz, der für sein älteres Brüderchen alles täte, hat mit seiner Hand, so fest er konnte, auf das Bett geschlagen, um es sozusagen dafür zu bestrafen, dass es Baran weh getan hatte. Dann drückte er seinem Brüderchen zum Trost einen Kuss auf die Wange. Heute haben Baran und Aziz ganz von sich aus die ganze Geschirrspülmaschine ausgeräumt, Baran packte auch schon mal vier Teller zusammen nur mit der einen Hand und ich befürchtete schon einen Scherbenhaufen, doch nichts passierte. Aziz holt immer wieder die Bürste aus dem Putzschrank und fegt damit den Küchenboden. Auch den Staubsauger wollte er holen und am liebsten hätte er wohl das ganze Haus gesaugt, aber der war für ihn einfach noch viel zu schwer. Wunderbar und fast immer friedlich auch, wie die beiden Buben miteinander spielen. Kürzlich haben sie zwei Kissen nebeneinander hingelegt und sich darauf gesetzt, zwischen ihnen ein Bilderbuch, das sie zusammen angeschaut haben. Und ihre Eltern, Amin und Ela: Selten habe ich Eltern gesehen, die so liebevoll, geduldig und verständnisvoll mit ihren Kindern umgehen. Nie fällt ein böses Wort, nie eine barsche Zurechtweisung. Die beiden Buben können die verrücktesten Dinge anstellen, die Spaghetti, statt sie zu essen, in ein Spielzeugauto stopfen, einen Legostein in ein Glas Milch eintauchen, die Papierserviette in tausend klitzekleine Fetzchen zerreissen und sie überallhin verteilen – Amin und Ela finden das mindestens so lustig wie die Kinder und lachen stets mit ihnen mit.

Und dann ist da noch Karim, Elas Onkel, der seit 20 Jahren in München lebt, ein Mensch voller Weisheit, Lebenserfahrung und Humor. Kürzlich war er bei uns auf Besuch. Seit 20 Jahren – Ela war vier Jahre alt, als Karim Afghanistan verliess – hat sie ihn zum ersten Mal wieder gesehen. Mit dabei waren seine beiden Söhne und zwei Schwägerinnen. Um Mitternacht kamen sie an und etwa um zwei Uhr begannen wir zu essen, all die Köstlichkeiten, die Ela etwa drei Stunden lang zuvor gekocht hatte. Vor, während und nach dem Essen wurde geplaudert, gescherzt und gelacht in einer Fülle, wie ich sie in meinem Haus noch nie zuvor erlebt hatte, und das von Menschen, die alle ihre Heimat und zahllose Verwandte und Freunde verloren und auch am eigenen Leib Dinge erlebt haben, die wir uns Schweizerinnen und Schweizer nicht im Entferntesten vorstellen können.

Und auch Milad, Amins Kollege. Über ein Jahr hat er gebraucht, um von Afghanistan in die Schweiz zu kommen, fast alles zu Fuss, war unterwegs zwei Mal im Gefängnis und schleppte auf seinem grossen, starken Rücken einen total erschöpften Mann bei Schneesturm und Eiseskälte über einen 4000 Meter hohen Pass, einen Mann, der ohne Milad heute höchstwahrscheinlich nicht mehr leben würde. Auch Milad wohnt in meiner Stadt und kommt gelegentlich auf Besuch. Ich habe ihm geholfen, einen Job und eine neue Wohnung zu finden und habe ihm ein Fahrrad, das ich nicht mehr brauche, geschenkt. Kürzlich habe ich ihn gesehen, wie er voller Stolz, als wäre er der König von Kabul, durch die Stadt segelte. Seine Dankbarkeit ist grenzenlos. Immer wieder schickt er mir Whatsapps mit dem Symbol der gefalteten Hände und schreibt “Danka” – was für ein schönes Wort, es tönt für mich so ein bisschen wie eine Mischung aus Deutsch und seiner Muttersprache, dem Persischen. Als wir zusammen eine zur Miete angebotene Wohnung anschauen gingen, brachte er mir zum Dank eine Rose. Eine einzelne tiefrote, fast schwarze Rose, aber sie bedeutete mir mehr als der grösste Blumenstrauss, den ich je bekommen habe.

Wenn ich mir dann aber das Bild vor Augen führe, welches einen “typischen” Afghanen in den Köpfen der meisten Menschen hierzulande, in fast allen Medien und auf den Plakaten der grössten politischen Partei der Schweiz verkörpert, dann ist das nie ein liebevoller Vater, der mit seinen Kindern auf dem Boden herumkriecht, nie eine Frau, die singt, tanzt und lacht, und schon gar nie ein Kind, das ein anderes liebevoll küsst. Dieser “typische” Afghane ist fast immer nur ein junger Mann mit einem Messer im Sack, stets darauf aus, anderen etwas zuleide zu tun, ihnen etwas zu klauen, sie zu verletzen oder gar zu töten. Dieses Emporstilisieren einer kleinen Minderheit und deren Instrumentalisierung zu machtpolitischen Profilierungszwecken ist nicht nur eine unerhörte Missachtung jeglicher Objektivität, sondern zugleich eine masslose Beleidigung all jener weitaus viel zahlreicheren Afghaninnen und Afghanen, die, wie Amin, Ela, Baran, Aziz, Karim und Milad, friedlich, respektvoll und dankbar hierzulande leben, aber von den massgeblichen Meinungsmachern so behandelt werden, als gäbe es sie gar nicht. Wie tief muss es so lebenslustige Frauen wie Ela, so liebevolle Väter wie Amin, so mutige und hilfsbereite Männer wie Milad, so weise und fürsorgliche ältere Männer wie Karim und so unglaublich sanfte und liebevolle Kinder wie Baran und Aziz treffen, wenn sie wahrnehmen, dass überall dort, wo man über Menschen aus Afghanistan spricht und sich über sie ein Bild macht, sie selber gar nie vorkommen, sondern immer nur ein paar wenige “Bösewichte” oder allenfalls noch eine vollverschleierte, in Schwarz gekleidete Frau, die mit 99 Prozent der hierzulande lebenden Afghaninnen auch nicht das Geringste zu tun hat.

Rund 20’000 Afghaninnen und Afghanen leben in der Schweiz. Von diesen 20’000 haben im ersten Halbjahr 2023 – gemäss einer laufend auf der Homepage der SVP veröffentlichten Statistik – ganze zwölf eine Straftat begangen, meistens handelte es sich dabei um Schlägereien zwischen Jugendlichen, zudem gab es zwei Messerattacken, Telefonbetrügereien, einen Mordversuch und einen Mord. Keine dieser Straftaten soll verharmlost oder entschuldigt werden, aber wer nur immer wieder mit solchen Schlagzeilen konfrontiert wird, läuft unweigerlich Gefahr, zu vergessen bzw. auszublenden, dass während diesen sechs Monaten nicht nur zwölf in der Schweiz lebende Afghanen eine Straftat begangen haben, sondern gleichzeitig 19’988 andere Afghaninnen und Afghanen keine einzige Straftat begangen haben. Wohin in letzter Konsequenz eine so einseitige, manipulative Berichterstattung führt, sehen wir in Deutschland, wo bei einem höchstwahrscheinlich ähnlichen Prozentsatz an Straftaten die CDU als wählerstärkste Partei aus populistischen und wahltaktischen Gründen vor rund drei Wochen nicht einmal davor zurückschreckte, einen allgemeinen Aufnahmestopp für Flüchtlinge aus Afghanistan zu fordern.

Kommt dazu, dass sowohl in Deutschland und der Schweiz wie auch in den anderen europäischen Ländern genau in der gleichen Bevölkerungsgruppe, die bei Asylsuchenden besonders stark vertreten ist, ebenfalls die Straftaten und Gewaltdelikte weit über dem Gesamtdurchschnitt liegen, also bei häufig arbeitslosen, armutsgefährdeten Männern mit geringer Schulbildung zwischen 18 und 30 Jahren, wobei bei Flüchtlingen erschwerend dazukommt, dass viele von ihnen bereits selber Gewalt erfahren haben oder durch Verfolgung und Krieg traumatisiert sind, dennoch aber sich in ihrer neuen Lebensumgebung nicht heimisch und nicht willkommen fühlen und auch viel weniger Chancen und Zukunftsperspektiven haben im Vergleich mit der ansässigen Bevölkerung. All das kann erhöhte Gewaltbereitschaft erklären, ohne dass man sie deshalb rechtfertigen muss. Entscheidend ist jedoch, sich immer wieder in Erinnerung zu rufen, dass Delinquenz grundsätzlich nichts zu tun hat mit der ethnischen Herkunft oder der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Nationalität oder Religion. Unter ähnlichen äusseren Bedingungen würden sich ganz ähnliche Lebensgeschichten entwickeln, ganz unabhängig davon, ob es sich um Menschen aus der Schweiz, Afghanistan, Mexiko oder Marokko handelt. Das Gegenteil zu behaupten, ist nichts anderes als purer Rassismus.

Stünden Gewaltbereitschaft oder andere sozial “unerwünschte” Verhaltensweisen bzw. “Mentalitäten” tatsächlich in einem Zusammenhang mit der ethnischen Herkunft, dann wären Baran und Aziz, meine beiden afghanischen Gastkinder – und ich kann mir nicht vorstellen, dass sie zufälligerweise nur zwei seltene Ausnahmen sind -, nicht so wunderbare Menschen, ebenso wie auch alle anderen Kinder der Welt. Nein, die Gewalt steckt nicht in ihnen, die kommt erst später dazu. Ob ein Kind dereinst als Erwachsener ein Terrorist, ein Mörder oder ein Bankdirektor sein wird, hat nichts mit dem Kind selber und seiner Herkunft zu tun, sondern nur mit der Umgebung und mit den Lebensverhältnissen, in denen es aufwächst.

Aziz, der übermorgen seinen zweiten Geburtstag feiert, nennt mich “Abuda”, ein Wort, das er selber erfunden hat, aber so schön klingt, dass man sich eigentlich nur wundern kann, dass es nicht in irgendeiner Sprache schon längst erfunden wurde. Betrete ich das Haus, höre ich ihn schon “Abuda” rufen und er springt so schnell die Treppe herunter, dass es mir jedes Mal Angst und Bange wird, er könnte stolpern und über die Stufen hinunterpurzeln. Er lacht mir mit seinen wunderbaren, leuchtenden Augen entgegen, und nimmt mich meistens bei der Hand, um mich irgendwohin zu ziehen, wo ich dann mit ihm spielen soll. Als ich kürzlich zwei Tage fort war, fragte er, wie Amin und Ela mir nachher erzählten, unablässig nach “Abuda” und jedes Mal, wenn er von der Strasse her eine Stimme hörte, rief er sogleich “Abuda?”. Wenn er ein Brötchen, ein Stück Kuchen oder eine Banane isst, bricht er immer ein winziges Stück davon ab und gibt es mir, ganz so, wie man einen kleinen hungrigen Vogel füttert. Als Ela seinem älteren Bruder eines Abends nach dem Essen liebevoll übers Haar strich, wünschte er sich das ebenso von seiner Mama. Dann bat er sie, auch Amin übers Haar zu streichen. Kaum hatte sie das getan, zeigte er auf mich: Auch Abuda! Diesen Wunsch allerdings konnte ihm nun Ela wirklich nicht erfüllen. Doch in diesem Augenblick dachte ich: Eigentlich ist es ja gar nicht so, dass ich bloss Amin, Ela, Baran und Aziz in die Familie meiner Kinder und Enkelkinder und in mein Haus aufgenommen habe. Eigentlich ist es ja gleichzeitig auch so, dass sie mich in ihre Familie aufgenommen haben und der Kleinste von ihnen dabei so etwas ist wie ein kleiner Brückenbauer, der sich am eifrigsten darum bemüht. Sodass wir uns eigentlich gegenseitig aufgenommen haben und daraus etwas Neues und Grösseres entstanden ist.

Und je länger ich darüber nachdenke, umso mehr wird mir bewusst, was für eine wunderbare Chance das wäre und was für kaum vorstellbare Auswirkungen es hätte, wenn wir überall auf der Welt die Kinder nicht mehr länger daran hindern würden, solche Brücken zwischen den Menschen zu bauen. Lassen wir Erwachsene uns doch alle und überall von den Kindern an die Hand nehmen, schauen wir uns gegenseitig in die Augen um zu sehen, was uns im tiefsten Inneren über alle Grenzen hinweg miteinander verbindet. Lassen wir uns von “Andersartigem”, “Fremdem” nicht mehr länger abschrecken, sondern berühren und verzaubern. Erzählen wir die vielen guten und schönen Geschichten weiter statt die wenigen schlechten und hässlichen, denn Schlechtes kann man nicht mit Schlechtem zum Verschwinden bringen, sondern nur mit Gutem. Brechen wir, so wie der zweijährige Aziz, von allen unseren Brötchen und Kuchenstücken ein bisschen ab und geben es weiter. Tragen wir Sorge, damit die Rose, die ich von Milad an jenem Samstagnachmittag in St. Gallen bekommen habe, nie mehr verblüht und lassen wir viele weitere Millionen Blumen wachsen überall dort, wo zuvor der Hass, die Gewalt, die fehlende Menschenliebe und der Krieg gewesen waren…

Wenn du wissen möchtest, wie diese Geschichte angefangen hat und wie sie weitergeht, dann schreibe doch bitte eine Email mit dem Stichwort “Afghanistan” an: info@petersutter.ch. Dann bekommst du die bisherigen und die zukünftig erscheinenden Artikel.

“Grossfamilien” mit 15 bis 20 Menschen als neues Zukunftsmodell: Damit niemand mehr durch die Maschen fällt…

Die 55jährige Karin hat infolge einer schweren Krankheit und einer nachfolgenden psychischen Krise vor fünf Jahren ihren Job verloren. Sämtliche Versuche, wieder einen Job zu finden, sind gescheitert. Jetzt lebt sie in einer kleinen Mietwohnung am Rande der Stadt. Ausser zu ihrer älteren Schwester, mit der sie sich allerdings schon vor vielen Jahren heillos zerstritten hat, hat sie mit niemandem Kontakt. Ihr einziger treuer Begleiter ist der Alkohol, er spielt in ihrem Leben eine immer dominantere Rolle. Unlängst war sie dermassen betrunken, dass sie zu Boden fiel und nicht mehr aufstehen konnte, sie schaffte es gerade noch, den Notfalldienst zu alarmieren, lag dann zwei Tage und Nächte im Spital, bis sie sich wieder einigermassen auf den Beinen zu halten vermochte. Jeden Morgen denkt sie, dass es eigentlich schöner gewesen wäre, nicht mehr aufzuwachen.

Monika und Heinz sind in der vollen Mitte des Lebens angelangt, da, wo es am turbulentesten ist und die Belastungskurve ihren höchsten Punkt erreicht. Er arbeitet zu hundert Prozent als Rayonchef in einem Warenhaus und schiebt fast jede Woche mindestens fünf Überstunden, sie hat einen 40-Prozent-Job als Zahnarztassistentin. Drei Kinder haben sie: Tom ist drei Jahre alt, Britta sechs und Christa zehn. Jeder Tag ist von früh bis spät auf die Sekunde durchgetaktet, nicht nur für die Eltern, auch für die Kinder, die rund um die Uhr unterwegs sind, von zuhause in die Kita, von der Kita in den Kindergarten oder in die Schule, von der Schule zum Mittagstisch, vom Mittagstisch zur Hausaufgabenhilfe, von der Hausaufgabenhilfe in die Klavierstunde, von der Klavierstunde zur Nachbarin, welche die Kinder betreut, bis die Eltern wieder zuhause sind, um das Essen zu kochen und die Kinder ins Bett zu bringen. Alles andere, Einkaufen, Arztbesuche, Ferienplanung, Abarbeiten von E-Mails, Einzahlungen, Putzen, Gartenarbeiten, Telefonate mit Freunden und Verwandten, Geburtstagspartys, Einladungen, alles muss irgendwo in die kleinen verbliebenen Lücken hineingepresst werden. Ohne dass sowohl Monika wie auch Heinz je ein eigenes Auto hätten, wäre die Bewältigung dieses täglichen Mammutprogramms unvorstellbar. Am Abend wird oft gestritten, die ältere Tochter meint, das käme sicher von dem vielen Stress. Seit drei Monaten wollten Monika und Heinz wenigstens ein einziges Mal an einem Abend gemütlich miteinander auswärts essen gehen, sie haben es nicht geschafft.

Conchita, die gebürtige Mexikanerin, ist vor vierzig Jahren in die Schweiz gekommen, Ruedi folgend, der sich auf einer Südamerikareise unsterblich in sie verliebt hatte. Sie ist mit Leib und Seele eine Familienfrau, Kochen ist ihre grösste Leidenschaft, Singen und Tanzen, Plaudern und Lachen, Partys feiern und einfach das Leben geniessen – sie könnte die glücklichste Frau der Welt sein. Doch seit die Kinder aus dem Haus sind und Ruedi fast immer geschäftlich unterwegs ist, sitzt sie so oft nur noch weinend am Küchentisch und schiebt die eine oder andere angefangene Näharbeit, das eine oder andere begonnene Kreuzworträtsel, den einen oder anderen angefangenen Brief an ihre Schwester nur noch lustlos hin und her. Fast jeden Tag fragt sie sich, wo die Sonne in ihrem Herzen, die früher so stark gebrannt hatte, wohl untergegangen sein könnte.

Amir aus Afghanistan ist vierzehn Jahre alt, seine Eltern leben nicht mehr, von seinen beiden Brüdern hat sich jede Spur verloren. Jetzt liegt er auf einer Matratze im Büro einer früheren Fabrikhalle, die notdürftig in ein Durchgangsheim für unbegleitete jugendliche Asylsuchende umgebaut wurde, zusammen mit 50 anderen Jugendlichen, viele von ihnen ebenfalls aus Afghanistan, andere aus Syrien oder Eritrea. Computerspiele, in denen sich grüne, schwarze und gelbe Männchen gegenseitig abschiessen, sind zurzeit sozusagen sein einziger Lebensinhalt. Ein etwas älterer Junge, der aus der gleichen Gegend stammt wie er, hat ihm erzählt, dass junge heimatlose Menschen wie sie hier, im Land ihrer Träume, von vielen Menschen ganz und gar nicht erwünscht seien und es sogar nicht wenige gäbe, denen es am liebsten wäre, sie wären gar nicht da.

Die 36jährige Andrea kümmert sich seit ihrer Scheidung vor einem halben Jahr alleine um ihren dreieinhalbjährigen Sohn Leon und um den Haushalt. Um über die Runden zu kommen, hat sie zwei Jobs angenommen, einen bei einer Steuerbehörde, den anderen als Hauswartin, dennoch reicht das Geld nur für das Allernotwendigste. Ohne ihre Eltern, die bei der Betreuung ihres Kindes einspringen, würde sie es nicht schaffen. Die pausenlose Mehrfachbelastung setzt ihr dermassen zu, dass ihr schon beim Aufwachen am Morgen schlecht ist und sie jeden Tag nur darauf wartet, bis wieder Abend ist und sie sich ins Bett legen kann. Am meisten leidet sie darunter, dass Leon so oft weint, weil sie so wenig Zeit mit ihm verbringen kann.

Anna, in einem kleinen sizilianischen Bergdorf aufgewachsen und mit ihrem Mann Roberto im Alter von 24 Jahren in die Schweiz gekommen, ist seit einem schweren Verkehrsunfall, bei dem sie im Alter von 54 Jahren auf einem Fussgängerstreifen von einem Lastwagen überfahren wurde und nur mit einer Riesenportion Glück überlebte, zu hundert Prozent pflegebedürftig. Die inneren Verletzungen waren so schwer, dass Anna heute nur noch im Bett liegen kann und rund um die Uhr betreut werden muss. Ein kompliziertes, extra für sie entwickeltes Gerät überwacht pausenlos ihre Körperfunktionen, mindestens einmal pro Stunde muss überprüft werden, ob alles in Ordnung ist. Glücklicherweise haben Anna und Roberto eine so grosse Verwandtschaft, dass man genug Geld zusammenbrachte, damit sich Roberto, der als Maurer gearbeitet hatte, frühzeitig konnte pensionieren lassen. Er wurde zum Vollzeitpfleger. Denn Anna hätte sich niemals vorstellen können, das geliebte Haus zu verlassen und in einem Pflegeheim zu leben. Dieser Wunsch seiner Frau war Roberto heilig. Und so kann er nun sein Haus, wenn er nicht das Leben seiner Frau gefährden will, allerhöchstens für eine Stunde verlassen, und das seit Jahren. Mit Freunden am Abend in einer Kneipe ein Bier trinken, einen kleinen Ausflug übers Wochenende, Boccia spielen oder ins Kino gehen – alles nur noch Erinnerungen an frühere, längst vergangene Zeiten…

Edith und Herbert, sie Lehrerin an einer Oberstufe, er Berufsschullehrer, stecken schon seit einem halben Jahr in einer ganz dicken Ehekrise. Kaum eine Mahlzeit ohne gegenseitige Sticheleien, Vorwürfe und Streit. Erst recht schlimm geworden ist alles, seit sich Amanda, ihre 16jährige Tochter, völlig zurückgezogen und abgekapselt hat. Alles Zureden nützt nichts, Amanda schliesst sich Tag und Nacht in ihr Zimmer ein, verlässt es fast nie und lässt ihre Musik so laut durch alle Wände dröhnen, dass es ihren Eltern auch noch den letzten Nerv ausreisst. Sämtliche Kontakte mit ihren früheren Freundinnen hat sie abgebrochen, nach einem sehr belasteten letzten Schuljahr mit vielen Absenzen weist sie alles, was mit Zukunftsplanung und der Bewerbung für eine Lehrstelle oder eine weiterführende Schule zu tun hat, weit von sich. Seit Wochen trägt sie nur noch schwarze Kleider und hat schon mehrere Kilos abgenommen. Selbst dem Vorschlag ihrer Mutter, sich an eine Beratungsstelle zu wenden, verweigert sie sich mit Haut und Haaren. Edith und Herbert schieben einander die Schuld in die Schuhe und werfen sich gegenseitig vor, sich schon seit Jahren viel zu wenig um Amanda gekümmert zu haben.

Schliesslich ist da noch, wie ihn seine Enkelkinder nennen, der 75jährige Opa Wuzz. Ein Büchernarr, Philosoph und Schreiberling. Seit seine Frau gestorben ist, die Familie seines Sohnes in Deutschland lebt und die Familie seiner Tochter nach Australien ausgewandert ist, ist es recht einsam geworden um ihn. Manchmal, wenn er abends sein Tagebuch hervornimmt und seine Gedanken aufschreibt, tropft eine Träne auf seine alte, verwackelte Schrift und in der Erinnerung fliegt er in die Zeit zurück, als seine Frau noch lebte und seine Kinder mit ihr und ihm auf dem Jahrmarkt Zuckerwatte schleckten, er am Kindergeburtstag seine legendären Schnitzeljagden organisierte und sie gemeinsam im Wald ein Feuer entzündeten und Würstchen grillierten.

Eigentlich ist es verrückt. Die einen fühlen sich so einsam, dass sie manchmal am liebsten sterben würden – die anderen gehen sich gegenseitig dermassen auf die Nerven, dass sie oft davon träumen, am liebsten ganz alleine irgendwo auf einer fernen Südseeinsel zu sein. Den einen ist so langweilig, dass sich jeder einzelne Tag wie eine Ewigkeit anfühlt – die Tage der anderen sind dermassen ausgefüllt und ihre Terminkalender so vollgestopft, dass sie jeden Abend nur noch völlig erschöpft ins Bett fallen und die Liste mit allen unerledigten und hinausgeschobenen Pendenzen gleichzeitig immer länger und länger wird. Die einen leben alleine in einem viel zu grossen Haus mit einem viel zu grossen Garten, der meistens leer ist – die anderen müssen sich in winzige Mietwohnungen zwängen und ihre Kinder werden schon am frühen Morgen von einer pingeligen Hauswartin beschimpft, weil sie mit farbigen Kreiden den Vorplatz beim Hauseingang vollgemalt haben. Die einen verbringen Stunden damit, herauszufinden, wo sie all das Geld, welches sie für ihren täglichen Lebensunterhalt gar nicht brauchen, möglichst gewinnbringend anlegen können – die anderen schätzen sich schon glücklich, wenn sie sich überhaupt bis zum letzten Tag des Monats wenigstens eine einzige warme Mahlzeit leisten können.

