
Lieber Beat
Im „St. Galler Tagblatt“ vom 23. Januar 2025 äusserst du dich zur Schweizer Asylpolitik 2024 wie folgt: „Wir sind in verschiedenen Bereichen den europäischen Ländern deutlich voraus. Die Asylzahlen waren im September 40 Prozent tiefer als im September 2023. Die Zahl der Pendenzen sinkt. Wir haben 2024 25 Prozent von ihnen abbauen können. Auch die Rückkehrzahlen steigen, mit einer Rückführungsquote von annähernd 60 Prozent steht die Schweiz in Europa an der Spitze. Das SEM macht eine hervorragende Arbeit. Wir sind auf dem richtigen Weg. Doch wir sind noch nicht zufrieden. Der immer noch zu grosse Pendenzenberg muss rascher abgebaut werden.“
Aus meiner Sicht sind solche Aussagen zynisch und der humanitären Tradition der Sozialdemokratie unwürdig. Als Mitglied der SP seit 40 Jahren ist das wieder einmal so ein Moment, an dem ich mir ernsthaft überlege, ob ich weiterhin noch Mitglied einer Partei sein kann, die einen Bundesrat stellt, der sich mit solchen Worten öffentlich äussert.
Ich habe innerhalb der vergangenen neun Monate am Beispiel von zwei asylsuchenden Personen hautnah erlebt, wie sich die aktuelle schweizerische Asylpolitik auf die unmittelbar davon Betroffenen auswirkt. Ich fasse meine Erfahrungen im Folgenden kurz zusammen. Die Namen sind geändert.
Halime ist eine 25jährige Afghanin. Ihre Leidensgeschichte beginnt mit Zwangsverheiratung im Alter von 16 Jahren und schweren Misshandlungen durch ihren Ex-Mann, geht weiter mit der Flucht über den Iran und die Türkei mit zahlreichen weiteren Gewalterfahrungen und endet in Griechenland, wo sie den Flüchtlingsschutzstatus und damit das Bleiberecht erhält. Da die Verhältnisse für Flüchtlinge in Griechenland bekanntermassen katastrophal sind, nach 30 Tagen jegliche staatliche Unterstützung erlischt und viele Flüchtlinge in Elend und Obdachlosigkeit landen, wo sie weiteren unzumutbaren Gewalterfahrungen ausgesetzt sind, ersucht Halime in der Schweiz um Asyl, insbesondere auch deshalb, weil sie befürchtet, ihr Ex-Mann oder Verwandte von ihm könnten sich ebenfalls bereits in Griechenland aufhalten und ihr nach dem Leben trachten. Schwer traumatisierte junge Frauen aus Afghanistan, die alleine unterwegs sind, erhielten bis vor etwa zwei Jahren in aller Regel in der Schweiz eine F-Aufenthaltsbewilligung, auch wenn sie über ein Bleiberecht in Griechenland verfügten. Diese Praxis wurde in den vergangenen zwei Jahren drastisch verschärft. Halimes Asylgesuch wird am 4. Oktober 2024 mit Bezugnahme auf das Dublin-Abkommen trotz der schweren Traumatisierung der jungen Frau und ihrer Todesängste vom SEM abgelehnt.
Im Gegensatz zu deiner Aussage, das SEM leiste „hervorragende“ Arbeit, ist das Argumentarium, mit dem Halimes Asylgesuch abgelehnt wird, an unzulässigen und widersprüchlichen Aussagen nicht zu übertreffen. Jede Aussage von Halime, auch wenn sie sie noch so glaubwürdig und überzeugend darlegt, wird mit der Begründung zurückgewiesen, sie könne sie „nicht beweisen“. Doch wie soll sie, um nur ein Beispiel zu nennen, die von ihrem Ex-Mann ausgesprochenen Morddrohungen beweisen, wenn ihr das Handy, wo die entsprechenden Nachrichten gespeichert waren, an der türkisch-griechischen Grenze gewaltsam entrissen wurde? Zudem nimmt das Argumentarium mehrfach Bezug auf eine Aussage des Bundesrates aus dem Jahre 2008 (!), wonach Griechenland ein „sicherer Drittstaat“ sei, was von der Schweizerischen Flüchtlingshilfe und anderen NGOs mit zahlreichen Studien in der Zwischenzeit mehrfach widerlegt wurde. Auch erscheint die schwere Traumatisierung der schwergeprüften Frau an keiner einzigen Stelle des Argumentariums als mögliche Begründung für ein Bleiberecht in der Schweiz. Im Gegenteil: Mehrfach wird betont, es handle sich bei Halime um eine „junge, gesunde Frau“, die „keinerlei Probleme“ haben werde, in Griechenland eine Unterkunft und einen Job zu finden – obwohl allgemein bekannt ist, dass die Arbeitslosigkeit in Griechenland zurzeit bei etwa 12 Prozent liegt und eine Frau, die weder über eine Berufsausbildung noch über Kenntnisse der Landessprache verfügt, bestenfalls die Chance auf einen Job in der Schattenwirtschaft hat, mit allen damit verbundenen Gefahren von Ausbeutung und Missbrauch.
