1. Mai 2021 in St. Gallen: Und es liegt so etwas wie ein bisschen revolutionäre Stimmung in der Luft…

 

An diesem nasskalten 1. Mai 2021 haben sich bei der Grabenhalle in St. Gallen rund 500 Menschen eingefunden, um an einer Kundgebung zum traditionellen Tag der Arbeit teilzunehmen. Viele bunte Fahnen, Transparente, eine gute Stimmung, auffallend viele sehr junge Menschen, Vertreterinnen und Vertreter von Gewerkschaften, Linksparteien und Ausländerorganisationen. Auf dem Zug durch die Altstadt werden lautstark antikapitalistische Parolen skandiert, revolutionäre Stimmung liegt in der Luft, endlich, nach so langen coronabedingten Monaten des Schweigens. Zum Abschluss der Kundgebung: Mehrere Reden junger Frauen, eindringlich, leidenschaftlich, mitreissend. Es geht um faire Löhne, um die Gleichberechtigung der Frauen, um das Abstimmungs- und Wahlrecht für Ausländerinnen und Ausländer, um finanzielle Unterstützung für all jene, die von der Coronapandemie besonders betroffen sind, um eine gerechtere Verteilung von Einkommen und Vermögen, um möglichst rasche und wirksame Massnahmen gegen den Klimawandel, um die Überwindung des Kapitalismus. Zugleich finden Kundgebungen zum Tag der Arbeit auch in Bern, Zürich und anderen Städten statt. Zugegeben, es sind keine Massenaufmärsche. Aber es sind Brennpunkte, an denen sich der Wind inmitten einer Zeit, in der es leider an weitergehenden Visionen ganz und gar mangelt, behutsam in eine neue Richtung zu drehen beginnt. Wäre dies alles für die Medien nicht ein gefundenes Fressen? Doch als ich am nächsten Tag meine Sonntagszeitungen lese, finde ich bloss zwei kleine Randnotizen zu den Kundgebungen vom 1. Mai, mit dem Hinweis, die Anlässe seien “weitgehend friedlich” verlaufen. Keines, aber auch kein einziges Wort über die sozialpolitischen Forderungen, von denen an diesem Tag die Rede war, und auch kein einziges Wort über all jene Visionen und Träume von einer besseren, gerechteren und friedlicheren Welt, die gerade in einer so schweren Zeit wie der unsrigen umso lebenswichtiger wären. Haben die Medien an diesem Tag geschlafen? Hätten die jungen Menschen, statt Parolen zu skandieren, Lieder zu singen und Reden zu halten, Autos anzünden und Fensterscheiben einschlagen sollen? Wäre ihnen dann wohl mehr Beachtung geschenkt worden? Man kann, wie in Deutschland, Kundgebungen am 1. Mai verbieten. Man kann sie aber auch totschweigen. Das kommt fast aufs selbe heraus…