30 Jahre und noch immer ist der Kapitalismus nicht überwunden

 

Eine linksgrüne Mehrheit dominiert den Zürcher Stadtrat seit über 30 Jahren. Auch die Stadtratswahlen vom 13. Februar 2022 werden daran aller Voraussicht nach nichts ändern. “Das rot-grüne Gesellschaftsprojekt”, schreibt die “NZZ am Sonntag” vom 23. Januar 2022, “ist längst in der Mitte der Gesellschaft angekommen.. Zwar läuft die Kapitalismuskritik nur noch als Hintergrundmusik und alles Anarchische wurde aussortiert. Man begnügt sich damit, das eigene Milieu mit Genossenschaftswohnungen, einem breiten Kulturangebot, Velowegen und genderkonformen Toiletten zufriedenzustellen.” Ja. Seit 30 Jahren ist Links-Grün in Zürich an der Macht. Und trotzdem ist Zürich nach wie vor und mehr denn je eine durch und durch kapitalistische Stadt: Während der Zürcher Finanzplatz Milliardengewinne scheffelt und seinen Topmanagern Löhne in zweistelliger Millionenhöhe auszahlt, müssen Zehntausende von Zürcherinnen und Zürchern auf fast alles verzichten, was auch nur ein wenig über die elementarsten Lebensbedürfnisse hinausgeht: kein Theater- und Kinobesuch, kein Essen im Restaurant, keine Spielzeuge für die Kinder, keine Ausflüge und Ferienreisen, einfach nichts. Vergleicht man die höchsten Löhne in der Stadt Zürich mit den niedrigsten, dann beträgt das Verhältnis nicht weniger als 300:1. Die Umlagerung von unten nach oben läuft ungebrochen wie eine gut geölte Maschine: Während Aktionärinnen und Aktionäre von Grossfirmen in Form von Dividenden jährlich fette Gewinne einstreichen, ohne dafür auch nur einen Finger krumm machen zu müssen, schuften sich die Arbeiterinnen und Arbeiter an den untersten Rändern der kapitalistischen Arbeitswelt fast zu Tode und erhalten bloss einen Bruchteil dessen, was ihre Arbeit eigentlich Wert wäre – um so jenes Geld zu erwirtschaften, das den Kapitalbesitzerinnen und Kapitalbesitzern unaufhörlich in den Schoss fällt. Das Gleiche bei den Immobilien, wo sich die hart erarbeiteten und oft kaum bezahlbaren Mieten unentwegt in jenes Gold verwandeln, das sich bei Immobilienbesitzerinnen, Spekulanten und Baukonzernen ansammelt. Noch immer sind der Wettbewerb und der gegenseitige Konkurrenzkampf aller gegen alle die obersten Prinzipien und noch immer hält sich die Lüge, wonach jeder reich werden könne, wenn er sich nur genug anstrenge, aller gegenteiligen Einsicht hartnäckigst am Leben. Dass die 30jährige “Herrschaft” einer linksgrünen Zürcher Regierung an alledem nichts Grundsätzliches zu ändern vermochte und sich die Schere zwischen Arm und Reich, zwischen Ausgebeuteten und Ausbeutern in dieser Zeit sogar noch vergrössert hat, zeigt die wahren Machtverhältnisse: Nur scheinbar leben wir in einer Demokratie. Tatsächlich aber ist es der Kapitalismus, der das Sagen hat. Deshalb waren die “anarchistischen” Ideen aus der Frühzeit einer jungen, unverbrauchten, unangepassten linksgrünen Bewegung genau richtig und haben den Nagel auf den Kopf getroffen. Man hätte dem Kapitalismus keinen grösseren Dienst erweisen können, als solche radikale, kapitalismuskritische Stimmen über Bord zu werfen und den Weg realpolitischer “Vernunft”, “Kompromissbereitschaft” und “Pragmatismus” einzuschlagen. Nun haben wir den Salat: Die “Linken” und “Grünen” sind zwar an der Macht, doch das kapitalistische Karussell der Ausbeutung von Mensch und Natur, der Umverteilung von der Arbeit zum Kapital und dem selbstzerstörerischen Wahn, alles müsse unaufhörlich wachsen, dreht sich auch in Zürich schneller denn je. Klar, es wäre eine Illusion, anzunehmen, Zürich könnte sich als einzige Stadt weit und breit einfach so aus dem Kapitalismus verabschieden. Zu sehr ist alles mit allem verbunden. Aber es braucht eine Rückbesinnung linker und grüner Politik auf die Ideale der Anfangszeit. “Im Jugendidealismus”, sagte der Urwalddoktor Albert Schweitzer”, “erschaut der Mensch die Wahrheit. Mit ihm besitzt er einen Schatz, den er gegen nichts in der Welt austauschen sollte.” Vielleicht könnte eine solche Reaktivierung des “Jugendidealismus” dazu führen, dass linksgrüne Politik sozusagen auf zwei Ebenen agieren würde: die eine wäre die konkrete, pragmatische, welche Wohnbaugenossenschaften gründet, Bäume pflanzt und Velowege realisiert. Die zweite Ebene, die “idealistische”, wäre die Vision von jener Welt, in der wir in zehn oder 20 Jahren leben wollen, einer Welt, in der aller Reichtum auf alle Menschen gerecht und gleichmässig verteilt ist, eine Welt im Gleichgewicht zwischen Mensch und Natur und zwischen den heute lebenden und den zukünftigen Generationen, einer Welt ohne Hunger und ohne Kriege, einer Welt, in der ein gutes Leben für alle Wirklichkeit geworden ist. Dieser “idealistische” Teil der politischen Arbeit müsste allerdings länderübergreifend stattfinden, denn so wie der Kapitalismus global vernetzt ist, so müssten sich auch die politischen Kräfte, welche sich seine Überwindung zum Ziel gesetzt haben, global vernetzen und organisieren. Eine Idee, deren Realisierung heute noch in weiter Ferne zu liegen scheint. Und doch ist sie elementar. Denn analog zur Aussage einer Klimaaktivistin, wonach man die Welt auch demokratisch an die Wand fahren könne, liesse sich sagen, dass das kapitalistische Wirtschaftssystem früher oder später zu einem globalen gesellschaftlichen, ökonomischen und ökologischen Kollaps führen wird, auch wenn wir dannzumal über noch so viele Wohnbaugenossenschaften, Velowege und gendergerechte Toiletten verfügen werden.