“Eltern-Burn-Out”, schreibt “20Minuten” am 28. August 2024, “ist keine Seltenheit mehr. Der Spagat zwischen Beruf und Familie fordert seinen Tribut. Ein Phänomen, das in den vergangenen Jahren massiv zugenommen hat.” Kein Wunder, gibt es immer mehr Paare, die kinderlos bleiben und sich all die Belastungen im Zusammenhang mit dem Aufbau einer Familie nicht mehr zumuten möchten. Neue Zahlen, so berichtete der “Tagesanzeiger” am 6. November 2023, zeigen, dass es im Verhältnis zur Bevölkerung in der Schweiz noch nie so wenige Geburten gab. Eine 49Jährige wird im Artikel mit den Worten zitiert, sie sei “jeden Tag dankbar”, dass sie sich gegen Kinder entschieden habe. Erst recht, wenn sie sehe, womit sich ihre Freundinnen und Freunde “herumschlagen” müssten. So viele Mütter, meint sie, würden unter dieser Last leiden und erzählen, wie anstrengend es sei. Alles werde teurer, es fehle an Lehrkräften und Kinderärzten, dem Klima gehe es schlecht und immer wieder käme es zu Kriegen. Weitere Gründe, keine Kinder haben zu wollen, seien die viel zu teuren Krippenplätze, Stress mit der Schule, mit Drogen, Drama bei den Hausaufgaben, psychische Probleme bereits in jungen Jahren, überteuerte Sommerferien mit schlechter Stimmung, Unfälle, Schlafmangel und vor allem: Sorgen, Sorgen, Sorgen.

Überbelastung von Familien auf der einen Seite, sozialer Rückzug auf der anderen: “Wie in allen Industrieländern”, schreibt die “NZZ am Sonntag” vom 14. Juli 2024, “nimmt auch in der Schweiz die Anzahl einsamer Menschen tendenziell zu. Die Ursachen sind vielfältig, es können Mobbingerfahrungen sein, soziale Ängste, schwierige Erfahrungen mit der Familie, der Druck der Leistungsgesellschaft sowie die sozialen Netzwerke, die einem ständig suggerieren, dass man nicht hübsch oder erfolgreich genug sei. In einer Gesellschaft, die fast andauernd bewertet, ist es nicht einfach, sich zugehörig zu fühlen.” Die Folgen von Einsamkeit können verheerend sein. Studien beurteilen sie als genauso gefährlich für die Gesundheit wie das Rauchen und sogar schädlicher als Alkoholabhängigkeit. Wer sich häufig oder über längere Zeit einsam fühlt, hat ein höheres Risiko für psychische Erkrankungen oder Stoffwechselprobleme und trägt in der Regel auch ein erhöhtes Sterberisiko. Einsamkeit kann aber auch dazu führen, dass sich Menschen, die ihre Sorgen mit niemandem teilen können und ihre Verzweiflung über Jahre ganz alleine in sich hineinfressen, plötzlich eines Tages auf ganz aussergewöhnliche Weise Aufmerksamkeit zu verschaffen versuchen. So führten die Spuren einer Serie mehrerer Brandstiftungen im zürcherischen Elgg anfangs 2024, wie der “Tagesanzeiger” am 12. Juli 2024 berichtete, schliesslich zu einer alleinstehenden 44jährigen Frau, die über Jahre völlig zurückgezogen gelebt und mit niemandem Kontakt gehabt hatte. Und in St. Gallen griff am 11. Juli 2024 gemäss einem Bericht des “Tagblatts” ein 34jähriger Schweizer im Treppenhaus eines Wohnblocks unvermittelt eine 29jährige hochschwangere Frau an und attackierte im Weiteren deren Vater, welcher ihr zur Hilfe eilte, fügte ihm schwere Verletzungen zu, ebenso wie einer 31jährigen anderen Mieterin und deren drei Monate altem Baby. In seiner Wohnung wurden hernach eine ausgeschüttete brennbare Flüssigkeit sowie Gas festgestellt. “Es gibt immer mehr Menschen”, so ein Sprecher der Kantonspolizei, “die das Potenzial aufweisen, aggressiv zu werden oder sich selbst zu gefährden – die Schwere der Taten hängt sehr davon ab, wie gut oder wie schlecht solche Menschen in familiäre Strukturen eingebunden sind.”

Alles scheint darauf hinzudeuten, dass die Idealvorstellung der harmonischen Kleinfamilie mehr und mehr nur noch eine Illusion und ein Traum aus früheren Zeiten ist. Während sich viele immer noch trotz aller damit verbundener Belastungen an dieses Modell festklammern, haben es viele andere längst aufgegeben, sind aber infolge fehlender Alternativen der Gefahr von sozialer Isolation und aller damit verbundener Gefahren ausgesetzt.

Höchste Zeit, um über Alternativen zur traditionellen Kleinfamilie nachzudenken…

Und damit sind wir wieder bei jenen 17 Menschen, deren aktuelle Lebenssituationen ich am Anfang des Artikels beschrieben hatte. Und wir sind wieder bei Opa Wuzz. Seit er eines Tages einen Artikel gelesen hatte, in dem die Frage aufgeworfen wurde, ob nicht Grossfamilien eine sinnvolle Alternative zur Kleinfamilie sein könnten, liess ihn diese Frage nicht mehr los. Und je länger er darüber nachdachte, umso mehr Begeisterung stieg in ihm auf. Natürlich konnte es nicht die Rückkehr zur klassischen Grossfamilie früherer Zeiten sein, die wachsende Mobilität hatte schon längst über viel zu lange Zeit alle diese familiären Bindungen und Strukturen früherer Zeiten aufgelöst, das wusste er, dessen Kinder und Enkelkinder nach Deutschland und Australien ausgewandert waren, selber ja am besten. Aber man kann sich eine Grossfamilie ja auch anders denken, moderner und zur heutigen Zeit passend. Die Mitglieder einer “Grossfamilie” müssen ja nicht zwingend miteinander verwandt sein. Opa Wuzz kam ins Schwärmen: Eigentlich sind wir Menschen ja alle irgendwie miteinander verwandt, dachte er. Und irgendwie sind wir doch auch alle miteinander und füreinander verantwortlich. Und eigentlich könnten wir doch mit den Ressourcen, über die wir verfügen, viel sozialer und gemeinschaftlicher umgehen als einfach in der plumpen und egoistischen Art und Weise, dass jeder nur an sich selber oder höchstens an seine eigene kleine Familie denkt.

Und dann, eines Tages, sagte sich Opa Wuzz: Das machen wir. Er kannte sie alle schon, mehr oder weniger gut, einige auch nur ganz flüchtig, die meisten lebten in seinem eigenen Quartier oder nur unweit davon entfernt: Karin, Monika, Heinz und ihre drei Kinder, Conchita und Ruedi, Amir, Andrea und ihren dreijährigen Sohn, Anna und Roberto, Edith, Herbert und die 16jährige Amanda. Sie verstanden zunächst nicht ganz, was er meinte. Sie konnten es sich kaum vorstellen. Doch Opa Wuzz liess nicht locker: Ich weiss ja nicht, ob es funktioniert, sagte er, aber wir könnten es doch mindestens ausprobieren. Verlieren können wir nichts, höchstens etwas gewinnen.

Und so entstand aus diesen 17 Menschen die erste moderne “Grossfamilie”. Ein Jahr später war für sie die Welt eine ganz andere geworden. Und niemand, wirklich niemand von ihnen wollte wieder zurück zu der Zeit, als sie alle noch voneinander getrennt waren. Es ist Herbst im Jahre 2027. Lasst uns schauen, was passiert ist…

Da Monika und Heinz als Einzige der “Grossfamilie” – ich nennen sie im Folgenden einfach “Familie” – ein geräumiges Einfamilienhaus mit einem schönen Garten besitzen, ist dieses zu einer Art Lebensmittelpunkt für die ganze Familie geworden. Alle haben ihre bisherigen Wohnungen behalten, verbringen aber stets einen kleineren oder grösseren Teil des Tages im Haus und im Garten von Monika und Heinz, wobei es freilich auch Tage gibt, die Einzelne für sich alleine verbringen oder an denen sie anderweitigen Verpflichtungen oder Aktivitäten nachgehen. Anna kämpft zwar immer noch gegen ihre Alkoholabhängigkeit, hat aber jetzt eine gewisse Tagesstruktur, geht sie doch jeden Morgen für die ganze Familie einkaufen, zudem kümmert sie sich um die Katze von Monika und Heinz, was alleine schon viel Licht in ihr Leben gebracht hat, war es doch ein gewaltiger Schock für sie gewesen, als ihre eigene Katze, ihre eigentliche Lebenspartnerin, vor zwei Jahren gestorben war, nachdem sie 16 Jahre lang zusammen gelebt hatten. Amir hat im Haus von Monika und Heinz ein eigenes Zimmer bekommen, es war das Gästezimmer, das kaum je gebraucht worden war. Frei und selbstbestimmt kann er jetzt in ein für ihn ganz neues gesellschaftliches Umfeld hineinwachsen, mitbeteiligt am gewöhnlichen Alltag seiner neuen Heimat, in einem Umfeld, von dem er sich getragen, willkommen und geliebt fühlt. Conchita, die leidenschaftliche Köchin und Familienfrau aus Mexiko, ihr könnt es euch vorstellen, ist so etwas wie die Seele oder die Mutter der Familie. Sie kocht mittags und abends für alle in der grossen, modernen Küche von Monika und Heinz, und alle essen fast immer gemeinsam im geräumigen Esszimmer, im Wintergarten oder in der schattigen Pergola, wenn es Sommer ist – das sind die Zeiten, wo meistens alle 17 beisammen sind und auch alles ausgetauscht und besprochen wird, was gemeinsame Pläne oder Aufgaben betrifft. Doch Conchita ist nicht nur die Köchin, sie ist einfach die, die immer da ist und immer Zeit hat – jetzt ist sie wieder voll und ganz, mit Leib und Seele, die Familienfrau, die sie immer schon sein wollte, und die Sonne in ihrem Herzen strahlt wieder in voller Kraft wie früher. Die Kinder von Monika und Heinz brauchen weder Spielgruppe noch Kita, denn immer, wenn sie nachhause kommen, ist da jemand, der auf sie wartet, mindestens Conchita, meistens auch Roberto und fast immer Opa Wuzz, der schon wieder, wie in früheren Zeiten, mit den Kindern auf dem Boden herumkriecht oder ihnen, mindestens einmal pro Woche, eines jener Kasperletheaterstücke vorspielt, die er schon vor 30 Jahren seinen eigenen Kindern vorgespielt hatte – das sind dann die Momente, wo die Familie manchmal auch noch ein bisschen grösser wird, weil schon mal zusätzlich noch das eine oder andere Nachbarskind eintrudelt…

Auch Andrea muss sich nicht mehr damit herumschlagen, wer sich um Leon kümmert, wenn sie arbeiten geht, auch das mühsame Suchen nach einem anderen Platz für die Zeit, wenn ihre Eltern in die Ferien verreisten, ist endlich vorbei, bei Conchita, Roberto und Opa Wuzz ist ihr Leon in den besten Händen – dass es ihr schon am Morgen immer schlecht war, dass sie den ganzen Tag nur auf den Abend wartete, um sich dann total erschöpft ins Bett zu werfen, ohne jede Energie für irgendetwas anderes, all das ist nur noch Erinnerung an die schlimmste Zeit ihres Lebens, neulich hat sie zum ersten Mal seit Jahren sogar wieder ein Buch in die Hand genommen und angefangen zu lesen. Und erst Roberto! Da er jetzt nicht mehr ganz alleine seine Frau betreuen muss, sondern sich zusammen mit ihm Karin, Monika, Conchita, Amir, Herbert und manchmal sogar Amanda diese Aufgabe teilen, kann er ohne schlechtes Gewissen am Abend wieder mit seinen Kollegen ein Bier trinken gehen oder eine Runde Boccia spielen. Selbst die Ehekrise von Edith und Herbert hat längst nicht mehr die Dramatik von früher. Die beiden sind nicht mehr gezwungen, sich ganz alleine an einem kleinen Tisch gegenüberzusitzen, bloss darauf wartend, bis wieder das erste böse Wort fällt – jetzt sitzen sie am grossen Tisch mit vielen anderen, mal mit diesem, mal mit jener scherzend und plaudernd, meistens nicht einmal nebeneinander sitzend, und so hat die Möglichkeit, sich bei Belieben jederzeit gegenseitig aus dem Weg gehen zu können, kurioserweise dazu geführt, dass sie sich sogar wieder ein bisschen näher gekommen sind. Und selbst Amanda verkriecht sich nicht mehr den ganzen Tag in ihrem Zimmer, seit sie Conchita ihr ganzes Herz ausgeschüttet und ihr all das anvertraut hat, was sie ihren eigenen Eltern niemals zu sagen getraut hätte – sie trägt wieder farbige Kleider, sie liebt das Essen und die von Conchita zu jeder Tages- und Nachtzeit zubereiteten Drinks über alles, hat wieder zugenommen und seit ein paar Wochen gibt sie sogar Amir jeden Tag eine Deutschstunde, was ihr so grossen Spass macht, dass sie schon davon träumt, später einmal als Lehrerin zu arbeiten.

Auch die Aufgabenteilung und dass alle das machen, was ihnen am meisten Freude macht und sie am besten können, ist für alle wunderbar entlastend. Wenn es um Formulare, Steuererklärungen oder andere schriftliche Dinge geht, ist Opa Wuzz zur Stelle. Heinz ruft man immer, wenn der Staubsauger nicht mehr funktioniert, ein Siphon verstopft ist oder ein neuer Kasten fachgerecht zusammengebaut werden muss. Bei Computerproblemen ist Herbert derjenige, der auch dann immer noch weiterweiss, wenn alle anderen schon längst am Anschlag sind. Und bei Liebeskummer, Prüfungsangst oder einem Konflikt mit dem Chef werden zentnerschwere Probleme plötzlich ganz federleicht, wenn man von Conchita an der Hand genommen und auf jene Wolke mitgenommen wird, von der sie immer wieder erzählt und von wo aus auch die scheinbar grössten und schwersten Felsen so aussehen wie ein paar kleine Kieselsteine.

Und das ist noch längst nicht alles. Zum Beispiel hat die ganze Familie gemeinsam ein Abonnement der Lokalzeitung. Ohne viel zu bezahlen, haben somit dennoch alle den gleichen Zugang zu den wichtigsten Informationen und sind jederzeit darüber orientiert, was in der Stadt so läuft, oft wird auch über das eine oder andere Thema eifrig diskutiert, unterschiedliche Meinungen werden ausgetauscht. Selbst in ökologischer Hinsicht gibt es nur Vorteile: Um die Mahlzeiten für die 17 Personen zuzubereiten, braucht es jetzt nicht mehr vier oder fünf, sondern nur noch eine einzige Küche. Auch die Zahl der Waschmaschinen, Tiefkühlgeräte, Putzmaterial und Werkzeuge hat sich massiv reduziert. Eine Bohrmaschine, um nur ein Beispiel zu nennen, genügt doch vollauf für 17 Personen – was für ein Luxus und was für eine Verschwendung, wenn es in jedem noch so kleinen Haushalt solche Geräte gibt, die man während weit über 99 Prozent der Zeit gar nie braucht. Auch benötigen 17 Personen nicht vier, fünf oder noch mehr Autos, ein einziges müsste eigentlich genügen.

Unlängst hat Opa Wuzz sogar die Idee einer gemeinsamen Kasse in die Runde geworfen, die von allen, die mehr verdienen, als sie zum Leben brauchen, gefüttert werden könnte, und aus der alle anderen sich dann und wann einen kleinen “Luxus” leisten könnten, einen Ausflug, einen Restaurant- oder Theaterbesuch. Noch radikaler wäre die Idee, alle von den einzelnen Familienmitgliedern erzielten Erwerbseinkommen zusammenzunehmen und unter alle gleichmässig zu verteilen. Doch wahrscheinlich ist, obwohl es tausend gute Gründe dafür gäbe, die Zeit dafür noch nicht reif…

Grossfamilien wären ein Segen vor allem auch für Kinder und Jugendliche. Gewiss kann auch eine “gesunde”, “gut funktionierende” Kleinfamilie Kindern einen guten, fruchtbaren Boden für ihr späteres Leben bieten. Die Gefahr ist aber gross, dass die Kinder – vor allem, wenn es sich um Einzelkinder handelt – mehr oder weniger schutzlos der Willkür ihrer Eltern ausgeliefert sind. “Raya”, so berichtete das “St. Galler Tagblatt” am 5. Juni 2024 über eine tatsächlich dokumentierte, überaus tragische Lebensgeschichte eines betroffenen Kindes, “musste mittags Punkt 12 Uhr zuhause sein. Stiess sie eine Minute zu spät die Haustüre auf, schrie der Vater sie an und warf mit Essen um sich. Doch auch wenn sie pünktlich erschien, blieb sie stets auf der Hut. Wie ist Vaters Stimmung? Wie gelingt es, ihn nicht zu reizen? Denn es flog nicht nur das Essen durch die Luft, auch körperlich und seelisch war er gewalttätig, er trank, konsumierte Drogen, hatte Psychosen und Schizophrenie.” Raya ist inzwischen 39 Jahre alt. Heute weiss sie, weshalb sie als Kind eine extreme innere Anspannung verspürte, häufig an Migräne oder Bauchschmerzen litt und zeitweise feste Nahrung verweigerte. Sie weiss auch, weshalb sie selbst jetzt noch, als Erwachsene, nur mit Medikamenten ihre Ängste kontrollieren kann. Auch Valy war als Kind mit enormen psychischen Belastungen ganz auf sich alleine gestellt. Der Mutter fehlte jegliche Energie, sich um die Tochter zu kümmern. Gleichzeitig lebten sie derart in einem Mikrokosmos, dass sich die Ängste der Mutter auf das Mädchen übertrugen. Etwa, als sich die Mutter mit Panikattacken in der abgedunkelten Wohnung verschanzte: Valy musste damals jeden Abend kontrollieren, ob sich niemand in der Wohnung versteckt hielt und ob alle Storen gut verschlossen waren, plötzlich erlebte auch sie die ganze Welt als eine einzige allgegenwärtige Bedrohung. Und Raya und Valy sind nicht die Einzigen: Zurzeit gibt es in der Schweiz fast zwei Millionen Menschen, die als Kind unter der psychischen Erkrankung eines Familienmitglieds dermassen gelitten haben, dass sie oft lebenslang bleibende Schäden davontragen. Viele von ihnen müssen auch schon in jüngstem Alter Aufgaben im Haushalt und bei der Betreuung von Geschwistern übernehmen, zu denen ihre Eltern nicht imstande sind, was sich meistens auch auf die schulischen Leistungen auswirkt, bleibt ihnen doch kaum Zeit, um ihre Hausaufgaben zu erledigen, oder sind sie am Morgen so müde, dass sie zu spät oder gar nicht zur Schule gehen.

Während Raya, Valy und unzählige andere das alles still ertragen und nicht selten sogar die Schuld für all die Unstimmigkeiten und Qualen bei sich selber suchen, reagieren andere Kinder und Jugendliche auf solche Situationen dadurch, dass sie von zuhause ausreissen. Jahr für Jahr sind es schweizweit rund 25’000 Kinder und Jugendliche, die ihr Zuhause als ein so unaushaltbares Gefängnis empfinden, dass sie keinen anderen Ausweg mehr sehen, als die Flucht zu ergreifen. Viele von ihnen streunen tage- und nächtelang herum, übernachten selbst mitten im Winter irgendwo unter freiem Himmel, nicht wenige von ihnen geraten in die Fänge von Menschenhändlern, werden sexuell ausgebeutet oder verschwinden für immer spurlos – ein nahezu völlig tabuisiertes Thema ausgerechnet in einem so reichen, “fortschrittlichen” Land wie der Schweiz.

Kinder, die der Willkür ihrer Eltern schutzlos ausgeliefert sind, Kinder, die immer schwerere, von ihren eigenen Eltern aufgebürdete Rucksäcke weitertragen müssen, Kinder, die von zuhause ausreissen und von denen nicht wenige für immer spurlos verschwinden – dies alles wird in einer Grossfamilie mit der von allen gegenseitig ausgeübten Aufmerksamkeit und Unterstützung undenkbar sein, nicht nur was Kinder und Jugendliche betrifft, sondern ganz allgemein häusliche Gewalt und Instrumentalisierung von Kindern durch Probleme, Belastungen und übertriebene Erwartungen seitens ihrer Eltern.

Die alleinige Fokussierung auf die Kleinfamilie hat auch zur Folge, dass bei grösseren Krisen oder Todesfällen das gesamte bisherige Lebensgerüst, an dem sich das Kind festgehalten hat, von einem Tag auf den andern zusammenbricht. Meistens werden solche Kinder in eine Pflegefamilie versetzt und müssen sich ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, an dem sie den ganzen bisherigen Boden unter ihren Füssen verloren haben, in eine völlig neue und ihnen total fremde Umgebung einleben und sind auch dann nicht davor gefeit, dass auch die neuen Bezugspersonen unzimperlich oder bevormundend mit ihnen umgehen. Auch das ist in einer Grossfamilie undenkbar. Wenn eine der 17 Bezugspersonen wegbricht, sind immer noch 16 andere da, welche das bisherige Netz an Sicherheit und Geborgenheit aufrechtzuerhalten vermögen, 16 Menschen, zu denen das Kind bereits eine manchmal vielleicht sogar engere Beziehung aufgebaut haben mag als selbst zu den eigenen Eltern. Auch haben die Kinder in der Grossfamilie nicht nur eines oder zwei Vorbilder, sondern viele verschiedene. Sie können nicht nur von einer einzigen oder von zwei Personen etwas lernen, sondern auch von vielen anderen, von jeder etwas, was für ihre Entwicklung wertvoll sein kann. Sie sind nicht einem einzigen Erziehungsstil ausgeliefert, sondern erleben ganz unterschiedliche Verhaltensweisen von Erwachsenen gegenüber Kindern, die sie kritisch und selbstbestimmt miteinander vergleichen und werten können und die zugleich ein kleines Abbild sind einer vielfältigen demokratischen Gesellschaft, in der es nicht nur Richtig und Falsch gibt, sondern unendlich viel dazwischen. So wird die Grossfamilie zu einer eigentlichen Lerngemeinschaft, in der nicht nur die Jungen von den Alten etwas lernen können, sondern auch die Alten von den Jungen und alle miteinander und voneinander.

Umgekehrt liegt in der Grossfamilie auch nicht mehr die ganze Last der Betreuung und der Begleitung der Kinder auf bloss vier oder zwei Schultern. Während sich in der Kleinfamilie Papa und Mama oder sogar ausschliesslich die Mama von früh bis spät, Tag und Nacht, buchstäblich um alles kümmern muss und für alles verantwortlich ist und sich, wenn es trotz allem nicht wie gewünscht herauskommt, als totale Versagerin fühlt, ist dies alles in der Grossfamilie auf viele verschiedene Schultern verteilt, alle tragen Verantwortung für alle und niemand muss es als persönliches Versagen empfinden, wenn dabei, was ja völlig normal ist, vorübergehend auch Schwierigkeiten und Krisen auftreten, die man dann gemeinsam viel besser meistern kann, als wenn man ganz alleine auf sich gestellt und dabei oft hilflos überfordert ist. Wie ein bekanntes afrikanisches Sprichwort besagt, braucht es “ein ganzes Dorf, um ein Kind zu erziehen”. Oder zumindest eine Grossfamilie, wie auch der bekannte Neurobiologe Gerald Hüther in einer Publikation des Humanistischen Verbands Deutschlands vom 1. Oktober 2021 ausführte: “Erziehung muss nicht eine Individualangelegenheit der Eltern sein. Eingebettet in eine grössere soziale Gemeinschaft bringt sie grosse Chancen für eine ganzheitliche Entwicklung des Kindes. Denn Menschen sind zutiefst soziale Wesen, die bereits im Mutterleib als solche entstehen – sichtbar an physiologischen Mustern, die auf Verbindung mit anderen Menschen abzielen.”

Grossfamilien hätten zweifellos auch eine präventive Wirkung gegen die Gefahr von politischem oder religiösem Extremismus und würden wohl wesentlich dazu beitragen, dass es bei “Randgruppen” nicht zu einer Entwicklung in Richtung Gewalttätigkeit käme. Würde Amir auch noch im Alter von 15 oder 16 Jahren in einem Heim oder an einem anderen, von der übrigen Gesellschaft abgeschotteten Raum leben, weiterhin mit allen möglichen und unmöglichen Botschaften, Aufrufen und Ideologien im Internet und den sozialen Medien sich selber überlassen bleiben, wäre die Wahrscheinlichkeit, dass er eines Tages einer jener “delinquierenden ausländischen Jugendlichen” sein könnte, die landauf und landab in den Medien und in den Kampagnen gewisser politischer Parteien Schlagzeilen machen, wohl unvergleichlich viel grösser, als wenn er in einer sozialen Gemeinschaft gross werden kann, in der er sich verstanden, geborgen und geliebt fühlt und täglich von anderen Menschen Wertschätzung erfährt.

Wahrscheinlich müsste man früher oder später auch den Begriff der “Liebe” ganz anders definieren, als dies heute der Fall ist. Liebe ist doch nicht nur eine – in aller Regel mit Sexualität in Verbindung gebrachte – Paarbeziehung oder allenfalls noch die “Affenliebe” von Eltern, die ihre Kinder verhätscheln und ihnen jeden Wunsch erfüllen. Liebe ist doch auch, wenn Amanda Amir Deutschstunden gibt. Liebe ist doch auch, wenn Anna oder Herbert Roberto einen Teil seiner Betreuungsarbeit für Anna abnehmen, damit er am Wochenende seine Freunde treffen kann. Liebe ist doch auch, wenn Karin jetzt wieder eine Katze an ihre Brust drücken und sie liebkosen kann. Liebe ist doch auch, wenn man möglichst umweltbewusst zu leben versucht und einem die Lebensgrundlagen zukünftiger Generationen nicht egal sind. Liebe ist doch alles, was sich Menschen gegenseitig an Aufmerksamkeit, Zuneigung, Anteilnahme und Mitgefühl schenken können, das, was wir auch, seit Jesus diese wunderbare Botschaft in die Welt gebracht hat, als Nächstenliebe bezeichnen und zutiefst auch mit innerer Verbundenheit, Verantwortungsgefühl und Solidarität zu tun hat.

Die neue Grossfamilie wäre so etwas wie der erste Kreis, in den ein Mensch hineingeboren wird und in dem er sich bedingungslos willkommen fühlt. Ein Ort der Geborgenheit und der Gewissheit, dass er auch dann nicht zerbrechen wird, wenn einzelne Teile von ihm in Gefahr sind. Den zweiten Kreis könnten zum Beispiel Quartiervereine bilden, grössere soziale Gemeinschaften, in denen aber gleichermassen das Miteinander und das gegenseitige Verantwortungsgefühl im Vordergrund stehen. Der dritte Kreis, das wäre dann die Kommune, die auf den gleichen Grundsätzen weiterbauen müsste. In der heutigen kapitalistischen Leistungs-, Wettbewerbs- und Konkurrenzgesellschaft, in der jeder gezwungen ist, für sich den grösstmöglichen Anteil an Ansehen und materiellem Erfolg zu gewinnen, und so die Mitmenschen vor allem als Konkurrenten im Kampf um einen zunehmend kleiner werdenden Kuchen wahrgenommen werden, fehlt der erste Kreis gänzlich und auch der zweite ist, selbst wenn es ihn da und dort noch gibt, vom Aussterben bedroht. Die Menschen brauchen immer mehr Zeit und Energie für den individuellen Existenzkampf, so dass immer weniger Zeit und Energie für das Gemeinschaftliche, für das Miteinander, für die Solidarität mit Schwächeren übrig bleibt. Solange aber der erste und zweite Kreis fehlen, können auch die weiteren, darüber gestülpten Kreise nicht wirklich funktionieren. Die Menschen, die derart umfassend von ihrem individuellen Kampf für den Aufstieg und gegen den Abstieg innerhalb der herrschenden Klassengesellschaft absorbiert sind, haben kaum noch Ressourcen, sich um das Gemeinwohl innerhalb grösserer Bevölkerungssegmente zu kümmern, alles “Politische” wird zunehmend ausgeklammert und an den Rand gedrängt, was sich nur schon an der geringen Beteiligung an Wahlen und Abstimmungen zeigt. Gleichzeitig führen auch Einsamkeit und Isolation und das Gefühl der zu kurz Gekommenen, zunehmend an den Rand gedrängt und nicht mehr als gleichberechtigte Mitglieder der Gesellschaft wahrgenommen zu werden, dazu, sich kaum mehr auf etwas einzulassen, was auch nur im Entferntesten mit “Politik” zu tun hat, denn alle damit verbundenen Erwartungen wurden schon viel zu oft enttäuscht. Dies alles aber ist nichts anderes als eine zunehmende, scheibchenweise Erosion der Demokratie bis in letzter Konsequenz hin zu ihrem völligen Verschwinden.

Unsere Demokratie ist nicht in erster Linie durch irgendwelche ferne Autokraten bedroht, wie so oft behauptet wird, und was dann zynischerweise noch als Begründung für militärische Aufrüstung herhalten muss und damit für die Reduktion öffentlicher Gelder, die man ausgerechnet für soziale Sicherheit und damit für die Aufrechterhaltung einer demokratischen Ordnung dringendst bräuchte. Unvergleichlich in viel höherem Ausmass als durch ferne Autokraten ist unsere Demokratie durch durch unsere eigene Ideologie des kapitalistischen Konkurrenzprinzips bedroht, das auf der Zerschlagung all dessen beruht, was mit gegenseitiger Solidarität zu tun hat, und die Menschen einzig und allein auf den Kampf ums individualistische Überleben reduziert, genau so, wie es die britische Premierministerin Margaret Thatcher 1987 in einem Interview sagte: “So etwas wie Gesellschaft gibt es nicht, es gibt nur Individuen.” Diese auch als “neoliberal” bezeichnete Geisteshaltung, die nebst Thatcher vor allem auch von US-Präsident Ronald Reagan gepredigt wurde, stiess damals noch bei vielen Menschen auf erbitterte Kritik, heute ist sie sozusagen der “Normalzustand”, an den wir uns weitgehend gewöhnt haben und zu dem weitherum keine Alternative mehr in Sicht zu sein scheint.

Diese bloss auf den individuellen Überlebenskampf reduzierte Sicht, aufbauend auf jahrhundertelang zementierter Lügen wie jener, jeder sei “seines eigenen Glückes Schmied”, hat auch dazu geführt, dass die gegenseitige Anteilnahme, das gegenseitige Verantwortungsgefühl und das Interesse für gesellschaftliche Zusammenhänge nicht nur gegenüber den Nachbarn und den Mitbürgerinnen und Mitbürgern im eigenen Dorf und in der eigenen Stadt immer mehr verloren geht, sondern erst recht gegenüber allem, was noch weiter entfernt ist. Wurden noch in den Sechzigerjahren die wirtschaftlichen Ausbeutungsmechanismen zwischen der sogenannten “Ersten” und der sogenannten “Dritten” Welt öffentlich breit diskutiert, so werden die Länder des Südens heute von den meisten überprivilegierten Menschen des Nordens bestenfalls noch als möglichst billige und zugleich höchst attraktive Ziele für die nächste Ferienreise wahrgenommen – die Saat von Thatcher, Reagan und Ihresgleichen ist voll aufgegangen: Alle schwärmen von der Schönheit indischer Kunst- und Bauwerke, von der Farbenvielfalt auf den Gemüsemärkten in Kalkutta und Bangalore, und schicken Tausende Fotos all dieser Schönheiten rund um den Globus, aber niemand spricht davon, dass es im gleichen Land alleinerziehende Mütter gibt, die früh am Morgen ihrem Kind ein so starkes Schlafmittel verabreichen, dass es bis am Abend nicht mehr aufwacht, damit die Mutter zehn Stunden lang in mörderischer Hitze auf einer Baustelle arbeiten kann, nur damit sie und ihr Kind nicht verhungern müssen – was nichts anderes heisst, als dass es einer alleinerziehenden Mutter in der Schweiz, in Kanada oder in Mexiko im Grunde genau gleich geht wie einer alleinerziehenden Mutter in Indien, Kenia oder Bangladesch und nur die weltweite Übernahme gegenseitiger Verantwortung, das Wahrnehmen der weltweiten sozialen, wirtschaftlichen Zusammenhänge und die Solidarität einer möglichst grossen Zahl Privilegierter mit den Unterprivilegierten dauerhaft daran etwas zu ändern vermöchte.

Es ist nur ein kleiner Schritt, dachte sich Opa Wuzz eines Abends, als er wieder einmal sein Tagebuch zur Hand nahm. Aber es könnte vielleicht der Anfang von etwas Grösserem sein. Irgendwo muss es ja beginnen. Und wieder tropfte eine Träne in das Tagebuch, aber dieses Mal war es eine Träne der Freude, und erstaunlicherweise war auch seine Schrift längst nicht mehr so wacklig wie noch drei Jahre zuvor. Als wäre er wieder ein bisschen jünger geworden, seit er mit den kleinen Kindern in seiner Grossfamilie am Boden herumkriecht und mit ihnen all die wunderbaren Luftschlösser baut, die vielleicht eines Tages auf der Wolke von Conchita stehen werden oder im Herzen von Amir, wenn er irgendwann seine Zukunftsträume verwirklichen kann und vielleicht, wer weiss, eine eigene neue Grossfamilie gründen wird…

(Nachtrag am 11. September 2024: Michael Schulte-Markwort berichtet auf “FOCUS-Online” über die seelische Verwahrlosung der Kinder in deutschen Kitas. In Schweizer Kitas wird es vermutlich auch nicht grundsätzlich anders sein. Gäbe es nur noch Grossfamilien wie jene von Opa Wuzz, bräuchte es auch keine Kitas mehr. Schulte-Markwort schreibt: “300 Fachleute schlagen Alarm und warnen in einem offenen Brief vor den Folgen der Kitakrise für Kinder. Die Erzieherinnen müssen viel zu viele Kinder betreuen, was sehenden Auges für die Fachkräfte bedeutet, mitzuerleben, wie schlecht die Kinder selbst bei grössten Bemühungen versorgt sind. Untersuchungen haben gezeigt, dass es mindestens 20 Prozent der kleinen Kinder nicht gut geht. Das ist eine Form der institutionellen Verwahrlosung. Gerade die kleinen Kinder, die noch nicht in der Lage sind, über ihre seelischen Zustände zu sprechen, sind darauf angewiesen, dass sie liebevoll und umfassend gesehen und versorgt sind. Das ist aber nicht der Fall und führt zu psychischen Veränderungen in Form von Rückzug und Introversion und mutet mindestens an wie Vorformen depressiver Symptome… Auf der Seite der Fachkräfte führt zum einen das Erleben der mangelhaften Versorgung, aber auch der Engpass als solches zu psychischen Belastungen, die schnell mit Symptomen wie Erschöpfung oder auch psychosomatischen Krankheitszeichen einhergehen. Der dann entstehende Krankenstand führt zu einem Kreislauf, der die Ausfälle und die Erschöpfung verstärkt und zu immer ausgeprägteren Gefühlen der Sinnlosigkeit führen… Die Familien schliesslich sind immer wieder mit Ausfällen der Fachkräfte konfrontiert, die kompensiert werden müssen. Darüber hinaus müssen sie mit dem Gefühl leben, dass ihr Kind nicht gut versorgt ist und unter Umständen sehr leidet – ohne dass es dazu eine Alternative gibt. Insgesamt ein Kreislauf, der für die Schwächsten unserer Gesellschaft zu unzumutbaren Belastungen führt, die sie mit denen teilen, die sie versorgen wollen… Kinder reagieren immer auf die Psyche der sie umgebenden Menschen. Das ist keine Frage des Alters oder sprachlicher Fähigkeiten. Auch kleine Kinder erspüren immer, wie es zum Beispiel ihren Eltern geht, in welcher seelischen Verfassung sie sind – auch, wenn diese nicht darüber sprechen. Dasselbe gilt für die Fachkräfte in den Kitas. Wenn diese überfordert, erschöpft oder gar depressiv sind, dann erspüren die betreuten Kinder dies immer. Das führt entweder zu einer Übertragung dieser Belastung oder zu kindlichen Phantasien, dass sie selber zu belastend sein könnten für die Erzieherinnen. Damit verstärkt sich auf beiden Seiten die Belastung und unausweichliche Zirkel von psychischen Symptomen entstehen. Wenn die Erzieherinnen merken, wie schlecht es den Kindern geh, strengen sie sich noch mehr an, was die Belastung und Erschöpfung verstärkt, was dann wiederum die Belastung der Kinder erhöht. Ein Kreislauf ohne Aussicht auf Auflösung… Videoanalysen haben unter anderem gezeigt, dass 20 Prozent der Kinder in ihrer Mimik und Körpersprache signifikant ausdrucksloser als die anderen Kinder sind. Das erinnert an depressive Menschen, die hypomimisch werden, an Gesichtsausdruck verlieren und überhaupt weniger Energie und Ausdruck zeigen… Wir wissen aus anderen Untersuchungen an Kindern im Alter zwischen 4 und 8 Jahren, dass etwa 8 Prozent von ihnen die Kriterien für eine Depression erfüllt haben. Entgegen früherer Annahmen wissen wir heute, dass Depressionen auch im Kindes- und Jugendalter vorkommen, mit einer langsamen Zunahme mit dem Alter bis auf etwa 8 Prozent im Jugendalter… Je jünger die Kinder sind, desto weniger psychische Mechanismen haben sie, um mit Stressoren anders umzugehen, als sie aufzunehmen. Die Kleinen können nicht darüber sprechen, man kann ihnen keine Skills beibringen und auch alle anderen gängigen Strategien, auf die man professionell mit gestressten und/oder depressiven Menschen reagiert, können hier nicht zum Einsatz kommen. Da Kitakinder sich in der Regel über ihr psychisches Befinden noch nicht sprachlich ausdrücken können, sind sie darauf angewiesen, dass feinfühlige Eltern sich aufmerksam auf ihr Kind konzentrieren, um Signale wahrzunehmen. Eines der offensichtlicheren ist die Weigerung oder der anhaltende morgendliche Unwille des Kindes, in die Kita gebracht zu werden. Kein Arbeitnehmer würde lange an seinem Arbeitsplatz verweilen, wenn dieser mit morgendlichem Unwillen einhergeht. Komischerweise glauben viele Erwachsene, dass man dies den Kleinsten sehr wohl zumuten kann, weil sie sich dem elterlichen Willen am Ende unterordnen. Diese Unterordnung kann aber psychische Veränderungen nicht aufhalten… Weitere Symptome können körperliche Beschwerden wie Bauchschmerzen oder Appetitlosigkeit in der Kita sein. Die Umlenkung seelischer Impulse in körperliche Symptome sind im Kindesalter weit verbreitet. Ebenso können die Kinder mit (Ein-)Schlafstörungen oder Trennungsangst sowie einer erhöhten Weinerlichkeit auffallen… Natürlicherweise stehen die kindlichen Symptome manchmal den elterlichen Notwendigkeiten, zum Beispiel ihrer Arbeit pünktlich nachzugehen, im Wege. Das kann dazu führen, dass Eltern in ihrer Not die kindlichen Symptome nicht wahrnehmen oder bagatellisieren… Es gibt nach wie vor in unserer Gesellschaft die unausgesprochene Annahme, dass Kinder umso unwichtiger erscheinen, je jünger sie sind. Die Kleinsten werden nicht von Pädagoginnen der frühen Kindheit versorgt, sie sind in viel zu grossen Gruppen mit zu wenig Fachpersonal und dieser Trend setzt sich fort, indem Grundschullehrer weniger gelten als Gymnasiallehrer, Kinderärzte schlechter bezahlt werden als Erwachsenenmediziner und vieles andere mehr. Kinder haben keine Lobby, sie protestieren nicht, passen sich ungenügenden Umständen an und versuchen immer, es uns Erwachsenen recht zu machen. Im Umkehrschluss verwechseln wir diese Stille der Kinder mit Zufriedenheit. Immer wieder wird fürsorglichen Eltern Überfürsorglichkeit unterstellt – dahinter steckt die Annahme, dass Kinder sich von unreif zu reif, von unmündig zu mündig zu entwickeln haben und sie mit zu viel Aufmerksamkeit verwöhnt und lebensunfähig werden. Das Gegenteil ist der Fall!)

Die russische “Kriegspropaganda” und die Schweiz: Wenn man auf dem einen Auge so scharf sieht, dass man auf dem anderen schon fast blind ist…

“Putins Propaganda-Sender fährt Kampagne gegen die Schweiz” – so die Hauptschlagzeile auf der Titelseite des “Tagesanzeigers” vom 22. Juni 2024. SP-Nationalrätin Priska Seiler Graf, so lesen wir im Folgenden, sei vom russischen Staatssender RT (Russian Today) als “Kriegstreiberin” bezeichnet worden, Viola Amherd als “KIndermörderin”, die Bürgenstock-Konferenz als “Kriegsgipfel” und “Lachnummer”. Besonders befremdlich sei, so der “Tagesanzeiger”, dass die russische “Anti-Schweiz-Propaganda” bei immer mehr Menschen in der Schweiz Anklang finde, so sei die Zahl der Nutzerinnen und Nutzer der deutschsprachigen RT-Seite jüngst um rund 50 Prozent gestiegen. Ziel von RT sei ganz offensichtlich die “Spaltung der westlichen Gesellschaften”. Die Stimmen derer, die ein Verbot von RT für die Schweiz fordern, so wie es in der EU bereits in Kraft gesetzt worden ist, würden daher immer lauter. Auch Seiler Graf sei der Meinung, dass die Schweiz ein Verbot von RT mindestens prüfen müsse, handle es sich hier doch um “übelste Propaganda”. Die Artikel seien “so perfide konstruiert”, dass “viele Schweizerinnen und Schweizer das offenbar glauben”. Auch Mitte-Nationalrätin Nicole Barandun äussert sich dahingehend, dass “vielen schweizerischen Bürgerinnen und Bürgern offenbar die Fähigkeit oder der Wille fehlt, solche Falschinformationen als Propaganda zu erkennen”.

Bin ich auch einer von denen, der dieser “perfiden russischen Anti-Schweiz-Propaganda” auf den Leim gegangen ist? Auch in meinen Augen nämlich ist Priska Seiler Graf, neben vielen anderen, eine “Kriegstreiberin”. Auch ich könnte, wenn dies auf den ersten Blick auch etwas gar weit hergeholt zu sein scheint, Viola Amherd als “Kindermörderin” bezeichnen, hat sie doch mit ihrem total einseitigen Engagement für die Ukraine der schweizerischen Neutralität und damit einer der letzten Chancen für eine diplomatische Lösung des Ukrainekonflikts das Grab geschaufelt und damit fahrlässig Tausende weiterer Kriegsopfer in Kauf genommen, auch zahllose Kinder, und dies, ohne je das schweizerische Volk gefragt zu haben, ob es damit auch tatsächlich einverstanden sei. Auch ich würde die Bürgenstock-Konferenz als “Kriegsgipfel” und “Lachnummer” bezeichnen. Bloss: Ich bin ganz alleine zu diesem Schluss gekommen, ohne auch nur eine Sekunde lang von der russischen “Anti-Schweiz-Propaganda” beeinflusst worden zu sein oder zu diesem Thema einen Artikel auf RT gelesen zu haben.

Denn die Fakten als solche sprechen eine genug deutliche Sprache: Russland wurde ja von Viola Amherd und Ignazio Cassis hauptsächlich deshalb nicht zur Bürgenstock-Konferenz eingeladen, weil Selenski eine Teilnahme sonst verweigert hätte – man hat sich also, fern jeglicher neutral- und friedenspolitischer Tradition, klar für die Ukraine und gegen Russland entschieden und damit die Aussicht auf eine echte Friedenslösung zum Vornherein bewusst verbaut. Dies kommt auch im Kommentar des “Tagesanzeigers” vom 17. Juni zum Ausdruck, der das Abschlusspapier der Bürgenstock-Konferenz vor allem deshalb so “bemerkenswert” findet, weil es “ausdrücklich Russland die Verantwortung für den Ukrainekonflikt zuweist”, das Resultat der Konferenz daher als “frischen Sauerstoff für die Solidarität mit der Ukraine” bezeichnet und den Erfolg des Gipfels vor allem darin sieht, dass es “nicht in erster Linie um den Frieden” gegangen sei, sondern “um die Ukraine”, um abschliessend festzuhalten, dass damit nun die “Zeit reif geworden” sei, dass “die Ukraine nicht nur 15 neue Panzer bekommt, sondern 150 oder noch besser 1500.” Und wenn dies alles noch nicht genug gewesen wäre, um in meinen Augen die vermeintliche “Friedenskonferenz” als eigentliche Kriegskonferenz zu sehen, hätte es, als Tüpfelchen auf dem i, eigentlich nur noch die Aussage der US-Vizepräsidentin Kamala Harris gebraucht, die ganz unverblümt erklärte, Amerika stehe “nicht aus Nächstenliebe an der Seite der Ukraine”, sondern nur, “weil es in unserem strategischen Interesse liegt.”

Auch die “unsägliche” und angeblich völlig aus der Luft gegriffene Behauptung von RT, SP-Nationalrätin Priska Seiler Graf sei eine “Kriegstreiberin”, hat mehr als einen wahren Kern. Sie war es schliesslich, die, entgegen der ureigenen friedenspolitischen und pazifistischen Tradition ihrer eigenen Partei, mit ihrem Stichentscheid als Präsidentin der Sicherheitspolitischen Kommission des Nationalrats dafür die Verantwortung trägt, dass entgegen aller bisheriger neutralitätsrechtlicher Bedenken nun doch Schweizer Waffen an die Ukraine geliefert werden können. Dass Seiler Graf in diesem Zusammenhang gar noch von einer “Koalition der Willigen” sprach, schlägt dem Fass endgültig den Boden aus, war dies doch zuletzt der Begriff für die mit den USA verbündeten westlichen Militärmächte, die 2003 den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen den Irak lancierten, welchem in der Folge über eine halbe Million unschuldiger Menschen zum Opfer fallen sollten. Zum Glück gibt es noch die SVP, die gegen diesen Entscheid bereits das Referendum angekündigt hat…

Eigentlich fallen all die Vorwürfe an die Adresse Russlands, einseitig und tendenziös zu informieren und “Kriegspropaganda” zu betreiben, bei Lichte besehen auf den Westen selber zurück, und insbesondere auch auf die Schweiz. Denn die Einseitigkeit, mit der unsere Mainstreammedien zum Thema Ukraine und Russland berichten, lässt sich wohl kaum überbieten. So etwa wird die ganze Vorgeschichte des Ukrainekriegs von der seit Jahrzehnten seitens namhafter US-Politiker immer wieder erhobenen Forderung nach einer “Zerstückelung” Russlands über die entgegen sämtlicher früherer Zusagen kontinuierlich vorangetriebene NATO-Osterweiterung, die Verwicklungen der CIA in den Maidanputsch 2014 und die Diskriminierung der russischsprachigen Bevölkerung in der Ostukraine bis zum Konfliktlösungsvorschlag Putins im Dezember 2021, der von der US-Regierung kommentarlos zurückgewiesen wurde, in sämtlicher Berichterstattung systematisch ausgeklammert und mit allen Mitteln die Fiktion aufrechterhalten, wonach der Ukrainekrieg genau am 22. Februar 2022 angefangen hätte und keinen einzigen Tag zuvor. Auch werden sämtliche Themen, die auf die westliche Seite ein schlechtes Licht werfen könnten, systematisch unterdrückt bzw. verschwiegen: Bis heute gilt das “Massaker von Butscha” als eigentliches Mahnmal für die Brutalität und Grausamkeit der russischen Kriegsführung, obwohl nie eine unabhängige Untersuchung dieses Ereignisses stattgefunden hat. Ebenso liegt über den Hintergründen der Anschläge auf die Nordstream-Pipelines in der Ostsee nach wie vor ein Deckel der Verschwiegenheit. Auch darüber, dass bereits Tausende von russischsprachigen Lettinnen und Letten, die sich weigerten, lettische Sprachkurse zu besuchen, inzwischen ausgebürgert wurden, konnte man in den allermeisten westlichen Medien nie etwas lesen. Auch dass Alexei Nawalny, der in den westlichen Medien durchwegs zum Repräsentanten für Demokratie und Menschenrechte im Kampf gegen den brutalen Diktator Putin emporstilisiert wurde, in Tat und Wahrheit ein Rassist übelster Sorte war, ethnische Minderheiten als “Kakerlaken” bezeichnete, ihre Deportation forderte oder gar ihre Vernichtung mithilfe von Marschflugkörpern, all dies fand nie Platz in der Berichterstattung der westlichen Mainstream-Medien. Da beispielsweise im “Tagesanzeiger” über Wochen ausschliesslich positive und in höchstem Masse lobende, geradezu glorifizierende Berichte über Nawalny erschienen, sah ich mich zu einem Leserbrief veranlasst, in dem ich auf die negativen Seiten Nawalnys hinzuweisen versuchte. Der Leserbrief wurde nicht veröffentlicht. Auf meine Nachfrage an die Chefredaktion, ob es nicht im Sinne demokratischer Meinungsbildung liegen müsste, auch alternative Sichtweisen zu verbreiten, erhielt ich nie eine Antwort. Zwar heisst es in einem kürzlich vom Bundesrat veröffentlichten Bericht zur Informationspolitik, das Bundesgericht vertrete in seiner Rechtsprechung die “Grundannahme, dass die Individuen jede Meinung und Information sollen hören können, um sich im freien Austausch aller Äusserungen selbst eine Meinung bilden zu können”, doch Theorie und Praxis scheinen mittlerweile erschreckend weit auseinanderzuklaffen.

Wie tendenziös, ja geradezu militarisiert die ganz “gewöhnliche” Sprache in den meisten Medien schon geworden ist, kann man auf Schritt und Tritt bei der täglichen Zeitungslektüre feststellen. So etwa war im “Tagblatt” vom 22. Juni 2024 Folgendes zu lesen: “Russlands revanchistischer Imperialismus bedroht die europäische Sicherheitsordnung”, “Links- und rechtsaussen werden unter dem Deckmantel einer rigid ausgelegten Neutralität pazifistische Lieder angestimmt, eine gefährliche, den Interessen eines kleinen, auf die Respektierung des Völkerrechts angewiesenen Landes kaum dienende Grundhaltung”, “Unverständlich ist das antiamerikanische Grundrauschen”, “Im Umfeld von Roger Köppel kommen offen prorussische und reaktionäre Anwandlungen an die Oberfläche, die mitunter an der demokratischen Gesinnung zweifeln lassen”, “Im Nationalrat sind die als Pazifisten und Neutralisten verkleideten Antiamerikaner in der Mehrheit, sie verhindern eine längst angezeigte Zusammenarbeit der Schweiz mit der Nato”. Und nicht anders tönt es in der “NZZ am Sonntag”, so etwa am 23. Juni: “”Als Botschafter des globalen Chaos ist Putin nach Osten gereist und hat dort mit vagen Drohungen Amerikas Verbündete aufgebracht” und “Russland hat einen Angriffskrieg gegen die Ukraine begonnen, doch global ist es in der Defensive”. Beliebig viele weitere Beispiele liessen sich anfügen.

Dass bei soviel einseitiger und tendenziöser Berichterstattung, bei der fast alle Medien das Feld von Objektivität, Ausgewogenheit und journalistischer Sorgfaltspflicht schon längst weit hinter sich gelassen haben, eine zunehmende Anzahl von Schweizerinnen und Schweizern in “Versuchung” gerät, sich alternative Informationen zu beschaffen und diese dann unter anderem bei RT findet, ist ja nun wirklich nicht verwunderlich. Auch ich habe mir unlängst kurz überlegt, den RT-Newsletter zu abonnieren, habe es dann aber unterlassen. Eigentlich brauche ich die Propaganda von der anderen Seite gar nicht, um all die Einseitigkeiten, Widersprüchlichkeiten, subtilen Unterstellungen bis hin zu geradezu unverfrorenen Lügen unserer eigenen, westlichen Propaganda zu durchschauen.

Als Gipfel aller dieser Versuche, die Öffentlichkeit bewusst hinters Licht zu führen, hat nun, wie “Fricktal24”, die Online-Zeitung für das aargauische Fricktal, am 20. Juni berichtete, der Bundesrat in seiner Sitzung vom 19. Juni einen umfassenden Bericht unter dem Titel “Auslegeordnung zur Bedrohung der Schweiz durch Desinformationskampagnen” gutgeheissen, in dem ausschliesslich, wie “Fricktal24” schreibt, “staatliche Beeinflussungsakteure, die offensiv andere Werte, Normen und politische Systeme propagieren und demokratische Institutionen untergraben wollen”, thematisiert werden. Im Klartext: Desinformation erfolgt ausschliesslich durch das “böse” und “andersartige” Russland – dass in kriegerischen Zeiten wie der unseren auch die vermeintlich lupenreine eigene Seite in nicht weniger grossem Umfang Propaganda und Desinformation betreibt, wird zum Vornherein ausgeschlossen…

So etwa ist im besagten Bericht des Bundesrates über “Beeinflussungsaktivitäten und Desinformation” vom 19. Juni Folgendes zu lesen: “Mit Russlands militärischer Aggression gegen die Ukraine ist Krieg zurück in Europa und die Sicherheitsordnung des Kontinents nachhaltig erschüttert.. die Aktivitäten Russlands, aber auch Chinas, dürften mittel- und langfristig die grösste Relevanz für die Sicherheit der Schweiz behalten… einem globalen Publikum bieten russische Kanäle in sozialen und Online-Medien Desinformation und die gezielte Verfälschung der Realität in der Ukraine… es besteht zudem das Risiko, dass das Territorium der Schweiz als Drehscheibe missbraucht wird, um Beeinflussungsaktivitäten gegen Drittstaaten oder gegen internationale Organisationen durchzuführen oder zu finanzieren… zur Verbreitung seiner Sicht nutzt Russland beispielsweise oft betont apolitische Tarninstitutionen und Vereine als Fassade sowie gewisse russlandfreundliche Parteien und Politiker in westlichen Staaten, wobei die Verbindung und Finanzierung durch den russischen Staat nicht offensichtlich sein muss… der Kreml schuf mittels Parteispenden, Konferenzen und Einladungen nach Russland ein wohlgesinntes Netzwerk aus europäischen Politikerinnen und Politikern aus dem ganzen politischen Spektrum… Russland nutzt digitale Informations- und Kommunikationsmittel rege, um Desinformation zu streuen… seit Beginn des Kriegs in der Ukraine ist ein Zuwachs russischer Propagandainhalte in europäischen Sprachen auf kaum regulierten, nichtwestlichen Plattformen wie Tiktok und Telegram festzustellen… die Schweiz ist als Teil der westlichen Wertegemeinschaft schon länger Ziel von allgemeinen, auf westliche Staaten abzielenden Beeinflussungsaktivitäten… Für die Schweiz stehen im Zusammenhang mit Beeinflussungsaktivitäten Russland, aber auch China als mutmassliche Urheber im Vordergrund.”

Aber auch, was mögliche Massnahmen gegen die angeblich zunehmende russische und chinesische Propagandalawine betrifft, wird alles, was aus dem Westen kommt, ohne kritisches Hinterfragen als “gut” und “richtig” dargestellt. So etwa ist zu lesen: “Die demokratischen Staaten entwickeln unterschiedliche Instrumentarien zur Bekämpfung ausländischer Einflussnahme, in den USA zum Beispiel beobachtet das Global Engagement Center die Lage und stellt durch Russland verbreiteten Narrativen Fakten gegenüber… das European Digital Media Observatory ist ein von der EU finanziertes Netzwerk, das Desinformationskampagnen analysiert und die Medienkompetenz der Bevölkerung stärkt… führende westliche Social-Media-Unternehmen wie Facebook, Youtube und X schränkten in unterschiedlichem Ausmass den Zugang zu Inhalten aus staatsnahen russischen Quellen ein… die Nato wird in ihren Bemühungen gegen Desinformation durch ein unabhängiges Kompetenzzentrum unterstützt… Bemühungen der USA und der EU, Beeinflussungsaktivitäten und Desinformation durch den Einsatz von KI zunehmend aufzudecken, bieten der Schweiz Möglichkeiten der Übernahme und können als Vorbild dienen.”

Im Weiteren fordert der Bericht weitergehende Kompetenzen für all jene Institutionen, welche Beeinflussungsversuche ausländischer Mächte analysieren, kontrollieren und bei Bedarf weiter einschränken sollten: “Der Nachrichtendienst des Bundes (NDB) kann Beeinflussungsaktivitäten im Ausland bearbeiten, wenn diese für die sicherheitspolitische Lage der Schweiz von Bedeutung sind… der NDB kann auch einem schweizerischen Provider empfehlen, eine ausländische Website zu sperren, insbesondere wenn staatliche russische Akteure nachweislich kriminelle Organisationen für ihre Zwecke einspannen… Fedpol kann Einreiseverbote und Ausweisungen verfügen, wenn eine Person mit ihren Beeinflussungsaktivitäten die innere und die äussere Sicherheit der Schweiz gefährdet… der NDB hat die mit der hybriden Konfliktführung einhergehenden Beeinflussungsmöglichkeiten insbesondere Russlands und Chinas aufzuklären… Desinformation kann Armeeangehörige bereits vor dem Eintritt in den Dienst oder während ihrer Auftragserfüllung beeinflussen, die Armee beobachtet deshalb den Informationsraum im Alltag, insbesondere aber im Rahmen von Einsätzen und Operationen, entsprechende Erkenntnisse fliessen in einen wöchentlichen Lagerapport des Kommandos Operationen ein… derzeit konzipiert die Bundeskanzlei eine Informations-App für die Kommunikation des Bundesrates als direkten Kanal zur Bevölkerung, dieser könnte im Krisenfall wie auch im Fall von Beeinflussungsaktivitäten, bei denen eine Reaktion des Bundesrates erforderlich ist, durch Push-Benachrichtigung eingesetzt werden… künftig soll die Kerngruppe Sicherheit regelmässig die Thematik Beeinflussungsaktivitäten und Desinformation traktandieren, ebenso soll das Potenzial zum Ausbau und zur Institutionalisierung des internationalen Austauschs und der Zusammenarbeit geprüft werden, namentlich bezüglich des Zugangs zu Datenbanken und Analysen des Europäischen Auswärtigen Diensts.”

Beim genaueren Lesen des Berichts fallen seine inneren Widersprüchlichkeiten auf. So wird zwar einerseits ein krasses Bedrohungsbild durch russische und chinesische Desinformationspropaganda an die Wand gemalt, dann aber heisst es, der Bundesrat beurteile “deren Reichweite aber letztlich als gering”. Zudem bedient sich der Bericht höchst manipulativer Aussagen, obwohl er ja genau dies dem politischen Gegner unterstellt: So ist zu lesen, dass eine im Jahre 2021 durchgeführte Internetnutzungsumfrage durch das Bundesamt für Statistik ergeben hätte, dass “45 Prozent der Bevölkerung angibt, auf Nachrichtenseiten oder in sozialen Netzwerken fragwürdige Informationen gesehen zu haben”. Weil aber im ganzen Bericht stets nur die Rede von russischen und chinesischen Beeinflussungsversuchen die Rede ist, wird auch diese Aussage in den gleichen Kontext gestellt, obwohl die Umfrage aus dem Jahr 2021 höchstwahrscheinlich viel mehr mit der Coronakrise zu tun hatte und der Ukrainekrieg ja noch gar nicht begonnen hatte. Weiter steht im Bericht, das “Zusammenspiel von öffentlichen und privaten Medien sowie das Mehrparteiensystem mit seiner auf Konsens basierenden Politik stärken im internationalen Vergleich die Widerstandsfähigkeit der Schweiz gegen Polarisierung und Populismus” – wiederum aber geht es bei dieser Aussage ausschliesslich um die Widerstandsfähigkeit gegen Einflussnahme von ausserhalb der Schweiz, nicht aber um Widerstandsfähigkeit gegenüber der Einseitigkeit und zunehmend tendenziösen Ausrichtung der eigenen, offensichtlich über sämtliche Zweifel erhabenen Medien. Wenngleich dann aber ein paar Seiten später eingeräumt wird, das allgemeine Vertrauen in die Schweizer Medien sei “von 50 Prozent im Jahr 2016 auf 42 Prozent im Jahr 2023 gesunken” – ohne dass aber auch nur mit einem Wort auf mögliche Ursachen dieser Entwicklung eingegangen wird. Im Bericht wird auch das für Radio und Fernsehen geltende “Sachgerechtigkeitsgebot” erwähnt, welches dann verletzt sei, “wenn Informationsinhalte so manipuliert werden, dass sich das Publikum kein persönliches Bild mehr machen kann” – dieses Sachgerechtigkeitsgebot wird aber heute in weit grösserem Ausmass dadurch verletzt, dass auch schweizerische Radio- und Fernsehprogramme viel zu häufig unhinterfragt die westliche bzw. US-Optik übernehmen und viel weniger oder sogar gar nicht dadurch, dass russische oder chinesische Propaganda in Nachrichtensendungen einfliessen würde.

Beim Lesen des bundesrätlichen Berichts fühlt man sich unwillkürlich in die schlimmsten Zeiten des Kalten Krieges zwischen 1945 und 1991 zurückversetzt. Die Wortführer von damals scheinen aus ihren Schlupflöchern wieder herausgekrochen zu sein und ein richtiges Comeback zu feiern. Nur dass es diesmal nicht gegen den “bösen” Kommunismus in Gestalt der Sowjetunion geht, sondern um Putin und das heutige Russland, das zwar längst nichts mehr mit Kommunismus zu tun hat, sondern im Gegenteil ein durch und durch kapitalistisches Land ist, aber egal, Hauptsache, man hat wieder ein Feindbild, auf das man mit allen Rohren schiessen kann. Es scheint eben doch trotz aller gegenteiligen Behauptungen so zu sein, dass der Westen zu seiner eigenen Legitimierung unbedingt auf ein Feindbild angewiesen ist, ob das nun die Sowjetunion, Russland, der Terrorismus oder ganz allgemein der Islam ist. Diese Vermutung wird auch dadurch bestätigt, dass der Westen das Ansinnen Russlands im Mai 1997, der Nato beizutreten, mit der Begründung ausschlug, dass ja dann die Nato ihren Sinn verlieren würde.

Ein dermassen aufgebauschtes Feindbild, das offensichtlich darin besteht, mit dem einen Auge so scharf zu sehen, dass das andere schon fast gänzlich blind geworden zu sein scheint. Denn “Manipulation”, “Desinformation” und “Beeinflussungsaktivitäten” gibt es nicht nur seitens Russlands und Chinas, sondern ebenso, und möglicherweise sogar noch in höherem Ausmass , seitens des Westens und insbesondere der Nato, wie folgender in der “Wochenzeitung” vom 16. September 1999 veröffentlichter Artikel von Andreas Zumach, UNO-Korrespondent der “tageszeitung” von 1988 bis 2020, über den Nato-Krieg gegen Jugoslawien im Frühjahr 1999, den sogenannten “Kosovokrieg”, zeigt.

“Für die Informationsarbeit der Nato-Staaten vor, während und nach dem Kosovokrieg”, so Zumach, “waren vor allem zwei Erfahrungen der Vergangenheit von Bedeutung: der Vietnamkrieg der USA in den sechziger und siebziger Jahren sowie der Golfkrieg einer US-geführten Allianz gegen den Irak im Frühjahr 1991. Der Vietnamkrieg wurde für Washington zu einem innenpolitischen Debakel, als die drei grossen Fernsehnetzwerke der USA (CBS, NBC und ABC) begannen, ihre eigenen, vom Pentagon weitgehend unabhängigen Bilder und Berichte vom Kriegsschauplatz zu verbreiten. Das wollten die Militärs nicht noch einmal erleben. Bereits im Vorfeld des Golfkriegs wurden deshalb 95 Prozent der US-Zeitungen, Fernseh- und Rundfunkanstalten vom Pentagon vertraglich zur Selbstzensur verpflichtet. Nur wer diese Verträge unterschrieb, erhielt beschränkten, vom US-Militär auf Schritt und Tritt kontrollierten Zugang zur Kriegsregion. Als zentrale Informationsquellen wurden das Verteidigungsministerium in Washington und sein damaliges Kriegshauptquartier in Saudi-Arabien vorgegeben. Die Medien und JournalistInnen aus dem ‘Rest der Welt’, obwohl nicht Partner dieser Selbstzensurverträge, hielten sich fast alle daran. Die perfekte Informationssteuerung im Golfkrieg des Frühjahrs 1991 wurde noch erleichtert durch die zentrale Rolle, die erstmals der – weitgehend an den Vorgaben Washingtons orientierte – US-Kabelsender CNN spielte. Von ihm übernahmen die Fernsehanstalten fast der ganzen Welt ihre Bilder – zumeist ohne weitere Überprüfung. Und auch im Kosovokrieg, dem völkerrechtswidrigen Angriff der Nato gegen Jugoslawien im Frühling 1999, verfing die Strategie. Die von der Allianz unter Führung der USA vorgegebenen Begriffe, Sprachregelungen und Interpretationen wurden in 90 Prozent aller US-amerikanischen Medienberichte umstandslos übernommen, wie inzwischen vorliegende Untersuchungen zeigen. So war in den Medien fast immer nur von der ‘Luftkampagne’ der Nato die Rede, seltener von ‘Luftangriffen’ und fast nie von ‘Krieg’ (genau das, was Russland im Zusammenhang mit dem Ukrainekrieg vorgeworfen wird, wenn Putin nicht von einem ‘Krieg’ spricht, sondern von einer ‘Militäroperation’!). Von 291 Quellen, die zwei der einflussreichsten Fernseh-Abendnachrichtenprogramme in den USA in ihrer Berichterstattung zitierten, waren lediglich acht kritisch gegenüber dem Nato-Luftkrieg. Über den – inzwischen bestätigten – vielfachen Einsatz von Splitterbomben und von Granaten mit uraniumgehärteten Sprengköpfen wurde während des Krieges im Deutschen Fernsehen bloss ein einziges Mal berichtet. Alle anderen Medien gaben sich offenbar mit Dementis aus Brüssel zufrieden. Und dies trotz massiver Indizien und der seit einigen Jahren wohl bekannten, verheerenden Folgen, die der Einsatz derartiger Waffen im Golfkrieg von 1991 unter der irakischen Zivilbevölkerung verursacht hat.
Am politisch folgenreichsten aber war das Versagen der meisten Medien und JournalistInnen in den Wochen vor Beginn des Nato-Krieges – insbesondere während und nach den Verhandlungen zwischen Serbien und Vertretern der Kosovo-Albaner in Rambouillet und Paris unter Federführung der ‘Balkan-Kontaktgruppe’, den Aussenministern der USA, Russlands, Grossbritanniens, Deutschlands, Frankreichs und Italiens. Das von Mitgliedsstaaten dieser Gruppe seinerzeit öffentlich verkündete Ziel der Verhandlungen – ein Statut für eine autonome jugoslawische Provinz Kosovo – wurde umstandslos weiterverbreitet, der Entwurf der Kontaktgruppe für ein Abkommen hingegen zunächst gar nicht oder nur sehr oberflächlich zur Kenntnis genommen. Nach dem Scheitern der Verhandlungen wurde die Darstellung der Aussenminister, ‘alle politischen und diplomatischen Möglichkeiten’ für eine friedliche Lösung des Kosovo-Konflikts seien ausgeschöpft worden, von den meisten Medien übernommen. Ohne weiteres geschluckt wurde auch die nachweislich falsche Darstellung, Russland habe während der Verhandlungen die Position der westlichen Staaten mitgetragen. Als Mitte April der inzwischen berühmt gewordene Annex B des Vertragsentwurfs über die Rechte der Kosovo-Besatzungsmacht durch einen Artikel in der Berliner ‘tageszeitung’ einer breiteren Öffentlichkeit bekannt wurde und damit die Darstellungen des deutschen Aussenministers Joschka Fischer und seiner Kollegen ernsthaft in Frage gestellt wurden, reagierte das deutsche Bundesaussenministerium bloss mit heftigen Angriffen auf den verantwortlichen Journalisten.”

Es ist kaum davon auszugehen, dass die Propagandamethoden der Nato heute viel anders sind als vor 25 Jahren, zur Zeit des Kosovokriegs. Im Gegenteil, höchst wahrscheinlich sind sie heute noch viel raffinierter und noch viel weniger durchschaubar. So raffiniert und undurchschaubar, dass sich die Mehrheit auch der Schweizer Bevölkerung noch immer in den guten alten Zeiten von Demokratie, Selbstbestimmung und Neutralität wähnt, während wir in Tat und Wahrheit doch schon längst, heimlich, schleichend und ohne dass dies auch nur im Entferntesten demokratisch abgestützt worden wäre, zum integralen Bestandteil der westlichen, von den USA angeführten Kriegsmacht geworden sind und damit die historische Chance, als echte, neutrale Friedensmacht durch diplomatische Vermittlung zu einer gewaltfreien Lösung des Ukrainekonflikts und damit zur Verhinderung eines allesvernichtenden dritten Weltkriegs entscheidend beitragen zu können, längst vertan wurde – genau das, was uns die vermeintliche russische “Kriegspropaganda” heute so gnadenlos vor Augen hält. Und wir, von allen guten Geistern verlassen, alles, was unsere Weltsicht in Frage stellen könnte, in Bausch und Bogen verwerfen, statt es zum Anlass einer Denkpause zu nutzen und noch einmal auf das Feld Null zurückzukehren…

Amin, Ela, Baran und Aziz: Eine afghanische Flüchtlingsfamilie und wie sich mein Leben in so kurzer Zeit so tiefgreifend verändert hat…

Amin und Ela mit ihren beiden Buben, dem viereinhalbjährigen Baran und dem eineinhalbjährigen Aziz, sind vor drei Wochen bei mir eingezogen. Seither ist mein Haus, das nach dem Auszug unserer drei Kinder und dem Tod meiner Frau vor fünfeinhalb Jahren für mich alleine viel zu gross gewesen war, zum ersten Mal wieder voller Leben. Aziz kann von den Kirschen, die jetzt nach und nach reif werden, gar nicht genug bekommen. Baran spielt am liebsten mit dem roten Spielzeugferrari und hat schon einen Riesenturm aus Legosteinen gebaut. Ela hat die paar wenigen Kleidungsstücke und den Schmuck, den sie vor vielen Jahren von ihrer Mutter geschenkt bekommen und nun auf die Reise in die Schweiz mitgenommen hat, fein säuberlich in ihrem neuen Zuhause eingeräumt. Die grosse Schiefertafel beim hinteren Hauseingang ist voll mit von Amin gezeichneten persischen Schriftzügen, ein richtiges kleines Kunstwerk. Und auf dem Küchentisch steht ein noch warmer afghanischer Kuchen, dessen Duft das ganze Haus durchströmt. Schon lange nicht mehr hat sich mein Leben in so kurzer Zeit so stark verändert.

Obwohl sich die Menschenrechtslage in Afghanistan seit der Machtübernahme der Taliban im Juli 2021 weiter verschlechtert hat, weisen die Schweizer Behörden, wie “Swissinfo” am 6. April 2023 berichtete, weiterhin die überwiegende Mehrheit der schutzsuchenden Afghaninnen und Afghanen ab – eine Politik, die in krassem Gegensatz zur grosszügigen Aufnahme ukrainischer Flüchtlinge steht. Wer eine Chance haben will, aus Afghanistan in ein europäisches Aufnahmeland zu gelangen, muss zunächst, wie das inzwischen über 1,6 Millionen Menschen getan haben, über die Grenze in den Iran oder nach Pakistan fliehen und dort ein humanitäres Visum beantragen. Doch die Hürden sind hoch. So wurden im Jahr 2022 von sämtlichen von Afghaninnen und Afghanen für die Einreise in die Schweiz beantragten humanitären Visa gerade mal 5,5 Prozent bewilligt. Antragstellende müssen eine unmittelbare, individuelle, konkrete und ernsthafte Bedrohung für Leib und Leben nachweisen, die Zugehörigkeit zu einer Risikogruppe wie Frauen oder Mädchen reicht nicht. Zudem müssen sie einen engen und aktuellen Bezug zur Schweiz haben, etwa durch Verwandte oder einen früheren Aufenthalt im Land. Doch auch für all jene, welche es nach Überwindung aller dieser Hürden schliesslich bis in die Schweiz geschafft haben, ist die Zukunft immer noch ungewiss: Im Jahre 2022 erhielten von sämtlichen in der Schweiz Asyl suchenden Afghaninnen und Afghanen nur 533 eine dauerhafte Aufenthaltsbewilligung (Ausweis B), 2’274 eine vorübergehende Aufenthaltsbewilligung (Ausweis F) und 1’231 Anträge wurden abgewiesen. Personen mit einer F-Bewilligung sind mit Einschränkungen bei Reisen ins Ausland, bei der Sozialhilfe und bei der Familienzusammenführung konfrontiert, zudem schreckt der Status der befristeten Bewilligung potenzielle Arbeitgeber ab. Eine F-Bewilligung bedeutet, nie sicher zu sein, dauerhaft in der Schweiz bleiben zu können.

Amin, Ela, Baran und Aziz gehören zu den wenigen Glücklichen, die es geschafft haben, eine B-Aufenthaltsbewilligung zu bekommen und dauerhaft in der Schweiz bleiben zu können. Doch auch ihr Weg war steinig. Auch sie tragen schwere Wunden. Amin musste mit ansehen, wie Elas Eltern beim Verlassen einer Moschee, wo er auf sie gewartet hatte, vor seinen Augen von Talibankämpfern niedergeschossen wurden, seine geliebten Schwiegereltern, einfach so beide innerhalb einer Sekunde tot. Alle, so Amin, hätten vor allen anderen Angst, keiner traue einem andern über den Weg – ein permanenter Schockzustand. Käme einem jemand auf der gegenüberliegenden Strassenseite entgegen, wisse man nie, ob der nicht schon im nächsten Augenblick eine Waffe zücken werde. Auch wenn man zum Mitfahren in ein fremdes Auto steige, müsse man stets damit rechnen, vom Fahrer mit einem Messer attackiert zu werden. Das Schrecklichste sei jene Nacht gewesen, in der Amin bei einer Tante, die in einem kleinen Bergtal lebt, auf Besuch war und dort übernachtete. Das Raketenfeuer von den beiden gegenüberliegenden Seiten des Tales hätte den Himmel taghell erleuchtet, dazu ein ohrenbetäubender Höllenlärm, die Kinder der Tante, zitternd vor Angst, hätten während der ganzen Nacht kein Auge zugetan. Als er die Tante gefragt hätte, weshalb sie immer noch dort wohne, hätte sie ihm erklärt, dass sie gar keine andere Wahl hätte, weil ihr winziges Guthaben niemals ausreichen würde, um eine andere Wohnung oder ein anderes Haus zu kaufen. In jenem Bergtal war es auch, wo Amin im Garten eines Nachbarhauses ein etwa fünfjähriges Mädchen erblickte, das auf ihn einen besonders erbärmlichen Eindruck machte. Als er es fragte, welches sein grösster Wunsch sei, gab das Mädchen zur Antwort: Wenigstens einmal pro Tag Essen zu bekommen…

Als die Angriffe der Taliban immer heftiger wurden, hätten Amin und sein Vater, der Soldat bei den Regierungstruppen war, beschlossen, das Land zu verlassen. Als sie mit dem Auto in Richtung der iranischen Grenze fuhren, seien plötzlich von allen Seiten Talibankämpfer aufgetaucht, der Vater hätte das Auto dermassen beschleunigen müssen, dass es schliesslich mit voller Wucht in eine Felswand geprallt sei, Amin mit gebrochenem Unterarm und seinem glücklicherweise unverletzt gebliebenen Vater gelang es nur um Haaresbreite, den Angreifern zu entkommen und schliesslich, grösstenteils zu Fuss, in den Iran zu gelangen, wo sie Arbeit in einer Textilwerkstatt gefunden hätten, der Vater aber nach all den Strapazen so geschwächt gewesen sei, dass er schon nach kurzer Zeit im Alter von 55 Jahren an einem Herzinfarkt gestorben sei. Doch nicht nur seinen Vater und seine Schwiegereltern hat Amin verloren, sondern auch noch viele weitere Verwandte, Nachbarn, Schulkollegen und mehrere seiner allerbesten Freunde.

Zu diesem Zeitpunkt war Ela mit Baran und Amins Mutter, seiner Schwester und seinen beiden Brüdern noch in Kabul verblieben. Aziz kam erst zur Welt, als Amin seine Familie schon längst hatte verlassen müssen. Später flohen die anderen Familienmitglieder ebenfalls in den Iran, Ela und die beiden Buben erhielten nach längerer Zeit die sehnlichst erwarteten Reisedokumente und durften in die Schweiz einreisen, wo Amin vor drei Wochen auf dem Zürcher Flughafen seinen inzwischen eineinhalbjährigen zweiten Sohn zum ersten Mal sah. Alles, was Ela und die beiden Buben besassen, hatte in einem einzigen Koffer Platz. Amins Mutter, seine Schwester und seine beiden Brüder leben weiterhin im Iran, höchstwahrscheinlich wird Amin sie zeitlebens nie wieder sehen.

Aber Amin kennt auch all die Geschichten der sogenannten “Illegalen”, von denen einer seiner besten Freunde buchstäblich den ganzen Weg von Afghanistan bis in die Schweiz zu Fuss zurücklegte, zwei Mal im Gefängnis landete, doch meist nach kurzer Zeit wieder entlassen wurde. Er kennt auch die Geschichte jener schwangeren Frau, die sich mit letzter Kraft im Schnee und in der Kälte über das dreitausend Meter hohe Elbrusgebirge quälte und im kärglichen Schutz einer kleinen Felshöhle ihr Kind zur Welt brachte. Er kennt auch die Geschichte jener Familie, deren Vater unterwegs gestorben war und den sie einfach so schutzlos liegen lassen mussten, um, vom Hunger getrieben, nicht zu viel Zeit zu verlieren. Er hat auch Kenntnis von Vorfällen an der bulgarisch-türkischen Grenze, Frauen, die von bulgarischen Polizisten vergewaltigt wurden und deren blutige Kleider später im Wald gefunden wurden. Man hat ihm auch davon erzählt, dass auf Flüchtlinge an der türkisch-griechischen Grenze Bluthunde gehetzt werden, Männer und Frauen verprügelt, ihnen ihr Geld abgenommen und ihre Kleider vom Leibe gerissen werden. Und er weiss auch, dass von den 18’000 Flüchtlingen, welche zwischen Januar und Mai 2024 die Fluchtroute über Westafrika zu den Kanarischen Inseln gewählt hatten, 4808 unterwegs auf dem Weg über den Atlantik ihr Leben verloren, unter ihnen viele Afghaninnen und Afghanen.

Unweigerlich kommen mir die im Vorfeld der schweizerischen Parlamentswahlen letzten Herbst bis zum Überdruss wiederholten Worte des damaligen SVP-Präsidenten Marco Chiesa in den Sinn, es kämen “zu viele Ausländer” in die Schweiz und vor allem die “Falschen”. Doch welches sind die “Richtigen” und welches sind die “Falschen”? Und wer entscheidet das? Sind die Multimillionäre aus Kuweit, die an bester Lage am Genfersee ihre Luxusvillen bauen lassen, die “Richtigen”? Und wäre die Frau aus Afghanistan, die im Schnee und in der Kälte des iranischen Elbrusgebirges ihr Kind zur Welt brachte, eine der “Falschen”? Wie viel Herzlosigkeit bräuchte es, wenn man einen Abend lang solche Geschichten zu hören bekommen hätte und dann dennoch immer wieder so viel blinden Hass verbreiten würde? Und wenn Chiesa sagte, es kämen “zu viele”: Ich habe mal nachgerechnet, auf 100 Menschen in der Schweiz kommt ein einziger Flüchtling! Sind wir nicht genug stark und reich, um dies zu verkraften, und vielleicht sogar noch einiges mehr? Muss es uns nicht zu denken geben, wenn wir das beispielsweise mit einem wirtschaftlich ungleich viel schwächeren Land wie dem Libanon vergleichen, wo auf 100 Einheimische nicht nur einer, auch nicht nur zwei, nicht einmal zwanzig, sondern sage und schreibe 100 Flüchtlinge kommen?

Amin zeigt mir auf seinem Smartphone ein Schwarzweiss-Foto. Kabul 1954. Kaum zu glauben: Durch die afghanische Hauptstadt rollen Trolleybusse! Afghanistan war zu jener Zeit ein relativ wohlhabendes Land mit moderner Infrastruktur, einem Zweikammerparlament im Rahmen eines konstitutionellen Königtums, mit Meinungs- und Pressefreiheit sowie Frauenwahlrecht, und dies bereits 40 Jahre, bevor es in der Schweiz eingeführt wurde. Heute, so Amin, ist alles kaputt. Seit 1978, im permanenten Strudel wechselnder Machtkämpfe zwischen rivalisierenden Warlords und den sich von aussen einmischenden Grossmächten Sowjetunion und USA, ist Krieg der ganz “normale” Alltag in Afghanistan. Nach rund 300’000 Kriegsopfern, Millionen Geflüchteter und der weitgehenden Zerstörung von Wirtschaft, Infrastruktur und zivilen Einrichtungen und Institutionen zählt Afghanistan heute zu den ärmsten Ländern der Welt. Millionen von Afghaninnen und Afghanen, sagt Amin, sind im Krieg geboren, sind im Krieg aufgewachsen, haben im Krieg geheiratet, haben im Krieg gearbeitet und sind im Krieg gestorben. Nie haben sie etwas anderes gekannt als Krieg.

„Wer hat, dem wird gegeben“, „Es regnet immer dorthin, wo es schon nass ist“, „Der Teufel scheisst immer auf den grössten Haufen“ – diese bekannten Redewendungen, in Anlehnung an ein Bibelzitat auch als “Matthäus-Effekt” bekannt, sind wohl für wenige Länder so zutreffend wie für Afghanistan. Das kriegsgeplagte, von himmelschreiender Armut betroffene Land wurde, wie die “Wochenzeitung” vom 23. Mai 2024 berichtete, anfangs Mai Opfer sintflutartiger Überschwemmungen. “Der Fluss war voll mit allem, was man sich vorstellen kann”, erzählt ein im betroffenen Gebiet im Norden Afghanistans lebender Arzt, “Lehm, Holz, Metall, Stein, Menschen und Tiere – ein Anblick des Grauens.” Den offiziellen Zahlen der Taliban zufolge wurden 420 Menschen getötet, die Dunkelziffer dürfte freilich viel höher liegen. Viele Menschen gelten weiterhin als vermisst, die Rettungstrupps müssen sich durch zwei Meter dicke Schlammschichten kämpfen. Ganze Dörfer wurden mitgerissen. Auch ist die Rede von 10’000 ertrunkenen Rindern und Schafen, 6000 zerstörten Häusern und vielen unbrauchbar gewordenen Ackerfeldern. “Die Menschen”, so der Arzt, “werden sich kaum von dieser Katastrophe erholen können, doch schon steht die nächste an, denn auf die Flut wird der Hunger folgen und dieser wird wahrscheinlich abermals unzählige Afghaninnen und Afghanen zur Flucht zwingen.” Man stelle sich einmal ein derartiges Ereignis mitten in Europa vor – alle Zeitungen, Radio und Fernsehen würden tage-, wenn nicht wochenlang über nichts anderes mehr berichten. Dass in unseren Medien kaum etwas von dieser verheerenden Flutkatastrophe in Afghanistan zu hören oder zu sehen war – auch das ist eine schreiende Form von Rassismus und Menschenverachtung.

Laut “Tagesanzeiger” vom 20. Juni 2024 ist Afghanistan “ein Land im Dauernotstand”. Nebst den Repressalien der Taliban und den wirtschaftlichen Problemen wird das Land auch immer wieder von Naturkatastrophen wie Erdbeben und Überschwemmungen heimgesucht, nicht zuletzt als Folge des Klimawandels – jetzt gerade ist es in der Gegend, wo Amin aufwuchs, 51 Grad heiss! Zu alledem hat sich die humanitäre Krise durch die erzwungene Rückkehr von rund 650’000 Afghaninnen und Afghanen aus Pakistan weiter zugespitzt. Über drei Millionen Menschen sind Vertriebene im eigenen Land. Allein in den vergangenen drei Jahren flohen 1,6 Millionen aus Afghanistan. Die Zahl der weltweit gemeldeten afghanischen Flüchtlinge liegt bei 6,4 Millionen. Amin meint, tatsächlich sei die Zahl um ein Vielfaches höher, weil es sich bei den meisten um “Illegale” handle, und die kämen in den Statistiken gar nicht vor. Von den 43 Millionen Menschen, die noch in Afghanistan leben, bräuchten über 23 Millionen humanitäre Hilfe, 6 Millionen Menschen leben in totaler Verzweiflung. Doch die den Hilfsorganisationen zur Verfügung stehenden finanziellen Mittel reichen bei weitem nicht aus. Das UNO-Flüchtlingswerk UNHCR hat für das laufende Jahr einen Finanzbedarf von rund 480 Millionen Dollar, doch erst 30 Prozent davon sind gesichert. Der Gesamtbedarf aller Hilfsorganisationen für Afghanistan beläuft sich zurzeit auf 3 Milliarden, auch das ist nur zu 20 Prozent gedeckt. Die fehlenden 2,4 Milliarden wären ein winziger Bruchteil jener rund 640 Milliarden, welche die USA im Verlaufe des 20jährigen Afghanistankriegs für ihre Armee, für Waffen und andere Rüstungsgüter verpulvert hat. Offensichtlich war dafür, ganze Landstriche in Wüsten zu verwandeln, ganze Wohnquartiere dem Boden gleichzumachen, in der gesamten Bevölkerung pausenlos Angst und Schrecken zu verbreiten und friedliche Hochzeitsfeiern in die Luft zu sprengen, so viel Geld nötig, dass jetzt, um wenigstens einen kleinen Teil des angerichteten Schadens wieder gutzumachen, nichts mehr übrig geblieben ist bzw. für andere, neue Kriege gebraucht wird. Zweifellos verfolgten die USA schon im Afghanistankrieg wie auch in allen anderen der über 40 seit 1945 angezettelten Militärschläge, Regierungsputschs und Kriege die gleiche Strategie, die sie aktuell auch jetzt wieder im Ukrainekrieg verfolgen und die von der US-Vizepräsidentin Kamala Harris anlässlich der Bürgenstock-“Friedenskonferenz” so treffend auf den Punkt gebracht wurde, als sie sagte: „Wir müssen die Wahrheit sagen. Amerika steht nicht aus Nächstenliebe an der Seite der Ukraine, sondern weil es in unserem strategischen Interesse ist.“

Und auch die Schweiz. Anfang Juni entschied der Ständerat, das Militärbudget in den nächsten vier Jahren um 4 Milliarden zu erhöhen und die Hälfte davon bei der Entwicklungshilfe zu sparen. Bei der humanitären Hilfe der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit würden 470 Millionen Franken gestrichen, Hier geht es um Gelder zur Linderung der Not der Menschen in Krisengebieten oder nach Naturkatastrophen. Betroffen werden unter anderem Afghanistan, Syrien, der Jemen und der Sudan sein. Zudem steht die Unterstützung der Flüchtlingsorganisation UNHCR zur Disposition. Und dem Beitrag des internationalen Komitees vom Roten Kreuz droht eine Kürzung von 20 Prozent. Bei der Entwicklungszusammenarbeit der Deza würde am meisten gespart: 1,2 Milliarden Franken. Dies hätte den Rückzug aus sechs bis acht Schwerpunktländern zur Folge, unter anderem Albanien, Serbien, Bosnien und Herzegowina, Georgien, Tunesien, Ägypten, Myanmar und Mali. Zudem sind die Beiträge an die fünf grössten Schweizer Nichtregierungsorganisationen in der Höhe von 90 Millionen in Gefahr. Weitere 450 Millionen könnten bei der Unterstützung des Kinderhilfswerks Unicef, des Globalen Fonds zur Bekämpfung von Krankheiten wie Aids, Tuberkulose und Malaria sowie des Afrikanischen Entwicklungsfonds gespart werden. Die Abteilung für Frieden und Menschenrechte des EDA müsste Einsparungen von weiteren 330 Millionen beisteuern, hier käme es zu einem Rückzug aus mehreren Schwerpunktländern sowie Kürzungen in den Bereichen Klima, Migration und Menschenrechten. Es ist wohl nicht übertrieben, zu sagen, dass hier gerade systematisch ein Massenmord geplant wird. Doch Mitte-Ständerat Beat Rieder kann allen Ernstes sagen, es sei “gut, wenn die Schweiz die Demokratie fördern will”, es “bringt aber nichts, Geld in Länder wie Afghanistan zu investieren.” Und FDP-Ständerat Benjamin Mühlemann, der die Sparanträge eingebracht hat, kann sogar in aller Öffentlichkeit die schier unfassbare Aussage machen, dass Entwicklungshilfe zwar “zweifellos wichtig”, die “Wehrhaftigkeit der Schweiz in der gegenwärtigen Situation aber noch viel wichtiger” sei – ohne dass ein Aufschrei der Empörung durch unser Land geht…

Und dies in einer Welt, in der sich im Jahr 2023 jeder 69. Mensch auf der Flucht befand, total fast 120 Millionen, mehr als je zuvor. “Als wäre das nicht schon tragisch genug”, schreibt Chefredaktorin Melanie Steiger in der “Liechtensteiner Woche” vom 23. Juni, “kommt ein weiterer Rekord hinzu: Noch nie waren so viele Kinder und Jugendliche auf der Flucht wie heute – mehr als 50 Millionen.” Die grössten Fluchtbewegungen kommen aus Afghanistan, Syrien, der Ukraine, Venezuela, Honduras, Myanmar, der Demokratischen Republik Kongo und dem Sudan. Entgegen der weitverbreiteten Meinung, die meisten dieser Flüchtlinge würden nach Europa kommen, zeigen Daten des Kinderhilfswerks Unicef, dass der überwiegende Teil der Flüchtlinge innerhalb des Globalen Südens in anderen Ländern Zuflucht suchen, drei Viertel sämtlicher weltweit registrierter Flüchtlinge sogar in sichereren Regionen ihres eigenen Landes. “Kaum vorstellbar”, so Melanie Steiger, “was die Menschen auf der Flucht auf sich nehmen und welchen Gefahren sie sich aussetzen, schliesslich durchqueren sie andere Konfliktgebiete, die Wüste, das Meer. Und dann stecken sie in Flüchtlingslagern fest und müssen dort erneut unter widrigsten Umständen leben.”

In der Nacht, als mir Amin erklärte, weshalb er ein tausendprozentiger Pazifist geworden sei, wäre in mir auch noch der letzte Rest an Rassismus oder westlicher Überheblichkeit zerplatzt, falls es ihn überhaupt noch gegeben hätte. Stärker denn je zuvor wurde mir bewusst, dass das Gerede von den “kulturellen Unterschieden” und dass der “demokratische” Westen den sogenannten “unterentwickelten” Völkern zum Vorbild dienen müsste und dass insbesondere “bildungsferne” Menschen mit den zivilisatorischen Errungenschaften unserer “hochentwickelten” europäischen Gesellschaften vertraut gemacht werden müssten, dass dies alles bloss Lügen sind, mit denen man die Menschen verschiedener Völker, Sprachen und Kulturen auseinanderzuspalten versucht, während der einzig wesentliche Unterschied tatsächlich nicht darin besteht, wo auf diesem Planeten wir geboren wurden, sondern einzig und allein nur darin, ob wir den Krieg wollen oder den Frieden, ob wir andere Menschen hassen oder ob wir sie lieben, ob wir das, was wir besitzen, dazu benützen, immer noch mehr und mehr davon zusammenzuraffen, oder dazu, es möglichst gerecht mit vielen anderen zu teilen, ob wir Türen dazu benützen, sie zu schliessen, oder dazu, sie für andere zu öffnen. Dass Amin und Ela trotz allem, was sie an Schrecklichem erleben mussten, dennoch so liebenswürdige, sanfte, friedfertige Menschen geblieben sind, und ihre beiden Kinder genau so liebevoll und sorgfältig die Bauklötze aufeinanderschichten wie meine in der Schweiz geborenen Enkelkinder, müsste uns allen doch endgültig die Augen dafür öffnen, wie stark das Gute in jedem Menschen über alle Grenzen hinweg sein muss und dass bei Weitem nicht alle, sondern höchstens ein winziger Teil all jener, denen auf irgendwelche Weise Gewalt angetan wurde, selber wieder zu Menschen werden, die anderen Menschen Gewalt antun. Was für eine Hoffnung trotz allem…

Freilich kann die Lösung des weltweiten Migrationsproblems nicht darin bestehen, alle Grenzen zu öffnen und sämtliche aus den armen in die reichen Länder Drängenden hier aufzunehmen. Doch werden auch die dicksten Mauern und die tiefsten Gräben die Millionen Verzweifelter nicht daran hindern, für sich und ihre Kinder eine bessere Zukunft zu erkämpfen, genau so, wie auch unsere europäischen Vorfahren in Zeiten von Armut oder Verfolgung ihr Glück in fernen Ländern suchten, wo sie sich eine glücklichere Zukunft erhofften. Flüchtlinge wird es erst dann nicht mehr geben, wenn alle Güter weltweit auf alle Menschen und alle Länder gerecht verteilt sind. Solange dies aber nicht der Fall ist, können wir Reichen, die über Jahrhunderte von der Ausplünderung und Verelendung des Südens profitiert haben, uns nicht aus der Verantwortung stehlen. Es gilt, alles daran zu setzen, um eine neue, gerechte zukünftige Wirtschaftsordnung zu verwirklichen, gleichzeitig aber auch, unsere Türen so weit als irgend möglich zu öffnen und uns mit so viel Aufwand und Verzicht auf eigene Privilegien wie nur irgend möglich um all jene Menschen zu kümmern, die im weltweiten Kampf ums Überleben ihr Dasein auf der Schattenseite fristen.

Nach allem, was Amin erlebt habe, sagt er, sei er zu tausend Prozent Pazifist geworden, jeder Dollar, der für Waffen ausgegeben werde, sei einer zu viel. Er muss es wissen. Wenn wir herausfinden wollen, wie eine bessere Zukunft aussehen könnte, müssen wir nicht Spitzenpolitiker, Politikwissenschaftler, Militär- oder gar Rüstungsexperten fragen, sondern Menschen wie Amin, Ela, Baran und den kleinen Aziz. Heute Nachmittag hat er mir lange zugeschaut, als ich Schachtelhalme aus dem Kiesboden zupfte. Bis er selber einen aus der Erde zog und in den Kübel mit den Gartenabfällen warf. Wir haben uns verstanden, auch wenn wir nicht die gleiche Sprache sprechen. Baran und Aziz nennen mich übrigens in ihrer Muttersprache, dem Persischen, “Opa”. So habe ich, ohne es beabsichtigt zu haben, sozusagen über Nacht zwei neue Enkelkinder bekommen…

Wenn du wissen möchtest, wie diese Geschichte weitergeht, dann schreibe doch bitte eine Email mit dem Stichwort “Afghanistan” an: info@petersutter.ch. Dann bekommst du die bisherigen und die zukünftig erscheinenden Artikel.

58 Prozent der Schweizer Bevölkerung für eine 13. AHV-Rente: Doch eigentlich hätten wir schon vor über 50 Jahren um einiges weiter gewesen sein können…

“Was für ein wichtiger Schritt hin zu einer sozialen Schweiz!”, schreiben die SP-Copräsidentin Mattea Meyer und der SP-Copräsident Cédric Wermuth, nachdem die Zustimmung zu einer 13. AHV-Rente durch 58 Prozent der Schweizer Bevölkerung feststeht. “Heute ist ein wirklich historischer Tag!”, frohlockt auch Gabriela Medici vom Schweizerischen Gewerkschaftsbund. “13. AHV-Rente sorgt für Sensation”, schwärmt das Onelinemagazin “Republik”. Und in der abendlichen Tagesschau des Fernsehens SRF1 ist von einer “Zäsur” und gar von einer “Zeitenwende” die Rede in Anbetracht der Tatsache, dass zum allerersten Mal eine Initiative, welche “einen Ausbau des schweizerischen Sozialstaats” fordere, angenommen worden sei.

Doch Hand aufs Herz: Was ist denn tatsächlich geschehen? Mit einer 13. AHV-Rente wird doch bloss, und nicht einmal das vollständig, das wieder gutgemacht, was in den vergangenen Jahren an Kaufkraft verloren gegangen ist. Eine pure Selbstverständlichkeit, das absolute Minimum. Wenn eine Mehrheit der Schweizer Bevölkerung dieses Anliegen abgelehnt hätte, wäre das nicht nur die schlechtere von zwei möglichen Varianten gewesen, sondern nichts weniger als eine absolute Bankrotterklärung all dessen, was man als Grundverständnis einer sozialen und demokratischen Gesellschaft bezeichnen müsste. Mitnichten ist der schweizerische Sozialstaat am 3. März 2024 ausgebaut wurden, im besten Falle hat man auf dem sich laufend beschleunigenden Weg zunehmender sozialer Polarisierung und unaufhörlich wachsender Bereicherung der Reichen auf Kosten zunehmender Verarmung der Armen gerade noch das Allerschlimmste für einen kurzen Moment verhindern können. Nicht einmal ein Tropfen auf einen heissen Stein, sondern, wenn schon, eher noch weniger.

Die Euphorie an diesem Abstimmungssonntag, das Gerede von einem “Sieg” der sozialen Gerechtigkeit, von einem “historischen Tag” oder gar von einer “Zeitenwende” zeigt nur, wie unglaublich bescheiden jene politischen Kräfte geworden sind, die immer noch die Vision einer wirklich sozial gerechten, zutiefst demokratischen Schweiz in ihrem Herzen tragen. So dick und fett ist das Brot am oberen Ende der kapitalistischen Klassengesellschaft schon geworden, dass an ihrem unteren Ende schon ein Freudenfest ausbricht, wenn man sich wenigstens noch den einen oder anderen der am Boden liegen gebliebenen Krümel ergattern kann. Seit 1997 wird man in der Schweiz nicht vor allem durch harte, sorgfältige und aufopfernde Arbeit reich, sondern vor allem dadurch, dass man bereits, auf welchen Wegen auch immer, um vieles reicher ist als andere – seit jenem ominösen Jahr 1997 nämlich übersteigt die Summe sämtlicher Einnahmen aus Kapitalgewinnen gesamtschweizerisch die Summe aus Arbeitseinkommen, und dieses Missverhältnis nimmt von Jahr zu Jahr weiter zu. Unaufhörlich fliesst das Geld von den Armen zu den Reichen, von der Arbeit zum Kapital. Während Lebensmittelpreise, Strompreise und Mietzinsen immer weiter in die Höhe klettern, fahren Lebensmittelkonzerne, Elektrizitätsunternehmen und Immobilienkonzerne von Jahr zu Jahr höhere Milliardengewinne ein. Während über eine Million Menschen von Armut betroffen sind und 160’000 trotz voller Erwerbsarbeit nicht einmal genug verdienen, um davon leben zu können, haben sich in den Händen der 300 Reichsten bereits über 800 Milliarden Franken angesammelt, fast so viel, wie die USA jährlich für ihre mit Abstand grösste Militärmacht der Welt ausgeben. In einigen multinationalen Konzernen verdienen die am besten Bezahlten über 300 Mal mehr als die in der gleichen Firma am schlechtesten Bezahlten. Stundenlöhnen von 10’000 Franken der Topverdiener steht der bisher vergebliche Kampf um schweizweit gesicherte Mindestlöhne gegenüber und die Behauptung von Arbeitgeberseite, gesetzlich geregelte Mindestlöhne könne sich die Schweiz aus ökonomischen Gründen nicht leisten. 90 Milliarden Franken, fast das Doppelte der jährlich ausbezahlten AHV-Renten, fliessen Jahr für Jahr in Form von Erbschaften unversteuert von einer zur nächsten Generation, ungebrauchtes, überflüssiges Geld, nur dazu da, die schon Reichen noch reicher zu machen. Nur in zwei Ländern der Welt, nämlich Singapur und Namibia, sind die Vermögensunterschiede zwischen Arm und Reich noch grösser als in der Schweiz.

Auch die Altersvorsorge ist ein totales Abbild der herrschenden kapitalistischen Klassengesellschaft, angefangen von denen, die nur über eine AHV-Rente verfügen und nicht einmal von dieser anständig leben können, über jene, die von einer guten betrieblichen Berufsvorsorge durch lebenslange volle Erwerbstätigkeit profitieren, bis zu jenen, die sich zu alledem zusätzlich sogar noch eine dritte Säule leisten können und erst noch das Privileg geniessen, sich problemlos frühzeitig pensionieren zu lassen, während andere gezwungen sind, sich buchstäblich bis zum bitteren Ende zu Tode schinden zu müssen.

Dabei wären wir sogar vor über 50 Jahren, nämlich 1972, schon um einiges weiter gewesen. Die damals von der Partei der Arbeit geforderte Einführung einer Volkspension mit existenzsichernden Altersrenten anstelle des 3-Säulen-Prinzips wurde zwar – nicht zuletzt infolge des massiven Widerstands seitens der Pensionskassen, die ihre Profite schon davonschwimmen sahen – mit 85 Prozent Neinstimmen verworfen. Selbst die SP konnte sich nicht zu einer klaren Unterstützung der Vorlage durchringen, gerade mal vier Kantonalparteien sprachen sich für die Initiative aus. Aber wenigstens wurde damals noch über die Idee einer einheitlichen staatlichen Altersvorsorge diskutiert, etwas, was wir uns heute wohl nicht einmal mehr im Traum vorzustellen wagen – obwohl es doch nichts anderes wäre als die logische Umsetzung des Artikels 41 der Schweizerischen Bundesverfassung, wonach “Jede Person gegen die wirtschaftlichen Folgen von Alter gesichert” sein soll. Ein Vergleich zwischen 1972 und 2024 zeigt, wie stark sich der gesellschaftspolitische Diskurs innerhalb dieser 52 Jahre verschoben hat: Gab es zu jener Zeit am linken Rand des politischen Spektrums noch eine Partei der Arbeit als Stachel im Fleisch der kapitalistischen Klassengesellschaft, so ist heute an dieser Stelle nur noch ein Vakuum, während sich dafür am anderen Ende des Spektrums immer stärker die SVP als bestimmende politische Kraft herausgebildet hat. Auch die Zeiten, da sich die SP die Überwindung des Kapitalismus ins Parteiprogramm geschrieben hat, sind längst vorbei, heute wäre dies vermutlich nicht mehr möglich. Das ist es, was man tatsächlich als “Zeitenwende” bezeichnen könnte. Nicht irgendeine Abstimmung oder die Wahl irgendeines kantonalen Parlaments oder einer Regierungsbehörde am Tag X, sondern die allmählich schleichende Transformation über längere Zeiträume hinweg in immer so kleinen Schritten, dass jeder einzelne davon gerade noch verdaubar ist, man sich immer mehr daran gewöhnt und noch so Absurdes und Widersprüchliches dabei nach und nach zur Normalität wird. Genau so wie in einer Geschichte des irischen Wirtschafts- und Sozialphilosophen Charles B. Handy, in der ein alter Mann folgendes Experiment durchführte: Er nahm einen Frosch und warf ihn in einen Topf mit kochendem Wasser, der Frosch machte einen entsetzten Sprung, sprang aus der Hütte und verschwand im Gestrüpp. Dann nahm er einen anderen Frosch und legte ihn, weil dieses Mal kein kochendes Wasser bereit stand, in einen Topf mit kaltem Wasser und stellte ihn auf den Ofen, dann machte er Feuer. Zu seinem Erstaunen stellte er fest, dass sich der Frosch im Topf ruhig verhielt. Das Wasser wurde immer wärmer, schliesslich heiss und dann begann es zu kochen. Doch der Frosch blieb selbst im heissesten Wasser ruhig und machte keinerlei Anstalten, der bedrohlichen Situation entkommen zu wollen. Bis er starb. Der alte Mann freute sich über das unerwartete Abendmahl und dachte über den Sinn des Lebens nach, während er mit Genuss seine Froschsuppe schlürfte.

Erfreulich ist immerhin, dass die traditionelle bürgerliche Einschüchterungspolitik und Angstmacherei für einmal im Leeren verpuffte, jenes Instrument nämlich, das bisher stets so einwandfrei funktionierte und selbst vernünftigste und bestens begründete Volksbegehren wie etwa längere Ferien, die Einführung von Erbschafts- und Kapitalgewinnsteuern, die Einführung einer Einheitskrankenkasse oder das Recht auf bezahlbare Wohnungen immer und immer wieder zu Fall zu bringen vermochte – selbst wenn diese Begehren in den Meinungsumfragen zunächst mehrheitlich Unterstützung gefunden hatten – “Abstimmungserfolge” nicht zuletzt auch mithilfe einer jeweils übermächtig in den Abstimmungskampf geworfenen Geldmenge. Interessant ist zudem, dass offenbar mittlerweile auch die Bürgerlichen festgestellt haben, dass die soziale Gerechtigkeit ein Thema ist, welches den Menschen zunehmend auf den Nägeln brennt. So sind sie im Abstimmungskampf um die 13. AHV-Initiative immer wieder mit dem Argument angetreten, eine solche zusätzliche Rente käme auch Menschen zugute, die es gar nicht nötig hätten, und man würde doch lieber denen helfen, die wirklich darauf angewiesen wären. Als hätten sie versucht, die Linke links zu überholen und mit ihren eigenen Argumenten zu schlagen. Doch auch dieses Spiel hat nicht funktioniert, zu fadenscheinig war es und, in Anbetracht der üblichen bürgerlichen Politik zugunsten der Reichen und Mächtigen, geradezu allzu scheinheilig, um nicht von der Mehrheit der Stimmbürgerinnen und Stimmbürger durchschaut worden zu sein.

Doch kaum ist die Abstimmung vorüber, wird von der Gegnerschaft der Vorlage schon die Frage in den Raum gestellt, wer das Ganze nun finanzieren solle. Als ob dies ein ernsthaftes Problem wäre. Selbst SP-Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider verweist auf die Frage nach der Finanzierung der 13. AHV-Rente nur auf eine Erhöhung der Lohnabzüge oder der Mehrwertsteuer, nicht aber zum Beispiel auf die Möglichkeit der Erhöhung bzw. Einführung einer Erbschafts- oder Kapitalgewinnsteuer oder einer intensiveren Bekämpfung der Steuerhinterziehung, welche einen jährlichen Verlust an Steuereinnahmen von immerhin 14 bis 20 Milliarden Franken zur Folge hat, womit man sogar locker noch eine 14., 15. und 16. AHV-Rente bezahlen könnte. Bürgerliche Politiker rufen zudem bereits nach Sparmassnahmen der öffentlichen Hand, um die zusätzlichen Ausgaben für die AHV zu finanzieren. Die Gefahr ist gross, dass die heisse Kartoffel, bevor sie überhaupt gegessen wurde, erneut wieder an die noch Schwächeren und bereits genug Ausgepressten weitergereicht wird statt an jene, die in immer grösseren Geldmengen schwimmen, ohne hierfür auch nur die geringste Eigenleistung erbringen zu müssen.

Natürlich habe auch ich mich über das Abstimmungsergebnis des 3. März 2024 gefreut, aber das grosse Jubelfest scheint mir doch allzu früh angestimmt worden zu sein. Noch ist es ein weiter Weg bis zu einer tatsächlichen “Zeitenwende”. Wenn es tausend Schritte bis zur Verwirklichung tatsächlicher sozialer Gerechtigkeit braucht, dann war dies vielleicht der erste, dem aber die weiteren 999 erst noch folgen müssen. Sich gegenseitig zuzuprosten und sich dann behaglich zurückzulehnen, wäre wohl die falsche Schlussfolgerung. Der Kampf ist nicht zu Ende. Er hat gerade erst begonnen.

Von A wie Assange bis Z wie Zensur: Sie kommen nicht mehr mit Uniformen, im Stechschritt und mit Hitlergruss…

Folgende Beobachtungen beziehen sich auf die Printausgabe des schweizerischen “Tagesanzeigers”, mit täglich etwa 320’000 Leserinnen und Lesern immerhin eine der grössten und einflussreichsten Tageszeitungen des Landes. Ich gehe davon aus, dass es bei den meisten anderen westlichen Mainstreammedien nicht viel anders aussieht.

17. Februar 2024: Grosses Bild von Alexei Nawalny auf der Frontseite, “Putin-Widersacher Nawalny ist tot.” Kommentar auf der ersten Seite: “Der Tod Nawalnys hat weltweit Erschütterung ausgelöst.” Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz hätte die Nachricht als sehr bedrückend empfunden und für den US-Präsidenten Joe Biden sei sogleich klar gewesen, dass einzig und allein der russische Präsident Wladimir Putin für diesen Tod verantwortlich sei. Über den Tod Nawalnys wird auf zwei weiteren vollen Seiten ausführlich berichtet, unter anderem mit folgenden Worten: “Nawalny konnte bis zuletzt Menschenmassen bewegen wie kein anderer Kremlkritiker. Einst war er von ganz unten gekommen, trat in den 2000er-Jahren als völlig neuer Politikertyp auf den Plan, ein moderner Blogger, der das Internet zu seiner mächtigsten Waffe machte, ein frecher junger Mann, der in Russland schnell beliebt wurde und es immer wieder schaffte, die russische Führung blosszustellen und ihr das Leben schwer zu machen.” Auf Seite drei ein Kommentar der Redaktion: “Putin ist schuld an Nawalnys Tod. Putin hat ihn getötet.” Schlagzeilen zu einem Zeitpunkt, an dem die forensischen Untersuchungen der Todesursache noch nicht einmal begonnen haben.

18. Februar: Ich schicke einen Leserbrief folgenden Inhalts an den “Tagesanzeiger”.

„Putin ist der Mörder” – Diese Schlagzeile ging im Zusammenhang mit dem Tod von Alexei Nawalny blitzschnell durch alle westlichen Medien. Und dies, bevor die forensische Untersuchung der Todesursache überhaupt erst begonnen hatte. Nichts zu lesen war aber darüber, dass Nawalny ein extremer Nationalist und Rassist war. So bezeichnete er Bürgerrechtler als „quasiliberale Wichser“ und Homosexuelle als „Schwuchteln, die weggesperrt gehören“. Die Tschetschenen verglich er mit „Kakerlaken“ und forderte die Bombardierung von Tiflis mit Marschflugkörpern. „Volksgruppen aus dem Kaukasus und Arbeitsmigranten aus südlichen Nachbarländern”, sagte er, “alles, was uns stört, muss man unbeirrt per Deportation entfernen.“ Wegen solcher und ähnlicher Aussagen wurde er denn auch im Jahre 2007 aus der demokratisch-liberalen Jabloko-Partei ausgeschlossen. Zudem wurde ihm 2021 von Amnesty International der Status eines „gewaltlosen politischen Gefangenen“ aberkannt, mit der Begründung, er sei ein „rassistischer und gewalttätiger Schläger“. Zwar widerrief Amnesty International diese Aberkennung später wieder, aber nur unter massivem Druck westlicher Regierungen. Nawalny mag dem Westen bestens als Opfer des russischen Machtsystems und seines Präsidenten Putin dienen. Alles andere aber war er als ein lupenreiner Kämpfer für Freiheit und Demokratie, als den ihn die westlichen Medien darzustellen versuchen. Diese würden sich besser bei der eigenen Nase nehmen und „demokratisch“, nämlich ausgewogen, auch über die Schattenseiten des vermeintlichen Freiheitskämpfers berichten.

19. Februar: Münchner Sicherheitskonferenz mit rund 50 Staatschefinnen und Staatschefs und etwa 100 Ministerinnen und Ministern, dazu Expertinnen und Experten aus aller Welt. “Die Solidarität mit der Ukraine”, schreibt der “Tagesanzeiger”, “verstärkte sich durch die Nachricht vom Tod Nawalnys. Teilnehmende auf den Podien und in kleineren Gesprächsgruppen reagierten bestürzt. Kaum Zweifel gab es daran, dass sich Kremlchef Putin seines Kritikers entledigt und der Welt einmal mehr seine Skrupellosigkeit zur Schau gestellt hatte.” Weiter ist zu lesen, dass die Gefahr einer Ausweitung des Ukrainekriegs durchaus bestehe und es höchste Zeit sei, die bestehende Gefahr zu realisieren. Besser kann es nicht zusammenpassen: Der Heldentod Nawalnys, Putin als Mörder und einen Tag später die Münchner Sicherheitskonferenz mit der Forderung nach weiterer massiver militärischer Aufrüstung des Westens, und dies, obwohl die NATO inklusive USA bereits heute für ihre Armeen 14 Mal mehr ausgibt als Russland und selbst ohne die USA noch das Vierfache.

20. Februar: Für einmal befasst sich der “Tagesanzeiger” heute mit dem Wikileaks-Gründer Julian Assange, über dessen weiteres Schicksal – mögliche Auslieferung an die USA – ein Londoner Gericht in den nächsten Tagen entscheiden wird. Sollte er an die USA ausgeliefert werden, droht ihm eine Gefängnisstrafe von bis zu 175 Jahren. Doch eine Überstellung in ein US-Hochsicherheitsgefängnis würde ihr Mann nicht überleben, befürchtet Assanges Frau Stella. Schon die fünf Jahre Haft in London hätten Julian schwer zugesetzt, mit seiner Gesundheit sei es rapid abwärts gegangen, physisch wie psychisch. Deshalb hatte auch schon vor drei Jahren eine Londoner Richterin die Auslieferung Assanges an die USA unter Hinweis auf die depressive Verfassung des Häftlings verweigert. Es sei zu befürchten, dass er sich in den USA das Leben nehmen würde. Assange, der in den USA als “Terrorist” gilt, hatte 90’000 Berichte geheimer und höchst sensitiver Natur über den US-Krieg in Afghanistan und 400’000 über den Krieg im Irak, 800’000 Berichte über Guantánomo-Gefangene sowie zahlreiche Videos und vertrauliche Depeschen von US-Diplomaten aus aller Welt an die Öffentlichkeit gebracht, die Washington verzweifelt geheim zu halten versucht hatte.

Die Art und Weise, wie der “Tagesanzeiger” die beiden Fälle Assange und Nawalny kommentiert, könnte die Willkür und die Einseitigkeit westlicher Berichterstattung gar nicht drastischer aufzeigen, und dies in einem “demokratischen” und “neutralen”, sich zu Meinungs-, Presse- und Gedankenfreiheit bekennenden Land wie der Schweiz. Wurde Putin augenblicklich nach Nawalnys Tod als Mörder bezeichnet, sucht man eine vergleichbare Bezeichnung für die Hauptverantwortlichen der Inhaftierung Assanges vergeblich und wird eine solche Benennung höchstwahrscheinlich auch dann niemals verwendet werden, sollte sich Assange nach der Auslieferung an die USA tatsächlich das Leben nehmen. Und wird Nawalnys Tod als Folge eines skrupellosen, von Putin angeführten Staats- und Machtsystems dargestellt, das vor keiner noch so bestialischen Unmenschlichkeit zurückschreckt, werden auf der anderen Seite die von den USA begangenen und von Assange aufgedeckten Kriegsverbrechen, der völkerrechtswidrige Angriff auf Afghanistan und den Irak mit Hunderttausenden unschuldigen Opfern und die an Grausamkeit kaum zu überbietenden Folterpraktiken in den US-Militärgefängnissen auch nicht im Entferntesten so klar und unmissverständlich angeprangert wie der russische Überfall auf die Ukraine im Februar 2022.

20. Februar: Gleichentags mit dem Artikel über Julian Assange ist dann natürlich im “Tagesanzeiger” ebenfalls ein weiterer ganzseitiger Bericht über Nawalny mit dem Titel “Er wird Russland schmerzlich fehlen” zu finden, verfasst von Viktor Jerofejew, der gemäss biografischer Notiz als der “grösste lebende russische Schriftsteller” gelten soll. Darin wird Nawalny als “mächtige historische Figur” beschrieben, “zu deren Ehren man mit der Zeit Strassen, Prospekte, Universitäten, vielleicht sogar Städte benennen wird. So eine sprühende, energische Persönlichkeit, die dem ganzen System staatlicher Macht praktisch allein Paroli bietet. Ein schöner junger Mann, Ehemann einer der gemeinsamen Sache treu ergebenen schönen Frau, Vater zweier schöner Kinder, voll von originellen Einfällen und Sinn für Humor.”

21. Februar: Da mein Leserbrief im “Tagesanzeiger” bis heute nicht veröffentlicht wurde und auch kein einziger anderer, der sich mit Nawalny und der von seinem Tod ausgelösten westlichen Kriegseuphorie kritisch auseinandergesetzt hätte – dafür jede Menge Leserbriefe über die Initiative für eine 13. AHV-Initiative, Toilettenanlagen im Zürcher Stadtzentrum, Pistenverlängerung auf dem Flughafen Kloten, öffentliche Zugänglichkeit von Flussufern oder Rückgang der Anzahl Studierender im Fach Geschichte an den Universitäten -, schreibe ich folgende Email an die Redaktion der Leserbriefseite des “Tagesanzeigers”.

Die bisherige Berichterstattung zum Thema Nawalny befasst sich ausschliesslich mit der Rolle Nawalnys als Widersacher von Putin. Mit keiner Silbe ist bisher über die „dunkle“ Vergangenheit Nawalnys berichtet worden. Im Sinne einer ausgewogenen Informationspolitik würde ich es sehr begrüssen, wenn Sie meinen Leserbrief oder einen anderen, der diese Thematik aufwirft, so bald wie möglich veröffentlichen würden. Die Meinungsbildung ist nämlich in vollem Gang.

23. Februar: Die “Weltwoche” berichtet, dass aufgrund einer Umfrage des Kiewer Internationalen Instituts für Soziologie 72 Prozent der ukrainischen Bevölkerung den Krieg gegenüber Russland durch Verhandlungen zu einem Ende bringen möchten. Eine Meldung, die ich im “Tagesanzeiger” vergeblich suche. Vermutlich passt sie zu wenig in die scheinbar geschlossene und übereinstimmende Meinung der westlichen Regierungen, die Ukraine müsse diesen Krieg um jeden Preis “gewinnen”. Stattdessen erfahren wir im heutigen “Tagesanzeiger”, dass Nawalny bei einem Besuch in der Schweiz im Spätherbst 2020 zur Verblüffung des 81jährigen Franz Stadelmann bewiesen hätte, dass er sogar jodeln könne. Weiter erfahren wir, dass dieser Franz Stadelmann sogar mit Nawalny Wildschweine jagen gegangen sei, doch die Polizisten, welche die beiden begleiteten, hätten beim Durchkämmen des Waldes sämtliche Wildschweine verscheucht.

26. Februar: Die “Berliner Zeitung” vermeldet erste Ergebnisse der forensischen Untersuchungen zur Todesursache Nawalnys und zitiert Kyrylo Budanow, Chef des ukrainischen Militärgeheimdienstes, mit folgenden Worten: „Es tut mir leid, aber alles, was wir wissen, ist, dass Alexej Nawalny infolge eines Blutgerinnsels eines natürlichen Todes gestorben ist.“ Auch diese Meldung findet nicht den Weg bis zum “Tagesanzeiger”, würde sie doch höchstwahrscheinlich die bisher aufgebaute Geschichte allzu sehr ins Wanken bringen.

28. Februar: Die “New York Times” berichtet, dass der US-Geheimdienst CIA seit 2014 in der Ukraine zwölf geheime Spionagebasen entlang der russischen Grenze aufgebaut hätte, die als “Nervenzentrum” der ukrainischen Militärs agieren. Diese Basisstationen seien in der Lage, russische Spionagesatelliten aufzuspüren und die Kommunikation zwischen russischen Kommandeuren zu belauschen. Zudem sei enthüllt worden, dass die CIA über acht Jahre hinweg in unterirdischen Bunkern, tief verborgen in ukrainischen Wäldern, ukrainische Geheimdienstoffiziere ausgebildet und ausgerüstet hat. Dass auch diese Nachricht nicht im “Tagesanzeiger” erscheint, verwundert nun nach allem anderen freilich überhaupt nicht mehr. Dafür lesen wir in der heutigen Ausgabe des “Tagesanzeigers”, dass der französische Präsident Emmanuel Macron anlässlich eines “Ukrainegipfels” in Paris sagte, es gäbe zurzeit innerhalb der NATO-Staaten noch keinen Konsens über die Entsendung von westlichen Bodentruppen in die Ukraine, aber in Zukunft könne man “nichts ausschliessen”.

2. März: Der “Tagesanzeiger” veröffentlicht ein ganzseitiges Interview mit John Bolton, dem früheren Sicherheitsberater Donald Trumps, in dem dieser der Schweiz nahelegt, ihre Neutralität zu überdenken, nachdem nun auch Schweden und Finnland der NATO beigetreten seien. Die Schweiz habe lange Erfolg gehabt, doch die Zeiten hätten sich geändert. Alle europäischen Länder müssten sich der Bedrohung durch Russland bewusst werden und mehr in die Sicherheit investieren. Er gratuliere allen, die bereits zwei Prozent des Bruttoinlandprodukts für ihr Verteidigungsbudget ausgäben, aber es dürfte auch gerne “doppelt so viel sein.”

2. März: Bis heute ist mein Leserbrief, den ich vor zwei Wochen an den “Tagesanzeiger” schickte, nicht erschienen. Und auch kein einziger anderer, der sich mit diesem Thema kritisch auseinandergesetzt hätte. Nichts über die dunklen Seiten Nawalnys. Nichts über die Blindheit gegenüber der westlichen Macht-, Droh- und Aufrüstungspolitik. Nichts darüber, dass Putin in seinem zweistündigen Interview mit Tucker Carlson eine Friedensvision für die Ukraine und Russland in Aussicht gestellt hatte. Nichts darüber, dass man, wenn man den politischen Gegner immer mehr in die Ecke zu drängen versucht, ihn mit der Zeit so sehr provozieren könnte, dass ein gefährlicher Gegenschlag immer wahrscheinlicher wird. Nichts darüber, dass man Kriege förmlich herbeireden kann, wenn man von gar nichts anderem mehr spricht. Nichts darüber, dass künstlich aufgebauschte und geschürte Feindbilder meist nichts anderes sind als Projektionen der eigenen Machtgier auf den vermeintlichen politischen Gegner. Nichts darüber, dass Frieden nie durch Gewalt oder Krieg, sondern nur durch gegenseitiges Vertrauen geschaffen werden kann. Nichts darüber, dass das, was die Menschen weltweit miteinander verbindet, so viel grösser ist als alles, was sie voneinander trennt. Nichts darüber, dass Kriege grundsätzlich nicht gewinnbar sind und am Ende auf beiden Seiten immer nur Verlierer zurückbleiben. Nichts über die Verflechtungen zwischen Regierungen und der Rüstungsindustrie und nichts darüber, dass US-Aussenminister Blinken unlängst sagte, der Ukrainekrieg sei gut für die USA, weil er so viele Arbeitsplätze schaffe. Nichts darüber, was man mit den 2,2 Billionen Dollar, die jährlich weltweit völlig sinnlos für militärische Aufrüstung verschleudert werden, soviel Sinnvolleres und Nützlicheres anstellen könnte. Nichts darüber, dass nicht der Pazifismus aus der Zeit gefallen ist, sondern einzig und allein der ewiggestrige Irrglaube, Konflikte zwischen Ländern oder Völkern liessen sich auch nur im Entferntesten mit militärischer Gewalt sinnvoll lösen. Ja, und auch auf meine Email an die Redaktion der Leserbriefseite des “Tagesanzeigers” habe ich bis heute keine Antwort bekommen.

“Die moderne Diktatur”, sagte Gore Vidal, ein US-amerikanischer Schriftsteller, “kommt nicht mit braunen und schwarzen Uniformen daher. Wir machen das mit Unterhaltung, mit Fernsehen, mit Spass und Unterhaltung.” Und auch der italienische Wissenschaftler und Schriftsteller Umberto Eco erkannte, dass der “Faschismus von heute” äusserlich “nichts zu tun hat mit dem aus der Vergangenheit. Keine Uniformen, kein Stechschritt und kein erhobener Gruss. Nein, er ist modern, raffiniert verpackt und wird mit viel Propaganda verkauft. Aber der Geist, der dahinter steckt, die totale Kontrolle und Ausbeutung, die Zensur, die Mediengleichschaltung und die Unterdrückung der freien Meinungsäusserung sind immer noch dieselben.” Mit anderen Worten: Die moderne Diktatur kommt in der Art und Weise daher, dass wir meinen, es sei eine Demokratie…

Von der “Kriegspolitik” zur “Friedenspolitik”: Glücklicherweise gibt es noch Menschen, die von einer anderen Welt träumen

In der Diskussionssendung “Arena” des Schweizer Fernsehens SRF1 vom 12. Januar 2024 wurde schwerpunktmässig über die zukünftige schweizerische “Sicherheitspolitik” diskutiert. Eingeladen war, nebst den Parteispitzen der Bundesratsparteien, auch Bundesrätin Viola Amherd, die Vorsteherin des VBS, des Bundesamts für “Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport”, die Chefin jenes Ministeriums also, das in den meisten Ländern als “Verteidigungsministerium” bezeichnet wird. Dementsprechend ging es dann in der Diskussion fast ausschliesslich um Fragen militärpolitischer Natur: Ob der für die Schweizer Armee vorgesehene Prozentsatz der jährlichen Bundesausgaben für die Aufrechterhaltung der “Sicherheit” in einer “schwieriger gewordenen Zeit” immer noch genüge, ob es für die Gewährleistung der “Sicherheit” vor allem eine möglichst grosse Anzahl von Panzern oder Kampfflugzeugen brauche oder doch eher mehr Investitionen in die “Cybersicherheit”, ob die Schweiz stärker als bisher mit der Nato zusammenarbeiten oder doch eher auf ihrem “neutralen” Status beharren müsste, und so weiter…

Ich sehe die dem Erdboden gleichgemachten Wohnquartiere im Gazastreifen und die Menschen, die zwischen den Trümmern verzweifelt nach Verschütteten suchen. Ich höre die Schreie der Kinder, die, mangels Medikamenten, in palästinensischen Spitälern ohne Narkose operiert werden müssen. Und auch die verzweifelten und angstvollen Gesichter ukrainischer und russischer Soldaten in den Schützengräben der Ostukraine bei Temperaturen von bis zu minus 15 Grad gehen mir nicht aus dem Kopf. Von alledem war während der eineinhalb Stunden Arena-Diskussion in behaglicher Atmosphäre nicht annähernd etwas zu spüren.

Müsste man nicht endlich damit aufhören, über die “optimale” Vorbereitung auf einen möglichen zukünftigen Krieg zu diskutieren, und sich stattdessen voll und ganz auf die Frage konzentrieren, wie Kriege als so ziemlich das Absurdeste, was Menschen sich gegenseitig antun können, für immer aus der Welt zu schaffen wären? Um “Sicherheit” nicht mehr bloss als etwas zu verstehen, was sich ein einzelnes Land gegenüber anderen Ländern sichern bzw. sich leisten kann, sondern als etwas, was für alle gleichermassen und jederzeit Gültigkeit haben muss. Als etwas, was erst dann endgültig Wirklichkeit wäre, wenn es keinen einzigen Krieg mehr gäbe und niemand mehr vor irgendwem Angst haben müsste. Als etwas, was allen nur Vorteile brächte und niemandem einen Nachteil.

Was für eine wunderbare Chance böte sich damit doch gerade der Schweiz, diesem Mikrokosmos gelebter direkter Demokratie, eines ausgeklügelten föderalistischen Staatssystems, strikter Neutralität, friedlichen Zusammenlebens unterschiedlicher Kulturen, Religionen und Sprachen, so langer humanitärer Tradition und so vielfältiger Erfahrungen im Bereich von Mediation, Diplomatie, Völkerverständigung und Konfliktlösung durch Kompromisse. Es kann doch nicht sein, dass alle diese Errungenschaften ausgerechnet in einer Zeit, da sie dringender gefragt wären denn je, nach und nach unter den Tisch gewischt werden und sich die Schweiz immer stärker einem globalen Mainstream anzupassen beginnt, mit dem an allen Ecken und Enden auch noch die verrücktesten Feindbilder aufgebaut und noch die verrücktesten Argumente hergeholt werden, um militärische Aufrüstung und das Führen “guter” Kriege zu rechtfertigen. Um nicht missverstanden zu werden: Es gibt genug Negatives, was man der Schweiz vorwerfen könnte, ihre oft fragwürdige Rolle als globaler Finanzplatz zum Beispiel, ihren Anteil an kolonialer Ausbeutung bis in die Gegenwart, ihre oft menschenfeindliche Haltung gegenüber Ausländerinnen und Ausländern, die einerseits ökonomisch ausgebeutet, gleichzeitig aber in vielerlei Hinsicht diskriminiert werden, und noch vieles mehr. Aber das sollte uns nicht die Augen vor dem riesigen Potenzial verschliessen, mit dem die Schweiz eine noch viel aktivere und mutigere Rolle bei der internationalen Konfliktlösung und Friedensförderung spielen könnte, als sie dies bis anhin getan hat.

Kriege kann man nicht abschaffen, indem man sie, einfach gesagt, verbietet. Es geht vielmehr darum, weltweit so gute Voraussetzungen für die Lebensbedingungen der Menschen wie auch für das Zusammenleben von Völkern und Staaten zu schaffen, dass Kriege eines Tages sozusagen überflüssig werden und immer die schlechteste aller möglichen Alternativen wären. Und da ist an allen Ecken und Enden Handlungsbedarf. Es geht zum Beispiel um eine gerechte Verteilung der Ressourcen, um soziale Gerechtigkeit, um die Bekämpfung von Armut und Hunger, um den Kampf gegen Umweltzerstörung, Ressourcenverschleiss und Klimawandel, um die Förderung von Selbstbestimmung und Basisdemokratie und die Überwindung von ausbeuterischen, patriarchalen, rassistischen Machtstrukturen und imperialen Grossmachtphantasien, aber etwa auch um Völkerverständigung durch möglichst viele zwischenmenschliche Begegnungen und gemeinsame länderübergreifende Kulturprojekte sowie eine dringend notwendige Stärkung der UNO, die bei der Lösung von Konflikten zwischen Staaten oder Völkern eine viel aktivere und bestimmendere Rolle übernehmen müsste. Auch könnte sich die Schweiz für eine Wiederbelebung und für ein Wiedererstarken der OSZE (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) einsetzen, eine Organisation, in der sich vor noch nicht allzu langer Zeit Schweizer Diplomaten und Diplomatinnen wie Thomas Greminger, Heidi Grau, Tim Guldimann, Peter Burkhard, Gerard Stoudmann und Heidi Tagliavini überaus erfolgreich engagiert haben. Auf allen diesen Gebieten könnte die Schweiz wertvolle Arbeit leisten. Denn so wie Kriege nicht eines Tages vom Himmel fallen, sondern oft über lange Zeit hinweg vorbereitet und vorangetrieben werden, so entsteht eben auch der Frieden nicht von selber, sondern setzt voraus, dass sich möglichst viele Menschen an möglichst vielen verschiedenen Orten auf vielfältigste Weise beharrlich dafür einsetzen. Ziehen politische Kräfte einseitig in Richtung von Krieg und dem Aufbau von Feindbildern, so müssen umso mehr andere politische Kräfte in die entgegengesetzte Richtung ziehen.

Dies ist dringend nötig. Denn zu vieles läuft heute in die falsche Richtung. Jüngstes Beispiel sind die polnische, die finnische, die schwedische und die Regierungen der baltischen Staaten, die ihren Bürgerinnen und Bürgern einzureden versuchen, Putin könnte ihre Länder schon bald im Visier haben, um seine Macht weiter nach Westen auszudehnen. Und dies, obwohl es hierfür keinen einzigen konkreten Anhaltspunkt gibt. Im Gegenteil. Wer sich nur ein wenig um Hintergrundinformationen bemüht, weiss, dass Putin im Dezember 2021 der US-Regierung einen Vorschlag unterbreitete, den Ukrainekonflikt friedlich beizulegen, ein Vorschlag, der allerdings von den USA zurückgewiesen wurde, aber deutlich zeigt, dass der militärische Angriff auf die Ukraine nicht Putins erste Option gewesen war. Man kann Feindbilder und Kriege eben auch herbeireden – die Geister, die man ruft -, was zugegebenermassen freilich nie nur für die eine oder andere Seite zutrifft, aber eine Gewaltspirale in Gang zu setzen droht, durch welche dann aus gegenseitigem Drohen und gegenseitiger Angst im schlimmsten Fall ein Krieg entstehen kann, den im Grunde eigentlich gar niemand wollte. Aber ebenso wie den Krieg kann man auch – durch den Abbau von Feindbildern – den Frieden “herbeireden”, und genau dies ist deshalb umso wichtiger.

Im Verlaufe der Arena-Diskussion erinnerte SVP-Präsident Marco Chiesa daran, dass die SP in ihrem Parteiprogramm immer noch die Abschaffung der Armee fordere – ein Anliegen, dem in der Volksabstimmung vom 26. November 1989 immerhin über 35 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer zustimmten. Chiesa bezeichnete die SP-Copräsidentin Mattea Meyer, bezugnehmend auf den Pazifismus der SP, als “Träumerin”. Was für ein Kompliment! In einer Welt voller Hass, Gewalt und Krieg gibt es nichts Wichtigeres als Menschen, die von einer Welt ohne Hass, Gewalt und Krieg träumen. Denn nur wenn man sich etwas anderes vorstellen kann, besteht die Chance, dass dieses andere auch tatsächlich eines Tages Wirklichkeit werden kann.

Von amerikanischen Salatfeldern bis zur “Stadt der Lerntoten”: Der schon fast vergessene Krieg gegen die Kinder

Sommer 2022 irgendwo in den USA auf einem dieser endlosen Salatfelder, wo immer häufiger auch schon Jugendliche tägliche Schwerstarbeit verrichten. Die 16jährige Mia hat soeben einen Salatkopf gepflückt, als ein Traktor von der Strasse abbiegt und geradewegs ungebremst auf sie zurast, ohne dass sie ihm rechtzeitig auszuweichen vermag. Offensichtlich hat der Fahrer, selber gejagt vom horrenden Arbeitstempo auf dem Feld, Mia übersehen und überrollt sie mit seinem Traktor vom Fuss bis zum Bauch, fährt sodann aus lauter Panik sofort zurück, schaltet falsch und überfährt sie ein zweites Mal. Mit schweren inneren Verletzungen und gebrochenen Beinen bleibt Mia auf der Erde liegen. Doch selbst nach diesem schweren Unfall geht die Arbeit auf dem Feld unvermindert weiter, nicht die kleinste Unterbrechung des Innehaltens, der Betroffenheit und der Anteilnahme können sich die Arbeiterinnen und Arbeiter, die allesamt unter dem gleichen gewaltigen Zeitdruck stehen, leisten – hier, wo sich alle gegenseitig fremd sind und bloss eine Nummer auf der Beschäftigtenliste irgendeines anonymen Arbeitgebers, gibt es sowieso schon längst nicht mehr so etwas wie persönliche oder gar freundschaftliche Beziehungen untereinander, geschweige denn so etwas wie Solidarität oder gar Widerstand gegen dermassen ausbeuterische Arbeitsbedingungen. Die Ärzte im 20 Kilometer entfernten Spital können zwar Mias Leben retten, doch auch ein Jahr später hat sie immer noch heftige Schmerzen in den Beinen, mehrere Monate lang konnte sie fast nicht laufen. Die Firma, für die sie gearbeitet hat, weigert sich bis heute, Mia eine Entschädigung auszurichten.

Weil das Angebot an neuen Jobsuchenden stetig abnimmt, setzen in den USA seit Jahren immer mehr Firmen auf Kinderarbeit. Die Gewerkschaften stehen wieder dort, wo sie bereits vor 140 Jahren standen und müssen noch einmal gegen etwas ankämpfen, was man längst als überwunden glaubte. Sechs der 50 Bundesstaaten haben in den letzten zwei Jahren ihre Regeln für Kinderarbeit gelockert, andere könnten bald folgen. In Iowa dürfen 14- und 15Jährige nach der Schule bis 21 Uhr arbeiten, tägliche Arbeitszeiten von bis zu sechs Stunden zusätzlich zum Schulunterricht sind zulässig, während der Ferien darf sogar bis 23 Uhr gearbeitet werden, 16- und 17Jährige dürfen gleich lange arbeiten wie Erwachsene. In Colorado dürfen Kinder schon ab 12 Jahren in der Landwirtschaft arbeiten. Und auch von gefährlichsten Arbeiten, zum Beispiel auf hohen Baugerüsten oder Dächern, bleiben sie nicht verschont, entsprechend häufig kommt es zu Verletzungen oder sogar zu Todesfällen: Hautverbrennungen in einer Chemiefabrik, Kinder, die mit ihren Händen in Maschinen geraten oder sich bei der Salaternte mit einem Messer schneiden, zwei 16Jährige, die beim Arbeiten in einem Sägewerk und einer Geflügelfabrik ums Leben kamen – dies nur einige wenige Beispiele. Allein in der Landwirtschaft erleiden täglich durchschnittlich 33 Kinder Verletzungen. “Ich erinnere mich an einen Tag im Winter”, so berichtet eine heute 21Jährige, “es schneite sehr heftig, wir haben extrem gefroren, aber wir mussten ohne Pause bis sieben Uhr abends weiterarbeiten.” Ein anderer, heute 24 Jahre alt, erinnert sich, wie er als 14Jähriger die ganzen Sommerferien in der Karottenernte arbeitete, jeden Tag 8 bis 9 Stunden: “Oft gab es selbst an besonders heissen Tagen nicht genug zu trinken und zwischen dem Mittagessen und dem Arbeitsschluss am Abend gab es keine Pause.” Und mit dem Klimawandel wird die Arbeit zunehmend noch anstrengender. Mehr als alle anderen sind in den USA arme Familien sowie Migrantinnen und Migranten von Kinder- und Jugendarbeit betroffen. Während die Kinder bessergestellter Familien nach Schulschluss nachhause gehen, um ihre Freizeit zu geniessen, müssen die ärmeren Kinder zur Arbeit aufs Feld, in die Fabrik oder in eine Imbissbude. “Um 16 Uhr war die Schule fertig”, erzählt ein heute 26Jähriger, “dann gings aufs Feld, ich war immer todmüde und meine Hände und Füsse taten weh.” Immer zahlreicher kommt es auch zu Verstössen gegen geltende Arbeitsgesetze, so zum Beispiel in Form besonders gefährlicher Jobs – so ist die Zahl der entdeckten Verstösse seit 2015 um 280 Prozent gestiegen. Fälle wie jene von zwei Zehnjährigen, die noch um Mitternacht in einem Fastfoodladen arbeiten mussten, sind keine Seltenheit. Und das ist nur die Spitze des Eisbergs, denn längst nicht alle Verstösse werden aufgedeckt, gibt es doch auf 200’000 Arbeitskräfte nur gerade mal einen einzigen Kontrolleur. Die betroffenen Kinder und Jugendlichen sind nicht nur gezwungen, ihre Kindheit und ihre Jugendzeit zu opfern, sie müssen auch ihre eigene Zukunft opfern, denn, wie ein Grundschullehrer berichtet: “Immer wieder schlafen meine Schülerinnen und Schüler im Unterricht fast ein. Das hat Auswirkungen auf die Noten, viele fallen so weit zurück, dass sie gar keinen Schulabschluss schaffen.”

Doch Kinder und Jugendliche leiden unter Verletzungen oder sterben nicht nur auf Salatfeldern, in Schlachthöfen und auf gefährlichen Baustellen der USA, sondern auch in zahllosen anderen Ländern weltweit überall dort, wo der ökonomische Druck so gross ist, dass Familien gar nicht existieren könnten, wenn nicht auch ihre Kinder von klein auf einen Teil zum Familieneinkommen beitragen würden. 160 Millionen Kinder und Jugendliche zwischen fünf und 17 Jahren sind weltweit von Kinderarbeit betroffen, jedes Jahr sterben 22’000 Kinder und Jugendliche infolge von Arbeitsunfällen. Besonders schlimm ist die Situation in der Landwirtschaft, wo Kinder oft ganz besonders gefährlichen Situationen ausgesetzt sind: Sie müssen viel zu schwere Lasten tragen, kommen mit gesundheitsschädlichen Chemikalien, tödlichen Insekten und scharfen Werkzeugen in Kontakt und müssen oft über viele Stunden unter extremen Wetterbedingungen arbeiten. Nicht besser ergeht es jenen rund 150 Millionen Mädchen und rund 73 Millionen Jungen unter 18 Jahren – wobei von einer signifikant höheren Dunkelziffer auszugehen ist -, welche weltweit von Kinderprostitution betroffen sind und brutalsten Menschenhändlern über alle Grenzen hinweg hilflos ausgeliefert sind.

Und das ist längst noch nicht alles. Weltweit sterben jeden Tag rund 10’000 Kinder vor dem Erreichen ihres fünften Lebensjahrs, weil sie nicht genug zu essen haben. Daran haben wir uns offensichtlich schon so sehr gewöhnt, dass nie in irgendeiner Zeitung, am Radio und am Fernsehen, wo selbst über drei oder vier Opfer irgendeines verrückten Amokläufers in Japan oder Schweden des Langen und Breiten berichtet wird, auch nur das Geringste zu hören ist. Und dies, obwohl die Ursache für dieses tägliche zehntausendfache Sterben ja nicht darin liegt, dass insgesamt auf der ganzen Welt zu wenige Nahrungsmittel vorhanden wären, sondern einzig und allein nur darin, dass die Profitinteressen multinationaler Konzerne und die unter den Grossen und Mächtigen abgeschlossenen internationalen Handelsabkommen ein so viel höheres Gewicht haben als das Recht aller Kinder über alle Grenzen hinweg auf ein menschenwürdiges Leben.

Über 5000 Kinder sind bereits den israelischen Bombardierungen im Gazastreifen, dem laut Unicef derzeit “gefährlichsten Ort der Welt”, zum Opfer gefallen, dazu kommen Zehntausende Verletzte: Kinder mit entsetzlichen Verbrennungen, Verwundungen durch Mörserangriffe, verlorenen Gliedmassen, ohne Zugang zu Krankenhäusern, Nahrungsmitteln, Wasser, Strom und Medikamenten. Im Sudan sind infolge des seit fünf Monaten tobenden Bürgerkriegs insgesamt 3,4 Millionen Babys und Kleinkinder akut unterernährt. In Jemen, seit fast neun Jahren im Kriegszustand, sind schon weit über zehntausend Kinder gestorben, mehr als 9 Millionen Kinder haben keinen Zugang zu sicherer Wasser-, Sanitär-, Gesundheits- und Hygieneversorgung. “In jedem Krieg”, sagte UNICEF-Sprecher James Elder am 13. Oktober 2023, “sind es die Kinder, die am meisten leiden.” Und die am wenigsten Schuld tragen an allen diesen kriegerischen Konflikten, die ausnahmslos von machtgierigen, skrupellosen, profitsüchtigen, fanatischen und extremistischen männlichen Stammes- und Staatsführen angezettelt worden sind.

Doch Kinder und Jugendliche sind nicht nur die hauptsächlichsten Opfer von Kriegen, Armut, Hunger, Prostitution und ausbeuterischen Arbeitsbedingungen. An anderen Orten der Welt sind sie auch Opfer eines gnadenlosen, auf unerbittlichen gegenseitigen Konkurrenzkampf ausgerichteten Bildungssystems. Die 18jährige Saloni Awand ist eine von über 70 Millionen indischen Jugendlichen, die jedes Jahr von ihren Eltern für Kursprogramme angemeldet werden, an denen von den Teilnehmerinnen und Teilnehmern während sechs, oft sieben Tagen pro Woche und bis zu 18 Stunden täglich – sechs Stunden Unterricht und bis zu zwölf Stunden Hausaufgaben – geradezu Unmenschliches abverlangt wird. Am begehrtesten ist ein Ausbildungsplatz in der Stadt Kota, wo sich jährlich rund 300’000 Jugendliche gegenseitig bis aufs Blut bekämpfen, um in den Genuss eines der 700 Plätze an der Eliteuniversität AIIMS zu gelangen, wo ein kostenloses Medizinstudium angeboten wird. Der Druck, der auf den Prüflingen lastet, ist dermassen gross, dass nur etwa ein Zehntel sämtlicher Schülerinnen und Schüler in Kota nicht von psychischen Problemen wie Magersucht, Vereinsamung oder Depressionen betroffen sind. Viele sind sogar so verzweifelt, dass sie ihrem Leben ein Ende setzen: Allein in Kota wurden innerhalb von fünf Jahren 77 Suizide von Jugendlichen registriert, weshalb Kota auch oft als «Stadt der Lerntoten» bezeichnet wird. Wenn die Gescheiterten ohne jegliche Zukunftsperspektive in ihre Dörfer zurückkehren, werden sie nicht selten zur Strafe verprügelt oder von ihrer Familie ausgeschlossen, haben doch ihre Eltern ihr sämtliches Erspartes für den in ihr Kind projizierten Zukunftstraum ausgegeben.

Doch wir müssen gar nicht bis Indien gehen. Auch eine im Herbst 2023 durchgeführte Befragung bei 14Jährigen im schweizerischen Kanton Zürich ergab, dass sich die Hälfte der Mädchen – bei den Knaben lagen die Zahlen ein wenig tiefer – durch die Schule «sehr» oder «ziemlich» gestresst fühlen – sechs Jahre früher waren es noch halb so viele gewesen. Viel Kopfzerbrechen bereiten die Hausaufgaben, für welche die Mädchen bis zu zwei Stunden oder noch mehr pro Tag aufwenden müssen. Die Hälfte der Mädchen hat mindestens einmal pro Woche Kopfschmerzen. Ebenfalls im Vergleich zu früheren Befragungen haben Bauch-,  Rücken- und andere Schmerzen zugenommen. Jedes dritte Mädchen zeigt Hinweise auf eine Angststörung, zahlreiche Befragte fügen sich aus seelischer Not auch Schmerzen zu, beispielsweise mit Ritzen, und rund vier Prozent aller Befragten haben auch schon versucht, sich das Leben zu nehmen.

Spätestens jetzt muss klar geworden sein: Wir sind mitten im Krieg. Es ist der Krieg einer globalen Machtelite gegen die Kinder und gegen die Jugendlichen, gegen die Schwächsten, gegen die, welche sich am wenigsten wehren können und ihrem Schicksal hilflos ausgeliefert sind. Krieg ist nicht nur in Gaza, Jemen oder dem Sudan. Nicht nur in den vergessenen Hungergebieten Afrikas und auf den Strassen Lateinamerikas, wo schon Neunjährige ihre Körper für ein paar wenige Pesos feilbieten. Krieg ist auch auf amerikanischen Salatfeldern, an indischen Eliteschulen, im immer härteren gegenseitigen Konkurrenzkampf um die gesellschaftlichen Sonnenplätze, in der zunehmenden Kluft zwischen Arm und Reich und einer immer drastischeren Zunahme von Kinderarmut, die nicht einmal vor den reichsten Ländern der Welt Halt macht. Krieg ist auch die Vernichtung der Lebensgrundlagen zukünftiger Generationen durch eine rücksichtslose Wirtschaftspolitik endloser Profitmaximierung und gnadenloser Ausbeutung von Mensch und Natur durch die heute Herrschenden und Mächtigen.

Dabei sind es doch gerade die Kinder und die Jugendlichen, die, obwohl sie am allermeisten unter Gewalt, Missachtung elementarster Menschenrechte und Kriegen zu leiden haben, dennoch gleichzeitig immer noch die tiefste Sehnsucht nach einer Welt voller Gerechtigkeit, Frieden und Liebe in sich tragen, einer Sehnsucht, die auf so unermesslich grausame Weise weltweit jeden Tag aufs Neue mit Füssen getreten wird. “Drei Dinge sind uns aus dem Paradies geblieben”, so der italienische Dichter Dante Alighieri, “Kinder, Blumen und Sterne.” Der Frieden wird nicht an dem Tag beginnen, an dem die letzte Kanone abgefeuert sein wird. Der Frieden wird erst dann beginnen, wenn dieses von den Kindern erträumte Paradies über alle Grenzen hinweg Wirklichkeit geworden sein wird.

Schweizerische Bundesratswahlen am 13. Dezember 2023: Demokratie und Kapitalismus

Es ist vollbracht, der wochenlange, oft zermürbende Wahlkampf überstanden. Beat Jans, frischgewählter Schweizer Bundesrat, strahlt wie ein Maikäfer übers ganze Gesicht. Und als er während seiner Antrittsrede seine Frau und seine beiden Töchter auf der Empore erblickt, wie sie ihm begeistert zuwinken, brechen sich vollends sämtliche noch unterdrückten Emotionen ihre Bahn: Tränen kullern über sein Gesicht. Und er ist nicht der Einzige: Da und dort wird in der Schar der Anwesenden ein Taschentuch sichtbar, verstohlen werden Tränen der Freude und der Rührung weggewischt. Kurz nach 12 Uhr beginnen im Basler Rathaus die Glocken zu läuten. “Fünfzehn Minuten lang läuten sie”, wird der “Tagesanzeiger” einen Tag später schreiben, “die Menschen in der Stadt sollen wissen, dass in diesem Moment etwas ganz Spezielles geschehen ist.” Fast so etwas wie ein verfrühtes Weihnachtsgeschenk, so wunderbar passend zur prächtigen Glitzerdekoration und den in allen Farben leuchtenden Kugeln im Bundeshaus in Bern. Am Ende nicht bloss der Sieg des Kandidaten, der am meisten Stimmen erhalten hat, sondern vor allem auch ein Sieg gutschweizerischer Demokratietradition, der Gipfelpunkt eines schon fast heiligen Rituals, mit dem sich die Schweiz nun schon seit über 175 Jahren so glorreich feiert. Doch das ist nur die eine Hälfte der Wirklichkeit.

Die andere Hälfte der Wirklichkeit, das ist: Dass, gemäss neuesten Zahlen der Caritas, rund 1,2 Millionen Menschen in der Schweiz von Armut betroffen sind, mehr denn je zuvor. Dass rund 160’000 Menschen in diesem Land trotz voller Erwerbstätigkeit nicht genug verdienen, um den Lebensunterhalt ihrer Familien bestreiten zu können, und dies, obwohl seit 175 Jahren in der schweizerischen Bundesverfassung schwarz auf weiss geschrieben steht, dass volle Erwerbstätigkeit für den Lebensunterhalt einer Familie ausreichen muss. Dass sich gleichzeitig in den Händen der 300 Reichsten des Landes bereits rund 800 Milliarden Franken angesammelt haben, eine Summe, die der gesamten schweizerischen Wirtschaftsleistung eines ganzen Jahres entspricht und nur wenig unter dem jährlichen Militärhaushalt der USA liegt, der mit Abstand grössten Militärmacht der Welt. Dass die Kluft in Bezug auf die Vermögensverteilung nur in weltweit zwei Ländern, nämlich Singapur und Namibia, noch grösser ist als in der Schweiz. Dass es in diesem Land Unternehmen gibt, in denen die Bestverdienenden einen 300 Mal höheren Lohn erhalten als die am schlechtesten Verdienenden. Dass der Lohn einzelner Topmanager um bis zu 10’000 Franken pro Stunde beträgt, während gleichzeitig bis heute die schweizweite Durchsetzung von gesetzlich vorgeschriebenen Mindestlöhnen im Bereich von 20 bis 23 Franken stets von neuem an ihrer politischen Umsetzbarkeit gescheitert ist. Dass sich im gleichen Land eine grosse Anzahl von Menschen immer kostspieligere Luxusvergnügen leisten können, während andere selbst auf einen Kinobesuch, Ferienreisen oder eine dringend notwendige Zahnoperation verzichten müssen und man somit ohne jegliche Übertreibung von der immer krasseren Herausbildung einer “sozialen Apartheid” sprechen muss, von wachsenden Mauern zwischen den Zonen des Luxus und den Zonen der Armut, Mauern, an denen, unsichtbar, aber umso unerbittlicher, an allen Ecken und Enden Schilder hängen, auf denen geschrieben steht: Nur für Reiche! Dass die Auspressung menschlicher Arbeitskraft und der psychische Druck in der Arbeitswelt und in den Schulen stetig zunimmt und sich anlässlich einer kürzlich durchgeführten Befragung von 14Jährigen im Kanton Zürich gezeigt hat, dass sich rund die Hälfte der Mädchen – bei den Knaben liegen die Zahlen etwas tiefer – permanent gestresst fühlen, über ständige Bauch-, Kopf- und Rückenschmerzen klagen und sich die Anzahl von Suizidversuchen in dieser Altersgruppe nur allein schon in den vergangenen fünf Jahren drastisch erhöht hat. Dass die Schweiz als eines der reichsten Länder der Welt eine im Vergleich mit den meisten anderen Ländern weit höhere Mitschuld trägt an der Klimaerwärmung mit ihren unabsehbaren Folgen, die sich heute vor allem in den ärmeren Ländern zeigen, längerfristig aber die Lebensgrundlagen sämtlicher zukünftiger Generationen existenziell zu gefährden drohen. Dass die Schweiz immer noch zu jenen Ländern gehört, die sich auf Kosten anderer massiv bereichern und beispielsweise im Handel mit Entwicklungsländern einen 50 Mal höheren Profit erwirtschaftet, als sie diesen Ländern in Form von Entwicklungshilfe wieder zurückgibt.

Was für eine Diskrepanz. Was für eine unvorstellbare Kluft zwischen der einen und der anderen Wirklichkeit. Unwillkürlich sehe ich das Bild eines Monsters vor mir, eingepackt in ein wunderschönes, glitzerndes Geschenkpapier. Das Monster, die eine Seite der Wirklichkeit, ist das kapitalistische, unersättlich auf Profitmaximierung, Wachstum und Ausbeutung von Mensch und Natur ausgerichtete Wirtschaftssystem. Das Geschenkpapier, die andere Seite der Wirklichkeit, das ist das, was wir “Demokratie” nennen, das, was an diesem 13. Dezember 2023 wieder einmal so glorreich gefeiert wurde, das, was uns glauben macht, es sei alles gut, das, was den Blick versperrt auf all das, was sich im Inneren des Geschenks verbirgt, das, was in allen Herzen und Träumen so wundervolle Gefühle weckt und uns in der Illusion wiegt, dieses kapitalistische System, in dem wir leben, sei die einzige, beste und durch nichts zu ersetzende Art und Weise, wie Zusammenleben, Wirtschaft und Handel sinnvoll organisiert werden können. Und obwohl das Geschenkpapier unvergleichlich viel dünner ist als sein Inhalt, beherrscht es doch nach wie vor das allgemein vorherrschende Bild in der Öffentlichkeit. Es ist die Welt der Privilegierten, derer, die sich permanent selber feiern, derer, die es geschafft haben, die an der Spitze der Gesellschaftspyramide angelangt sind und denen alle anderen, die es noch nicht geschafft haben, unter der Aufbietung aller ihrer Kräfte nacheifern, um es irgendwann dann vielleicht auch noch so weit zu bringen. All die anderen, die schon längst aufgegeben haben, sieht man nicht. Im Gegensatz zu den Freudestränen all jener, die an diesem 13. Dezember gefeiert haben, bleiben die Tränen jener, die unter viel zu grosser Arbeitslast leiden, auf viel zu vieles, was für andere selbstverständlich ist, verzichten müssen und aus lauter Angst vor der Zukunft kaum schlafen können, in der öffentlichen Wahrnehmung unsichtbar. Denn es ist eben immer noch so, wie schon Bertolt Brecht sagte: “Die im Lichte sieht man, die im Dunklen sieht man nicht.”

Der Kapitalismus und die Demokratie. Allgemein herrscht die Vorstellung vor, beides gehöre untrennbar zusammen. Tatsächlich aber ist es eine sehr einseitige Beziehung. Kapitalismus und Demokratie sind sich wesensmässig zutiefst fremd. Im Grunde benützt der Kapitalismus die Demokratie bloss dazu, um sein Unwesen sozusagen “legitim”, “demokratisch” abgesichert, betreiben zu können. Er braucht das Geschenkpapier, damit man den Inhalt nicht sehen kann. Würden wir nämlich das Geschenk auspacken und sehen, dass dort drinnen jeden Tag weltweit rund 10’000 Kinder vor dem Erreichen ihres fünften Lebensjahrs sterben, weil sie nicht genug zu essen haben, und würden wir weiter sehen, dass wir Menschen des reichen Nordens, die sich den Luxus leisten können, einen Drittel aller gekauften Lebensmittel ungebraucht im Müll landen zu lassen, an dem Tod dieser Kinder dadurch mitschuldig sind, dass wir dieses kapitalistische Wirtschaftssystem nicht schon längst abgeschafft haben, und wenn wir dann noch all die anderen Verbrechen zu Gesicht bekämen, die weltweit jeden Tag durch Profitmaximierung, Wachstumswahn und Ausbeutung an den Menschen und an der Natur begangen werden, würden wir dies schlicht und einfach nicht aushalten. Der Kapitalismus ist existenziell auf das Geschenkpapier angewiesen, damit sein tatsächliches Wesen, damit das Monster nicht sichtbar zu werden vermag.

Aber nicht nur das. Indem der Kapitalismus die Demokratie missbraucht, um sein Unwesen zu verbergen, zerstört er zugleich diese Demokratie. Denn eine Gesellschaft, in der die Unterschiede zwischen Arm und Reich immer grösser werden und ein immer grösserer Teil der Bevölkerung ausgegrenzt, entmündigt und seiner grundlegenden Menschenrechte beraubt wird, entfernt sich immer weiter von einer wahren Demokratie gleichberechtigter, gleichermassen partizipierender Bürgerinnen und Bürger und verwandelt sich zunehmend in eine neue Form von Diktatur, einer Diktatur der Reichen gegen die Armen, der Profitierenden gegen die Ausgebeuteten, der Privilegierten gegen die Unterprivilegierten, einer Diktatur des Geldes, das jenen, die es besitzen, unvergleichlich viel mehr Macht beschert als jenen, denen es auf die eine oder andere Weise kapitalistischer Aneignung gestohlen wurde. Es gibt keine echte Demokratie ohne soziale Gerechtigkeit, und der Kapitalismus ist der natürliche Feind der sozialen Gerechtigkeit, indem die individuelle Anhäufung von Reichtum und der Konkurrenzkampf aller gegen alle seine eigentlichen heiligen Dogmen bilden.

Vielleicht kam das Feiern doch noch etwas zu früh. Vielleicht müssten wir ehrlicherweise damit noch warten, bis das Geschenkpapier doch noch eines Tages aufgerissen wird und der wahre Inhalt zum Vorschein kommt, um ein neues Zeitalter einzuläuten, in dem die uralte Sehnsucht der Menschheit nach sozialer Gerechtigkeit, gemeinsamem Wohlergeben, Fürsorglichkeit und einem Ende jeglicher Ausbeutung und Bereicherung auf Kosten anderer endlich Wirklichkeit werden kann. Damit dann die Kirchenglocken vielleicht sogar noch um einiges länger als 15 Minuten läuten werden und in allen Zeitungen zu lesen sein wird, alle Menschen müssten es wissen, dass “in diesem Moment etwas ganz Spezielles geschehen ist.”

Hintergrundinformationen des Ukrainekonflikts

1991: Zusammenbruch der Sowjetunion, Russland anerkennt staatliche Souveränität der Ukraine. Russland erklärt, eine Ausdehnung der NATO bis an die Grenzen Russlands würde die russischen Sicherheitsinteressen beeinträchtigen. Führende westliche Politiker wie US-Präsident Bush, US-Aussenminister Jim Baker, der französische Präsident François Mitterrand und der deutsche Aussenminister Genscher versichern Russland, die NATO nicht weiter nach Osten auszudehnen. Zu diesem Zeitpunkt gehören folgende europäische Länder zur NATO: Belgien, Dänemark, Deutschland, Frankreich, Grossbritannien, Griechenland, Italien, Island, Luxemburg, Niederlande, Norwegen, Portugal, Spanien und Türkei.

1997: Russisch-ukrainischer Freundschaftsvertrag: gegenseitige Anerkennung der Grenzen.

1999: NATO-Beitritt von Polen, Tschechien und Ungarn.

2001: Putin schlägt eine „gemeinsame europäische Sicherheitsstruktur“ unter Einbezug Russlands vor. Diese und weitere Vorstösse Putins in gleicher Richtung werden vom Westen abgelehnt.

2004: NATO-Beitritt von Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, Slowakei und Slowenien.

2008: NATO stellt der Ukraine und Georgien eine NATO-Mitgliedschaft in Aussicht.

2009: NATO-Beitritt von Albanien und Kroatien.

2010: Putin schlägt die Schaffung einer Freihandelszone und eine gemeinsame Industriepolitik mit der EU vor. Er plädiert für eine „harmonische Wirtschaftsgemeinschaft von Lissabon bis Wladiwostok“.

Herbst 2013    Die ukrainische Regierung unter Wiktor Janukowytsch kündigt an, das Assoziierungsabkommen mit der EU zu verschieben. Dies löst Massenproteste für eine stärkere europäische Integration aus. Janukowytsch flieht nach Charkiw. Russland vertritt bis heute die Ansicht, dass Janukowytschs Absetzung verfassungswidrig erfolgt sei.

März 2014: Russland annektiert völkerrechtswidrig die Krim. Westliche Medien beschuldigen Russland, durch Unruhen den mehrheitlich russischsprachigen Osten und Süden der Ukraine destabilisieren zu wollen.

2014: Wachsende prorussische wie auch proukrainische Demonstrationen in der Ost- und Südukraine. Die prorussischen Demonstranten verlangen nicht den Anschluss an Russland, sondern mehr Unabhängigkeit von der Zentralregierung, nur eine Minderheit der Bevölkerung befürwortet einen Anschluss an Russland. Zunehmende Überlagerung der geopolitischen Interessen Russlands mit denen der EU und der USA. Die Spannungen zwischen ukrainischen Truppen und den von Russland unterstützten Separatisten nehmen zu. Putin fordert die Separatisten auf, ein geplantes Referendum zu verschieben, um die „Bedingungen für einen Dialog zu schaffen.“ Auch die ukrainische Regierung erklärt ihre Bereitschaft zum Dialog.

Sept. 2014: Unterzeichnung des Protokolls von Minsk: Einfrierung der Front unter Aufsicht der OSZE. Dennoch gehen die gewalttätigen Auseinandersetzungen weiter.

Februar 2015: Minsk II. Erneuerung von Minsk I. Dennoch wird der vereinbarte Waffenstillstand von beiden Seiten immer wieder durchbrochen. Schwere Kämpfe mit insgesamt rund 14‘000 Todesopfern zwischen 2014 und 2012. Auf der Seite der Ukraine sind auch nationalsozialistisch ausgerichtete Verbände im Einsatz, unter anderem die berüchtigte Asow-Brigade.

2017: NATO-Beitritt von Montenegro.

2020: NATO-Beitritt von Nordmazedonien.

Januar 2021: 4000 Militärs aus NATO-Staaten nehmen die Ausbildung ukrainischer Soldaten auf. Russland zieht rund 80‘000 Soldaten sowie schwere Waffen an der ukrainischen Grenze zusammen.

Dez. 2021: Russland legt der NATO und den USA einen Forderungskatalog zur friedlichen Beilegung des Konflikts vor: Kein NATO-Beitritt der Ukraine und Georgiens, keine Stationierung von NATO-Truppen entlang der russischen Grenze, keine Stationierung weitreichender Raketen in europäischen Staaten, Rückzug aller seit 1997 in Europa stationierten NATO-Truppen. USA und NATO lehnen die russischen Forderungen ab.

24. Febr. 2022: Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine.

Zitate zum Ukrainekonflikt

“Die Entscheidung, die NATO bis zu den Grenzen Russlands zu erweitern, ist der verhängnisvollste Fehler und wird die russische Aussenpolitik in eine Richtung zwingen, die uns entschieden missfallen wird.” (George F. Kennan, US-Historiker, 1997)

“Das Einzige, was Russland zu einer heftigen Reaktion provozieren kann, ist die Erweiterung der NATO auf die baltischen Staaten.” (Joe Biden, US-Senator und späterer US-Präsident, 1997)

„Wenn die Ukraine Teil der NATO wird, dann bedeutet dies aus der Perspektive Russlands eine Kriegserklärung.“ (Angela Merkel, deutsche Bundeskanzlerin, 2008)

“Russland wollte in die NATO, aber die Amerikaner waren dagegen. Russland wollte auch in die EU. Das waren verpasste Chancen. Das Interesse Russlands an Europa war aufrichtig, da bin ich sicher.” (Yves Rossier, ehemaliger Schweizer Botschafter in Russland).

„Die NATO-Osterweiterung hat für einige Staaten mehr Sicherheit geschaffen – und für andere die Sicherheit zerstört.“ (Roland Popp, Militärakademie ETH Zürich)

„Vielleicht war es die NATO, die vor Russlands Tor bellt, die Putin dazu veranlasste, die Invasion der Ukraine zu entfesseln. Ich kann nicht sagen, ob seine Wut provoziert wurde, aber ich vermute, dass die Haltung des Westens sehr dazu beigetragen hat. Der Krieg in der Ukraine wird von den Interessen mehrerer Imperien angetrieben und nicht nur von denen Russlands.“ (Papst Franziskus, am 3. Mai 2022, in einem Interview mit dem Corriere della sera)

„Wir haben Russland mit Raketen und Militärbasen umzingelt, was wir niemals tolerieren würden, wenn sie es mit uns genauso machen würden.“ (Robert F. Kennedy Jr., US-Präsidentschaftskandidat 2024)

„Um Amerikas Vorrangstellung in Eurasien zu sichern, braucht es die NATO-Osterweiterung.“ (Zbignew Brzezinski, US-Politberater 1977-1981)

„Die Sowjetunion hat nun mal dem kalten Krieg verloren und mit dieser Niederlage muss Russland nun leben.“ (Markus Somm, NZZ-Standpunkte, 5. März.2022)

„Es geht um eine grosse Schlacht zwischen Demokratie und Autokratie, zwischen Freiheit und Unterdrückung. Diese Schlacht wird nicht in Tagen geschlagen werden oder in Monaten. Wir müssen uns für einen langen Kampf stählen.“ ​(US-Präsident Joe Biden, 26.3.2022)

„Wir sind uns der enormen Menge an Waffen, Munition und Materialien, die wir der Ukraine bereits zur Verfügung gestellt haben, bewusst, aber wir müssen noch mehr tun.“ (Jens Stoltenberg, NATO-Generalsekretär)

„Denken Sie daran, wir haben acht Jahre damit verbracht, diese Armee in der Ukraine zu dem einzigen Zweck aufzubauen, Russland anzugreifen. Dafür wurde sie entwickelt. Deshalb haben die Russen sie angegriffen.“ (Douglas MacGregor, ehemaliger US-Sicherheitsberater und pensionierter US-Colonel)

„Die Sanktionen werden Russland ruinieren.“ (Analena Baerbock, deutsche Aussenministerin)

“Wirtschaftliche Sanktionen haben noch nie zu einer Änderung der Aussenpolitik geführt. Wenn jemand dieses Ziel hatte, dann war er wirklich naiv.” (Yves Rossier, ehemaliger Schweizer Botschafter in Russland)

“Die Unterstützung des Westens für die Ukraine ist nichts anderes als ein Versuch, das kapitalistische System vor dem Einsturz zu bewahren.” (Benedikt Loderer, Bieler Stadtpräsident)

„Bitte vergesst nicht, dass Russland nicht Putin ist. Viele junge Menschen wollen nichts mit ihm und seinem Krieg zu tun haben. Wir dürfen nicht in die Rhetorik des Hasses verfallen. Wenn wir den Hass wählen, haben die Bastarde dieser Welt gewonnen. Macht Russland nicht zu eurem Feind.“ (Katharina, Übersetzerin in Moskau)

„Die Russen sind Schweine, Hunde, Verbrecher, Tiere, Unrat und Barbaren, die gekommen sind, um unsere Geschichte, unsere Kultur und unsere Bildung zu vernichten, und die deshalb in der Hölle brennen sollen.“ (Der mit dem Friedenspreis 2022 des deutschen Buchhandels ausgezeichnete ukrainische Autor Serhij Zhadan, in seinem neuesten Buch „Himmel über Charkiw“)

„Alles, was russisch ist, muss verschwinden. Die russische Sprache, die russische Kultur, die russische Geschichte. Alle, die meinen, sie hätten das Recht, in der Ukraine Russisch zu sprechen, müssen das Land verlassen.“ (Vlad Omelyan, Minister für Infrastruktur der Ukraine)

“Die Russinnen und Russen sind ein wunderbares Volk, emotionale Menschen mit grossen Herzen.” (Yves Rossier, ehemaliger Schweizer Botschafter in Moskau)

„Ich bin fest davon überzeugt, dass die Menschen in Deutschland keine neue Feindschaft mit den Russen wollen. Wir dürfen nicht zulassen, dass das, was unsere beiden Nationen gemeinsam aufgebaut haben, zerstört wird.“ (Michail Gorbatschow, letzter Generalsekretär der Sowjetunion)

“Wir dürfen nicht alles glauben, was uns im Westen erzählt wird.” (Yves Rossier, ehemaliger Schweizer Botschafter in Moskau)

“Statt sich der NATO anzunähern, hätte die Ukraine eine neutrale Rolle finden sollen: als Brücke zwischen Osten und Westen, was sie auch in der Vergangenheit war.” (Yves Rossier, ehemaliger Schweizer Botschafter in Moskau)

“Wenn die Ukraine überleben und gedeihen soll, darf sie nicht der Vorpfosten der einen Seite gegenüber der anderen sein, sondern eine Brücke zwischen beiden Seiten.” (Henry Kissinger, US-Aussenminister 1973-1977)

“Jede Friedenslösung muss Russland einbinden und sie muss gerecht sein. Es gibt keinen Frieden ohne Gerechtigkeit.” (Yves Rossier, ehemaliger Schweizer Botschafter in Moskau)

“Wenn wir den Dritten Weltkrieg nicht wollen, müssen wir früher oder später aus dieser militärischen Eskalationslogik raus und Verhandlungen aufnehmen.” (Erich Vad, deutscher Brigadegeneral a.D.)

„Der Krieg darf kein Mittel der Politik sein. Es geht darum, Kriege abzuschaffen, nicht nur, sie zu begrenzen.“ (Willy Brandt, ehemaliger deutscher Bundeskanzler, anlässlich der Verleihung des Friedensnobelpreises)

„Lieber hundert Stunden umsonst verhandeln, als eine Minute schiessen.“ (Helmut Schmidt, deutscher Bundeskanzler 1974-1982)

“Die Menschheit muss dem Krieg ein Ende setzen, oder der Krieg setzt der Menschheit ein Ende.” (US-Präsident John F. Kennedy)

„Pazifismus ist aus der Zeit gefallen.“ (Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz am 1. Mai 2022)

„Die USA werden ihre Söhne und Töchter in den Krieg senden müssen, so wie wir unsere Söhne und Töchter in den Krieg senden, und diese werden kämpfen und werden sterben müssen.“ (Wolodymyr Selenskyj, Präsident der Ukraine)

„Ich bin nicht bereit, für die Ukraine zu sterben, ich bin bereit, für die Ukraine zu leben. Das ist viel schwieriger, als nur zu sterben.“ (Vitali Klitschko, Bürgermeister von Kiew)

„Ich dachte immer, jeder Mensch sei gegen den Krieg, bis ich herausfand, dass es welche gibt, die dafür sind, besonders die, die nicht hingehen müssen.” (Erich Maria Remarque, deutscher Schriftsteller während des Ersten Weltkriegs)

„Ich befürchte, die Welt schlafwandelt in einen grösseren Krieg hinein. Und ich befürchte, sie tut dies mit weit geöffneten Augen.“ (Antonio Guterres, UNO-Generalsekretär)

„Immer mehr Ukrainer befürworten Friedensgespräche mit Russland – das ist ein sehr gefährlicher Trend.“ (Oleksiy Danilov, Chef des nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrates der Ukraine)

“Manche von Russland besetzte Gebiete wollen möglicherweise gar nicht Teil der Ukraine sein. Würde die Ukraine sie zurückerobern, liefe es vielleicht auf eine Besatzung gegen den Willen der dortigen Bevölkerung hinaus.” (Sir Richard Barrow, ehemaliger britischer General, in der NZZ am Sonntag, 11. März 2023)

“Ich sah Erniedrigungen russischer Gefangener, Folter, Messerstiche, man liess sie um ihr Leben betteln. Einmal sah ich, wie man mit drei Gefangenen in den Wald ging, und hörte wenig später drei Schüsse.” (Jonas Kratzenberger, deutscher Freiwilligenkämpfer in der Ukraine, in der NZZ am Sonntag, 11. Juni 2023)

“Aus der moralischen und völkerrechtlichen Perspektive liegt die Schuld und Täterschaft des Ukrainekriegs allein bei Russland. Aus Sicht des geopolitischen Realismus hat jedoch der Westen durch die Infragestellung der russischen Selbstbehauptungsfähigkeit den Angriffskrieg von Russland provoziert und schwere Mitschuld in der Vorgeschichte des Kriegs auf sich geladen. Russland ist der Täter, der Westen der Verursacher.“ (Budapester Zeitung, 7. April 2023)

„Selten gab es einen Krieg, bei dem die Rollen von Gut und Böse so eindeutig verteilt waren wie beim Überfall Russlands auf die Ukraine.“ (Fabian Hock, Tagblatt, 6.10.23)