Besonders stossend ist, dass sich die Anwältin, die Halime zugeteilt wurde, keinen Deut um das Schicksal ihrer Mandantin kümmert, obwohl das doch eigentlich ihre Aufgabe wäre. Auch habe ich mir sagen lassen, dass die Bearbeitung von Asylgesuchen stark vom jeweiligen Kanton abhängt, der den Fall führt, und ebenso stark von den jeweils zuständigen Mitarbeitenden des SEM. Eine reine Lotterie mit unter Umständen geradezu tödlichen Folgen.
Auch eine von mir unterstützte Beschwerde Halimes gegen den SEM-Entscheid, fristgerecht eingereicht ans Bundesgericht, wird abgewiesen. Anstelle einer erhofften seriösen Neubeurteilung übernimmt das Bundesverwaltungsgericht nahezu wortwörtlich die Argumentation des SEM. Und so muss Halime trotz bedenklichen gesundheitlichen Zustands mit hohem Fieber, Magenkrämpfen und nach mehreren schlaflosen Nächten infolge ihrer Ängste und Traumatisierungen und ohne jegliche medizinische, psychologische und finanzielle Unterstützung anfangs November 2024 die Schweiz verlassen. Hätte sie ihr Asylgesuch zwei Jahre früher eingereicht, so wurde mir von mehreren Fachpersonen, die im Asylwesen tätig sind, unabhängig voneinander bestätigt, wäre es höchstwahrscheinlich positiv beantwortet worden – während früherer Jahre fanden aus der Schweiz sogar überhaupt keine Rückschaffungen nach Griechenland statt. So massiv hat sich die schweizerische Asylpolitik in kurzer Zeit auf Druck der Rechtsparteien, insbesondere der SVP, verschärft. Und dies nicht nur in diesem Aspekt. Über fünf Mal ist die schweizerische Asylpolitik auf Druck der SVP und einer systematisch von ihr heraufbeschworenen fremdenfeindlichen Stimmung in der Bevölkerung im Verlaufe der vergangenen zehn Jahre immer restriktiver geworden.
Das zweite Beispiel ist eine afrikanische Flüchtlingsfamilie, die aufgrund ihres negativen, aus verschiedenen Gründen noch nicht vollzogenen Asylentscheids seit acht Jahren täglich mit der Angst leben muss, von einem Tag auf den anderen gewaltsam ausgeschafft zu werden. Alle paar Tage bekommen sie mit, wie Asylsuchende frühmorgens von der Polizei aus ihren Betten geholt und in Handschellen abgeführt werden. Die 13jährige Chantal ist inzwischen so schwer traumatisiert, dass sie nächtelang wach und schweissgebadet in ihrem Bett liegt und sich immer wieder mit dem Gedanken herumschlägt, sich das Leben zu nehmen.
2024 wurden 7205 Asylsuchende aus der Schweiz in ihre Herkunftsländer zurückgeschafft, zwei Drittel von ihnen zwangsweise, gegen ihren Willen, täglich also rund zwölf Menschen, in Handschellen oder Ganzkörperfesselung, als handle es sich um Schwerverbrecherinnen und Schwerverbrecher.
Mir ist klar, dass die Schweiz nicht sämtliche Personen aufnehmen kann, die hier Asyl suchen. Aber ist eines der reichsten Länder der Welt tatsächlich mit durchschnittlich nicht einmal einem einzigen anerkannten Flüchtling pro 100 Einwohnerinnen und Einwohner schon am Limit? Wo ist die Solidarität mit anderen Ländern und Weltregionen? In Griechenland, wohin Menschen zurückgeschafft werden und das selbst mit massiven sozialen und wirtschaftlichen Problemen zu kämpfen hat, gibt es pro 100 Einheimische doppelt so viele Flüchtlinge wie in der Schweiz. Im Libanon kommt auf jede einheimische Person ein Flüchtling. Bangladesch musste innerhalb eines einzigen Jahrs mit einer ganzen Million Flüchtlingen aus Myanmar fertigwerden. In Afrika gibt es Millionen von Binnenflüchtlingen. Und wir sind schon mit einem einzigen Flüchtling pro 100 Einheimische überfordert?
Dazu kommt, dass durch die grosszügige Aufnahme von ukrainischen Flüchtlingen der Druck, aus anderen Ländern noch weniger Flüchtlinge aufzunehmen, zusätzlich verstärkt wurde. Weshalb werden Flüchtlinge so unterschiedlich behandelt je nach dem Land, wo sie herkommen? Sind Menschenrechte nicht universell, gelten sie nicht für alle Menschen, unabhängig von ihrer Herkunft, ihrer Hautfarbe, ihrer Religion?
„Wenn das Unrecht zu Recht wird“, sagte Bertolt Brecht, „dann wird Widerstand zur Pflicht.“ Wie lange wollen wir als SP uns noch von der SVP in eine Richtung hetzen lassen, mit der wir uns von den ursprünglichen Idealen der Sozialdemokratie immer weiter entfernen? Wie lange noch lassen wir uns instrumentalisieren und lassen es zu, die schmutzige Arbeit für andere zu erledigen, die sich, wenn es drauf und dran kommt, vornehm zurücklehnen und so tun, als hätten sich nichts damit zu tun? Wann endlich gelingt es uns, die Bevölkerung darüber aufzuklären, dass nicht die „Linken“ schuld sind an den globalen Flüchtlingsbewegungen, sondern das kapitalistische Weltwirtschaftssystem, das im Verlaufe der vergangenen 500 Jahre eine immer tiefere Kluft aufgerissen hat zwischen armen, ausgebeuteten Weltregionen und reichen, von dieser Ausbeutung profitierenden?
Hätte man auf die Linken gehört – etwa auf die Forderung nach Beibehaltung des Botschaftsasyls, gerechte Preise für Rohstoffe, Konzernverantwortung, ressourcenschonende Wirtschaft, faire Handelsbeziehungen zwischen Norden und Süden, etc. –, dann hätten wir heute nicht mehr, sondern viel weniger Flüchtlinge, weil nämlich kein Mensch einen Grund hat, seine Heimat zu verlassen, wenn er unter menschenwürdigen Bedingungen dort leben kann.
„… wird der Widerstand zur Pflicht…“ Müsste ein SP-Justizminister als Repräsentant der Sozialdemokratie, der sozialen Gerechtigkeit und der Menschenwürde nicht aufstehen und öffentlich erklären, dass sein Gewissen es nicht länger zulasse, dieses grausame Spiel mitzuspielen? Wieso brüstet man sich sogar noch damit, innerhalb eines Jahres mehr Flüchtlinge ausgeschafft zu haben als in allen Jahren zuvor? Erringt man europäische Spitzenwerte neuerdings dadurch, dass man möglichst viele Träume von einem schöneren Leben zerstört? Kann man sich mit Humanität, Menschenfreundlichkeit und Gastfreundschaft heute nicht mehr profilieren, sondern nur noch mit möglichst hohen Zahlen abgewiesener Flüchtlinge?
Die SVP hat es geschafft, uns durch permanentes Schüren von Feindbildern und von Fremdenhass und vom Aufbauschen einzelner von Asylsuchenden begangener Delikte einzureden, wir würden von Flüchtlingen „bedroht“, „überflutet“ und das „Boot“ sei längst schon „voll“. Zu dieser von Hass und Fremdenfeindlichkeit geprägten Stimmungswelle, die mittlerweile schon geradezu zur kaum mehr hinterfragten gesellschaftlichen „Normalität“ geworden ist, braucht es dringendst eine mindestens so starke Gegenbewegung. Die Ausrede, die anderen europäischen Länder betrieben ja genau die gleiche oder sogar noch härtere Flüchtlingspolitik, kann das begangene Unrecht nicht rechtfertigen. Im Gegenteil: Mit ihrer humanitären Tradition wäre die Schweiz sogar in ganz besonderem Ausmass moralisch verpflichtet, an die Werte von Mitmenschlichkeit und Solidarität zu erinnern und sich für ihre Bewahrung tatkräftig einzusetzen, vielleicht sogar als Vorbild für andere. Sonst wird die Gefahr immer grösser, dass über Jahrzehnte hart erarbeitete Werthaltungen scheibchenweise nach und nach immer mehr verloren gehen, bis am Ende nichts mehr davon übrig bleibt.
Das Mindeste wäre, dass der Bundesrat seine 2008 gemachte und seither x-fach widerlegte Aussage, Griechenland sei ein „sicherer Drittstaat“, endlich widerrufen würde. Damit das SEM wenigstens dieses Argument, um Flüchtlinge ohne ernsthafte individuelle Überprüfung ihrer Gesuche möglichst rasch abzuschieben, nicht mehr verwenden könnte.
Es geht mir nicht darum, jemanden an den Pranger zu stellen. Aber die Gefahr ist gross, dass man, wenn man einfach seinen „Job“ macht, dadurch möglicherweise – ohne es eigentlich zu wollen – Unrecht begeht. Ich finde, darüber muss man mindestens offen und ehrlich diskutieren, gerade innerhalb einer politischen Partei, bei der doch die menschlichen Werte an oberster Stelle stehen müssten.
Eine Kopie dieses Schreibens ging am 15. April 2025 an das Zentralsekretariat der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz.